Die Stimmen des Flusses

Herrschende Geschichte und Geschichte der Herrschenden

Was der Mensch auch braucht, ist, dass man ihm gute Geschichten erzählt. Dieses Buch enthält eine solche und ihr katalanischer Autor Jaume Cabré erzählt sie uns auf fast 700 Seiten. Sie beginnt im spanischen Bürgerkrieg und findet in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts noch nicht ihr Ende. Erzählt werden mehrere Handlungen, die ineinander verwoben sind. Cabrés Roman startet damit, dass eine Lehrerin im Jahre 2004 hinter der Tafel eines Klassenraumes einer zum Abriss bestimmen Dorfschule in den Pyrenäen, die Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen Dorflehrers Oriol Fontelles findet. Fontelles ist im Dorf als Faschist bekannt, der 1944, in jungen Jahren, von Antifaschisten ermordet worden sein soll.
In seinen Tagebuchaufzeichnungen lernt die Lehrerin Tina Bros einen gänzlich anderen Oriol Fontelles kennen, und sie erfährt viel über die Zeit zu Beginn der Franco-Herrschaft.

Historischer Ausgangspunkt von Cabrés Geschichte ist aber das Jahr 1936. Vater und Bruder von Elisenda Vilabrú, Sprössling der reichsten und mächtigsten Familie im Dorf, werden während des spanischen Bürgerkrieges von Anarchisten erschossen. Dieser Mord treibt die junge Frau ihr gesamtes Leben lang um. Alles zu tun, um diese Tat zu rächen, wird zu ihrem Lebensinhalt. Und diese Rache will sie durch den von ihr durch Bestechung als Bürgermeister eingesetzten Falangisten Valenti Targa erreichen. Er soll für sie die Mörder ihrer Angehörigen töten. Einmal im Amt, richtet Bürgermeister Targa, nicht nur zu diesem Zweck, ein Schreckensregime ein. Grausamer Höhepunkt seiner Schreckensherrschaft ist die Ermordung eines vierzehnjährigen Jungen, nur weil dessen Vater im antifaschistischen Widerstand aktiv ist.
Der Dorfschullehrer Oriol Fontelles wird Zeuge dieses Verbrechens, aber er unternimmt nichts dagegen. Von der Familie des Jungen und den anderen Dorfbewohnern wird er deshalb beschuldigt, seinen Schüler an die Faschisten ausgeliefert zu haben, selbst ein Faschist zu sein. Die Gewaltherrschaft verändert das Leben im Dorf verändert nach und nach. Hass, Unterdrückung, Widerstand und Unterwerfung: Die Widersprüche im Alltag der spanischen Gesellschaft unter Franco, die sich in diesen Jahren erst bildet, können im Mikrokosmos dieser Geschichte beobachtet werden. Mittendrin das Leben des Dorfschullehrers: Wir lernen es in der Version kennen, die die faschistischen Machthaber verbreiten. Oriol Fontelles der Märtyrer für Franco, Kirche und Vaterland. Wir lesen aber auch seine Tagebuchaufzeichnungen. In ihnen lernen wir einen ängstlichen Mann kennen, der als Doppelagent des antifaschistischen Widerstandes agierte. Der seine Schule zu einem Zentrum des Maquis umfunktionierte.

Cabré erzählt seine Geschichte mit waghalsigen Schnitten, die den Leser wiederholt auf ein und derselben Seite aus den 1940er Jahren in das Jahr 2004 und zurück befördern. Dialoge zwischen den Protagonisten des vergangenen Jahrhunderts werden nicht selten von Personen im 21. Jahrhundert weitergeführt. Damit gelingt es ihm, den Leser unaufhaltsam in die Welt dieses katalanischen Dorfes, in die beginnende faschistische Herrschaft einzubeziehen, aber auch in die nur mit angezogener Handbremse stattfindende Auseinandersetzung des neuen, demokratischen Spanien mit seiner faschistischen Vergangenheit.

Jaume Cabré hat mehr als sieben Jahre an diesem Roman geschrieben. “Die Stimmen des Flusses” ist das bisher einzige ins Deutsche übersetzte Buch des 1947 geborenen katalanischen Autors. Die Tatsache, dass es glücklicherweise auch in Deutschland zum Bestseller geworden ist, beschert uns hoffentlich noch die eine oder andere Übersetzung aus seinem Werk.


Genre: Romane
Illustrated by Insel Frankfurt am Main