Archipel

Keine archäologische Grabung

Nach ihrer Shortlist-Nominierung 2015 hat Inger-Maria Mahlke dieses Jahr mit «Archipel» den Deutschen Buchpreis gewonnen, das vor knapp drei Monaten veröffentlichte Buch wurde jedoch vom Feuilleton überwiegend kritisch und von der Leserschaft sehr eindeutig ablehnend beurteilt. «Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar» heißt es in der Begründung der Jury. Reicht das, um einen umfangreichen Roman wie diesen zu einer lohnenden Lektüre zu machen, ihn gar als Preisträger zu krönen?

Der Romantitel bezieht sich auf die Kanarischen Inseln, als Schauplatz dieser sich zeitlich über fünf Generationen und fast hundert Jahre hinweg erstreckenden, weitläufigen Erzählung dient Teneriffa. Wobei einige Familien aus ganz verschiedenen sozialen Schichten mit ihrem Alltagsleben im Fokus stehen, ergänzt durch eine schier unüberschaubare, periphere Figurenschar. Als narrativer Clou sozusagen wird hier zeitlich rückwärts erzählt, beginnend 2015 und endend im Jahre 1919. Stehen an Ende also die gerade überstandenen Schrecken des Ersten Weltkriegs, so sind wir am Anfang mit den Problemen einer ökologisch vor dem Kollaps stehenden, vermüllten Urlaubsinsel konfrontiert, die am Massentourismus zu ersticken droht. Die umgekehrt chronologische Erzählweise wird fragmentarisch in aneinander gereihten Szenen realisiert, die Ereignisse aus dem Leben der Protagonisten lose miteinander verknüpfen, wobei das Private jeweils mit der historischen Situation und den politischen Umbrüchen unterlegt ist.

Inger-Maria Mahlke ist eine genaue Beobachterin, der mit viel Liebe zum Detail anschauliche Schilderungen des Alltagslebens verschiedener sozialer Schichten ebenso gelingen wie Beschreibungen des inseltypischen Klimas mit seinem ewigen Sommer und der exotischen Natur oder der Städte mit ihren in die Kolonialzeit zurückdeutenden Bauwerken. Neben den großen Namen der aus ganz Europa zugewanderten Inselbewohner, deren bekanntester Bernadotte sein dürfte, widmet sie sich akribisch auch den namenlosen kleinen Leuten, baut Händler, Handwerker, Dienstboten und Arbeiter in ihre Geschichte mit ein. Ein vorangestelltes Verzeichnis der handelnden Personen hilft ein wenig, die überbordende Figurenfülle als Leser wenigstens einigermaßen richtig einordnen zu können, bei den Nebenfiguren ist man dann allerdings auf sich selbst gestellt. Ein weiteres unverzichtbares Hilfsmittel zum Verständnis für die vielen in den Text eingestreuten spanischen und kanarischen Begriffe ist das fünfseitige Glossar, genau dadurch jedoch wird für die überwiegende Mehrheit der Leser immer wieder der Lesefluss störend gehemmt.

Am meisten jedoch stört ohne Frage die gewagte Erzählkonstruktion, die sich aber als L’art pour l’art erweist, Zeit ist nämlich literarisch ebenso unumkehrbar wie physikalisch, – welchem Autor wäre das denn je überzeugend gelungen? Das Ganze ist also eine artifiziell anmutende Marotte der Autorin, nichts weiter! Die aus verschiedenen Perspektiven stilistisch sehr reduziert, fast spröde in ihrem ureigenen Duktus erzählten Handlungsfragmente fügen sich genau deswegen auch nicht zu einem inhärenten Plot, der diesen Namen wirklich verdiente, es fehlt eben eine nachvollziehbare Abfolge der Handlung. Die Figuren vermögen allesamt kaum Empathie zu erzeugen und werden auch nicht plastischer durch ihre teils wirren, oft unverständlichen Dialoge. Ein gewisser Erkenntnisgewinn ergibt sich allenfalls aus den zuweilen unterlegten historischen Fakten, ansonsten sind die Lesefrüchte spärlich, denn Detailfülle allein, zumal wenn sie sich auf fast ausschließlich Insignifikantes richtet, wird schon bald sehr langweilig und ermüdet zusehends auch den geduldigsten Leser. «So what?» wird sich mancher da fragen. Ein Roman funktioniert eben anders als eine archäologische Grabung!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Wie ihr wollt

mahlke-1Der Leser im Hausarrest

Im Œuvre von Inger-Maria Mahlke ist «Wie ihr wollt» der dritte Roman, als Finalist des Deutschen Buchpreises 2015 hat er seine Autorin stark in den Fokus gerückt. Der Titel ist ein zeitlicher Hinweis auf Shakespeares «Was ihr wollt», anders als in dessen Lustspiel aber geht es hier um Anerkennung und Selbstbehauptung, Macht und Ohnmacht am englischen Hofe zur Zeit der Tudors. Eine durchaus tragische Geschichte, die von der Ich-Erzählerin ziemlich bös und grimmig erzählt wird. Diese Figur erinnert an Thomas Hettches «Pfaueninsel», auch hier eine kleinwüchsige Frau, räumlich extrem eingeschränkt lebend am Rande der höfischen Gesellschaft, deren Leben und Leiden den erzählerischen Stoff liefert. «Inger-Maria Mahlke erzählt ebenso unbarmherzig wie liebevoll.» schreibt Hettche über seine Kollegin.

Äußerst nützlich, um nicht zu sagen unentbehrlich für die Lektüre des vorliegenden Romans ist die im Vorsatzblatt abgedruckte Grafik, die die wechselvolle Thronfolge der Tudors verdeutlicht und die ergänzt wird durch eine nicht minder wichtige Figurenliste im Anhang. Denn unbekümmert um die historische Vorbildung ihrer Leser und deren kombinatorische Fähigkeiten versetzt die Autorin uns mitten hinein in den Hausarrest ihrer Protagonistin Mary Grey, die ohne Genehmigung ihrer königlichen Cousine Elisabeth I geheiratet hatte und in Ungnade gefallen war. In Tagebuchform, beginnend am 3. September 1571 und endend am 7. November desselben Jahres, zwei Monate umfassend also, berichtet die 26jährige Mary in dieser ersten Erzählebene über ihre bedrückenden Lebensumstände und ihren Kampf um Anerkennung ihrer legitimen Rechte. Sie hat einen theoretischen Thronanspruch als Enkelin der Schwester Heinrich VIII, im Roman «Wahrscheinlichkeiten» genannt, ein Blick auf die Grafik zeigt die ebenso verzwickte wie an Überraschungen reiche Thronfolge, bei der das Beil als grafisches Symbol für Hingerichtete recht häufig auftaucht. In kursiv gesetzten Rückblicken erzählt sie in einer zweiten Handlungsebene ihre Lebensgeschichte, wobei ihre Schwester Jane zunehmend in den Vordergrund rückt. Was eine Chronik der Tudorschen Herrschaft einschließt, in der die konkreten Thronaussichten von einer Art Geburtswettlauf bestimmt wurden.

Neu an dieser Art Geschichtsroman ist die untypische Erzählperspektive, hier werden die historischen Nebenfiguren in den Vordergrund gerückt, stehen nicht schillernde Herrscher oder bravouröse Helden im Mittelpunkt. Das Aufbegehren einer solchen Figur gegen die königliche Willkür des Ignorierens ihrer legitimen Ansprüche, gegen höfische Rituale und politische Ränkespiele führt bei Mary Grey letztendlich aber zu der bitteren Erkenntnis, dass sie selbst wie auch ihre eigene Familie sich ebenso über moralische Grenzen hinweggesetzt hat, die Gunst der Stunde nutzend, wo immer es ging. Bedrückend ist auch ihr Verhältnis zu Ellen, ihrer unverbrüchlich treuen Zofe, an der sie fast sadistisch ihre Frustration auslässt, was die Sympathie des Lesers für die unglückliche Heldin sehr schnell dem Nullpunkt zutreibt.

Sie habe sich einen historischen Stoff angeeignet, schreibt die Autorin in einer Anmerkung zum Schluss, sie sei keine Historikerin und ihr Buch kein historischer Roman. Trotz der erwähnten Hilfestellungen im Buch und parallelen Internetrecherchen verliert der Normalleser bei der Fülle von Adligen, Verwandten oder den geschichtlichen Ereignissen schnell die Orientierung. Wer oder was jeweils gemeint ist bleibt oft fraglich wegen der ebenso sprunghaften wie kryptischen Erzählweise, allenfalls unerschrockene Rätselfreunde dürften das goutieren. Man ist zunehmend verunsichert als Leser, vermisst eine nachvollziehbare Handlung, ärgert sich über eine spartanische Sprache, die das Lesen schnell derart freudlos werden lässt, dass ich am Ende heilfroh war, mich überhaupt bis dorthin durchgebissen zu haben, – der Hausarrest der armen Mary kann kaum schlimmer gewesen sein!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin