Die letzten warmen Tage

junge-1Resignative Melancholie

In ihrem vierten Roman «Die letzten warmen Tage», pünktlich zum 25jährigen Jahrestag des Mauerfalls herausgekommen, thematisiert Ricarda Junge die jüngste deutsche Vergangenheit in der Form eines Familienromans. Dessen Protagonistin und Ich-Erzählerin Anna entspricht in unübersehbar vielen Details der Autorin selbst, ist wie diese Pfarrerstochter und vor allem Romanautorin und damit dem nicht selten ja durchaus begründeten Verdacht ausgesetzt, eine brotlose Kunst zu betreiben. Und so ist die 29jährige Heldin denn auch prompt gezwungen, als «Produktbeschreiberin» schnöde Werbetexte für ein Online-Versandhaus zu verfassen, in Scheinselbständigkeit natürlich und damit in prekärer Beschäftigung ohne jede soziale Absicherung, – gleichwohl aber glücklich damit, nebenher auch schriftstellerisch tätig sein, an ihrem Roman weiterschreiben zu können.

Ein in der Jetztzeit angesiedelter Handlungsstrang umschließt klammerartig Annas Geschichte. Sie lernt einen zwanzig Jahre älteren Mann kennen und landet auch gleich im Bett mit ihm, obwohl sie kaum etwas von ihm weiß. Constantin ist vielbeschäftigter Manager, immer auf Geschäftsreisen in aller Welt, er lebt auf großem Fuße. In einer zweiten, deutlich umfangreicheren Handlungsebene werden Annas Entwicklung als Schülerin in Wiesbaden, die erste Liebe und ihre ersten Schritte ins Erwachsenenleben geschildert. Rasch und sehr geschickt zwischen diesen beiden Zeitebenen hin und her pendelnd wird außerdem in zahlreichen Rückblenden die Vorgeschichte der Eltern und beider Großeltern-Paare erzählt, der Roman umfasst zeitlich also drei Generationen. Dabei sind in die ganz persönlichen Geschichten dieser Familien gekonnt die politischen Zustände und soziologischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten mit eingewoben, zeitlich markiert durch die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung mit allen ihren Problemen. Annas Großeltern waren 1961 kurz vor Errichtung der Berliner Mauer in den Westen geflüchtet, zwei Monate später verschwand der Großvater spurlos. Er wolle nur rasch Zigaretten holen, hatte er Annas Mutter noch zugerufen und war dann nie wieder aufgetaucht. Eine mysteriöse Familientragödie, deren Geheimnis Anna aber durch Zufall schließlich doch auf die Spur kommt. Und ähnlich dramatisch geht es auch in ihrer Liebesbeziehung weiter.

Wer als Leser selbst die Zeiten miterlebt hat, von denen die Geschichte erzählt, wird einiges sehr Vertraute darin wiederfinden, sich an manches Vergessene zurückerinnern. Glaubhaft und nachvollziehbar werden viele Begebenheiten geschildert, Orte beschrieben, Zusammenhänge dargestellt, Gedanken und Meinungen wiedergegeben. Geschrieben ist das alles in einer leicht lesbaren, angenehm schnörkellosen Sprache, wobei mich besonders die realitätsnahen Dialoge überzeugt haben. Auch in vielen der Reflexionen, die sie zahlreich in ihren Text eingebaut hat, kann man den Gedankengängen der Autorin problemlos folgen, sie sind durchaus plausibel.

Obwohl die meisten Figuren der Geschichte lebensnah skizziert sind und überwiegend sympathisch rüberkommen, bleibt die Heldin Anna seltsam konturlos. Sie wird als Messie geschildert, als fast pathologisch schreibwütig, erscheint aber als weiblicher Teil der Liebesgeschichte ziemlich farblos, vermag kaum Empathie zu erzeugen beim Leser. Es ist keine heile Welt, die da aus der verengten Perspektive der Ich-Erzählerin geschildert wird, vielmehr sind hier das Private und das Politische geradezu schicksalhaft aneinander gekettet. Eine resignative Melancholie ist die vorherrschende Stimmung, die auf dem gesamten Geschehen lastet in diesem vielschichtigen Roman, der als Ganzes literarisch weniger überzeugend ist als in etlichen seiner Teilaspekte. Die ganz große Lesefreude vermochte sich deshalb bei mir nicht einzustellen, lesenswert ist der Roman aber allemal.

Fazit: lesenswert

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