Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

Spannende Lektüre: ein Städtevergleich Wien – Berlin

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde. Die vorliegende Hardcoverausgabe und mit 24 Abbildungen versehene Publikation des Reclam Verlages sticht nicht nur durch ihre Gestaltung hervor. Der gelernte Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke, der am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München lehrt, beschäftigt sich mit einem Thema, das viel zu oft vernachlässigt wird: der Städtekomparatistik.

Beziehungsgeschichte Wien – Berlin

Die mehr als faszinierende Beziehungsgeschichte der beiden mittel-europäischen Metropolen Wien und Berlin fördert nicht nur amüsante Anekdoten zutage, sondern zeigt auch, wie verwoben die Schicksale der beiden Städte sind und waren. Denn nicht nur das 19. und 20. Jahrhundert – die “klassische Moderne” – nimmt der Autor des ebenfalls bei Reclam erschienen Bandes “Die 1920er Jahre. 100 Seiten.” in den Fokus seiner Betrachtungen, sondern auch die Gegenwart. Oft wurden nämlich gerade diesen beiden Städte als Gegensatzpaar verstanden und diejenigen, die verglichen, stammten meist selbst aus der jeweils anderen Stadt. Denn oft dienen Vergleiche und Zuschreibenden gerade dazu, Kritik an den herrschenden Verhältnissen der eigenen Gegenwart zu äußern. Als “Magnetfeld” verordnet Wietschorke das mentale Minenfeld zwischen Wien und Berlin. Eine spannende entangled history oder histoire croisée hat er verfasst, wenn er über das “Spannungs- und Gravitationsfeld” Wiens und Berlins enthüllt, dass es sich geradezu um “Dauerbrenner des Feuilletons” gehandelt hab, gerade zwischen 1870 und 1930, die beiden Städte zu vergleichen. Wien spielte bei diesen Vergleichen oft die gemütliche alte Dame, während Berlin ganz vom “modernen Amerikanismus in Besitz genommen” dargestellt wurde.

Gegensätze, die sich anziehen

Die Hauptstadt der Hässlichkeit nannte Scheffler sie einst, und das war noch lange vor den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. Auch anfangs des 20. Jahrhunderts war Berlin schon eine “permanente Baustelle”, eine “Stadt für Entrepreneurs, traditionslos, rasant und oberflächlich”. Aber eben auch voller Chancen, die es in Wien nie gab, da es dort nur die Alteingesessenen zu etwas brachten: sie waren ja immer schon wer. Während Wien schon seit Jahrhunderten die Haupt- und Residenzstadt eines Kaisers gewesen war, wurde Berlin quasi from scratch erfunden. Eine Nicht-Landschaft wurde ihr attestiert, auch auf Sand gebaut, wie es in der Bibel lautet. Erst in den Zwanzigern verfügte sie über eine große kulturelle Anziehungskraft für Kunstschaffende aus ganz Europa und der Welt. Berlin war lange Zeit der Parvenu unter den Großstädten, da sie erst durch die Reichsgründung Friedrichs als wirkliche Stadt bezeichnet werden konnte. “Wir nennen den Namen Wien und alle Herzen fliegen ihm zu“, brachte es Rodenberg auf den Punkt, “aber wir sprechen den Namen Berlin nicht aus, ohne Vorurteilen zu begegnen“. Das hing auch mit anti-modernistischen Großstadtklischees zusammen und so wurde Wien von vielen Publizisten als positiver Gegenpol zum Sehnsuchtsort und zur Traumstadt stilisiert. Übrigens auch ein Klischee dem sie später die Nazis sehr gerne bedienten, wie Wietschorke dankenswerterweise in einem eigenen Kapitel ausführt.

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

Berliner Tempo (“Elektropolis“) und Wiener Gemüt wurden ein Begriffspaar das dem jeweiligen Sprecher Argumente gegen das jeweils Unerwünschte lieferte. Das hatte klarerweise nicht viel mit den wirklichen Städten zu tun, sondern allein mit deren Projektionen und Imaginationen. “Während man Wien immer deshalb liebt, weil es dort viel schöner ist als anderswo, liebt man Berlin obwohl es anderswo viel schöner ist“, wie Wietschorke es pointiert ausdrückt. Aber auch schon Reinhard Mey hatte in Wien “Heimweh nach Berlin” verspürt, wie er im gleichnamigen Lied singt.

Heimweh nach Berlin

Elias Canetti hingegen musst sich von seinem sechsmonatigen Berlinaufenthalt bei mehreren Spaziergängen am Stadtrand seines Wiens erst wieder erholen, bevor er “Die Blendung“, sein Nobelpreisstreich, verfassen konnte: “Offensichtlich hatte Canetti den Rückzug nach Wien gebraucht, um den in Berlin erlebten Irrsinn aufzeichnen zu können.“, schreibt Wietschorke süffisant. Über weitere Celebrities wie Max Reinhardt oder Bert Brecht und die bis heute zu Unrecht vergessene Schriftstellerin Lili Grün (“Herz über Bord“) weiß Wietschorke ebenso zu berichten wie über “Stars und Sternchen” der Unterhaltungs-industrie die zwischen Wien und Berlin pendelten.

Klischees als Propagandafutter

Wien lieferte den Stoff, Berlin brachte ihn in Umlauf“, hieß eine damals geltende Formel, die sich beizeiten aber auch wieder umdrehte. Dabei war es allerdings gerade die politische Rechte, die Konservativen und Reaktionäre, die sich ihr traditionelles Wien-Bild nicht vermiesen lassen wollten. Sowohl die Nazis als auch der Heimatfilm der 50iger Jahre hielt an diesem verklärten Bild der “guten alten Zeit” fest und stilisierten Wien gleichzeitig zu einem Bollwerk gegen Amerikanismus und Bolschewismus. Nicht zuletzt Hitler hatte das Klischee vom “volkstümlichen Wien” als Hort und Heiligtum des deutschen Volkes auserkoren, obwohl Wien auch damals schon ganz anders war (und er Wien eigentlich hasste). Und so wurde Wien – die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich – zum “Experimentierfeld für die `Endlösung´”, wie Wietschorke, fulminant geschrieben, herausarbeitet. Aber wie schrieb Polgar in jenen Tagen so treffend an Schnitzler: “Wien, Wien, nur du allein – es ist, um die Seele aus dem Leib zu kotzen“.

Inszenierung eines Traums, Traum der Inszenierung

Das Reale ist eben relational“, wusste schon Bourdieu, denn erst im Vergleich treten die Charakteristika hervor. Das Typische sei nicht einfach da, es werde gesucht, Klischees sind einfach dauerhafter als soziale Realität, weiß Wietschorke: “Für Wien und Berlin bedeutet das: Das kulturelle Imaginäre folgt einer eigenen Konstruktionslogik. Es übergeht den Wandel und ignoriert die Widersprüche.” Dass die Vorstellung sich aber auch in die Realität einschreibe, bestätigt auch Claudio Magris: Wien sei mit der Inszenierung seiner selbst identisch. 17,4 Millionen Touristen im Jahr 2019 (vor der Pandemie) können nicht irren. Oder sind sie etwa einem Klischee auf den Leim gegangen?

Jens Wietschorke
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde
2023, Geb. mit Schutzumschlag. Format 13,5 × 21,5 cm, 345 S. 24 Abb.
ISBN: 978-3-15-011442-1
Reclam Verlag

 


Genre: Literatur, Metropolen, Städte
Illustrated by Reclam Verlag

Stilles Venedig

Stilles Venedig. Ein seltenes Privileg wurde den beiden französischen Publizisten Luc und Danielle Carton, die seit 2005 in der Serenissima leben, zuteil. Sie erlebten die schönste Stadt der Welt ohne Touristen. Und beinahe auch ohne Bewohner.

Venedig: Fotos wie Illusionen

Während der Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie im März, April und Mai 2020 war Venedig wie viele andere Städte menschenleer. Vermutlich das erste Mal in seiner langen Geschichte, die 2021 übrigens mit der 1600 Jahr Feier gewürdigt wird. Luc und Danielle Carton haben die Stadt in ihren Sestieri (Sechstel) besucht und bei langen Spaziergängen und einem herrlichen Licht für die Nachwelt festgehalten. Denn eines ist klar: dass man Venedig einmal so menschenleer sieht, das würde einem später, in der Zukunft, niemand mehr glauben. Die Fotografien, die sie in vorliegender Ausgabe im Format 21.5 x 28 cm mit ihren Leserinnen und Lesern teilen, sind für die Ewigkeit. Das Licht ist so wie es an einem Frühlingstag nur in Venedig sein kann: strahlend blauer Himmel und starke Konturen bei den Gebäuden, die das Dreidimensionale sogar noch betonen und scheinbar extra stark (aus dem Wasser) hervorholen. Venedig war ja schon seit jeher eine Augenweide, aber in vorliegendem Fotoband betritt man einen Märchenpalast, dessen einzig der Himmel würdig ist ein Dach zu geben.

Momente des Glücks im Stillen Venedig

Die Ausflüge führen uns also nach San Marco, Dorsoduro, Santa Croce, San Polo, Castello und Cannareggio. Die Giudecca, die zu Dorsoduro gehört, aber auch andere Inseln wurden allerdings ausgelassen, das heißt es geht wirklich ausschließlich um das, was Venedig ausmacht. „Wertvolle Momente des Glücks“, schreiben die beiden in ihrem Vorwort, „in denen das Unmögliche und das Unvorstellbare Wirklichkeit wurden: Venedig ganz für sich allein sehen und haben, wie in unseren verrücktesten Träumen. Venedig, wie wir es uns nie vorzustellen gewagt hätten“. Wer Venedig also schon länger einmal besuchen wollte, der kann es während der Pandemie mit vorliegendem Bildband tun. Denn so viel Venedig war noch nie in einem Venedig-Buch, schließlich sieht man auf den Bildern ausschließlich Gebäude und das Wasser, keine Menschen oder Tiere und vor allem keine einzige Taube. Venedig – wie Sie es noch nie gesehen haben! Eine einzigartige Reportage.

Luc & Danielle Carton

Stilles Venedig

2021, Hardcover, 192 Seiten, Maße: 21.5 x 28 cm

ISBN: 978-2-36195-485-7

€ 35,00 [D] € 36,00 [A] 47.90 CHF

Jonglez Verlag


Genre: Städte
Illustrated by Jonglez Verlag

Die gruseligsten Orte in München

„Die gruseligsten Orte in München“ betitelt der Gmeiner Verlag eine Anthologie mit Schauergeschichten über die bayerische Hauptstadt. Der unbedarfte Rezensent preußischer Provenienz vermutet eine „Third Reich Tour“ und einen Besuch jener Keller, in denen brauner Geist die Hirne vernebelte. Er denkt vielleicht auch an einen Besuch in der CSU-Parteizentrale, doch das Buch beleuchtet München finstere Seiten weniger politisch als historisch. Weiterlesen


Genre: Anthologie, Städte
Illustrated by Gmeiner-Verlag Meßkirche

Ljubljana

Ljubljana: 5 Routen durch die Hauptstadt Sloweniens, Ljubljana, die „Geliebte“, bietet dieser Falter Reiseführer aus der Reihe City Walks. Neben den gut durchdachten Spaziergängen durch die Geschichte Ljubljanas wird aber auch eine Menge an praktischen Tipps geboten: Kultur, Sightseeing, Shoppingtipps und Öffnungszeiten von Museen sowie Nightlife.

„Geliebte“ und Grüne Hauptstadt Europas

Ljubljana bietet neben der stadteigenen Burg auch idyllische Altstadtgassen, quirlige Hotspots, ruhige Grünoasen sowie viele empfehlenswerte Restaurants und Cafés. Der slowenische Architekt Jože Plecnik, der auch in Wien und anderen Städten der ehemaligen Monarchie seine Spuren hinterlassen hat, wird ebenso näher betrachtet, wie Jugendstilbauten und die Parks der grünsten Hauptstadt Europas (Auszeichnung durch die Europäische Kommission 2016). Aber auch das Nachtleben hat es in sich, wie die ansehnliche Menge an Ausgehtipps dieses Reiseführers zeigt. Wie viele andere Städte auch hat Ljubljana, was man mit „Geliebte“ übersetzen könnte, auch einen Fluss, den Ljubljanica, aber wohl kaum woanders findet man so viele Cafés und Geschäfte entlang einer Uferpromenade wie in Ljubljana, das Deutschsprechenden auch als Laibach bekannt ist. Auch dafür bekam die Stadt übrigens einen Preis, den European Urban Public Space: die verkehrsreichste Straße der Innenstadt, die Slovenska cesta, wurde kurzerhand zu Fußgängerzone erklärt.

Drachen, Plecnik und die Antike

Wer schon einmal in Slowenien war, wird sicherlich auch das bekannteste dortige Bier, das Union (gegründet: 1864), getrunken haben. Auf dessen Bierdosen findet sich ein Drache, der nicht nur ein Emblem des Bieres ist, sondern natürlich das Wappentier der Stadt. Es gibt im Zentrum auch eine eindrucksvolle Drachenbrücke, die daran erinnert, dass Jason in den Sümpfen der Stadt einen Drachen getötet haben soll, als er mit seinen Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Flies war. Die vier Drachen der Zmajski most (Drachenbrücke) stammen von Jurij Zaninovic, einem Schüler Otto Wagners und wer diese Route fortsetzt, kann bald in der Slascicarna pri (Konditorei zum Brunnen) einkehren, bevor er den Aufstieg zur Burg wagt. Aber auch dort wird man kulinarisch verwöhnt, wie der Reiseführer erwähnt. Die zweite Route geht auf den Spuren Joze Plecniks bis zum Plecnik-Haus, das heute ein Museum ist. Route3 erklärt, was die griechische Antike für die Slovenska cesta und Ljubljana für eine Rolle spielt(e) und Route 4 bringt genügend Argumente vor, warum die Stadt zur European Green Capital gekürt wurde: Von „Park zu Park durch die grüne Hauptstadt Europas“ heißt diese Tour. Zuletzt wird in Route 5 auch das Nachtleben erleuchtet: etwa „Zoo“, eine ehemalige Tabakfabrik oder Klub Tiffany im Künstlerviertel Metelkova. Natürlich kommen auch kulinarische Genüsse nicht zu kurz, im Anhang befindet sich auch ein Verzeichnis nützlicher Adressen, ein Register und ein kleiner Sprachführer.

Simon Ošlak-Gerasimov

Ljubljana. 5 Routen durch die Hauptstadt Sloweniens.
Geschichte, Kultur, Sightseeing, Essen, Trinken, Stadtleben
ISBN: 9783854395935
2017, Falter Verlag, 136 Seiten
Reihe: City-Walks
€ 12,90


Genre: Reiseführer, Städte
Illustrated by Falter