Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach

\"datPilskendanach\"Wie das Leben manchmal so spielt, müssen zwei im Ruhrgebiet geborene und sozialisierte Journalisten erst an die Alster ziehen, um sich kennen und schätzen zu lernen. Die Spiegel-Online Autoren Frank Patalong und Konrad Lischka stellten beim Feierabend-\”Pilsken\” fest, \”dass man den Ruhrie in sich nie ganz ablegen kann.\” Die beiden entdeckten viele Gemeinsamkeiten, aber auch einen entscheidenden Unterschied. Frank Patalong (Jahrgang 1963) wuchs im von der Stahlindustrie geprägten Duisburg auf. Er erlebte die Zeit, in der es Konsens war, Ruß, Dreck und Gift im Tausch gegen Arbeitsplätze in Kauf zu nehmen und den heimischen \”Monte Schlacko\”* als größtmöglichen Abenteuerspielplatz zu akzeptieren. Konrad Lischka (Jahrgang 1979) hingegen wurde Anfang der achtziger Jahre in Essen mit dem Strukturwandel groß. Er erlebte Zechen und Stahlwerke oftmals nur noch als Kulisse für postapokalyptische Foto-Szenarien oder als einzigartige Räume für die durchlässige Subkultur des Ruhrgebiets. Seine Halden waren schon die von Menschen gemachten Landschaftsparks, die viele heute für Natur halten.

Grund genug für die beiden, zu ihrem journalistischen Rüstzeug zu greifen und gemeinsam ein ehrliches Buch über das Ruhrgebiet und ihre Bewohner zu schreiben. Ihr Blick auf die \”wunderbare Welt des Ruhrgebiets\” ist oft kritisch, immer aber auch liebevoll. Sie erzählen persönliche Geschichten aus dem (Er-)Leben ihrer Familien und damit über zwei völlig unterschiedliche Zeiten und zwei völlig unterschiedliche Ruhrgebietswahrnehmungen. Ihr Buch ist aber bei weitem nicht nur eine Anekdoten- und Geschichtensammlung. Ihre Berichte bilden den Rahmen für eine subjektive und spannende Analyse des Ruhrgebiets. Es sind erstaunliche, manchmal auch schmerzliche Erkenntnisse, die die beiden da zu Tage fördern. Viele Gedanken, von den meisten im Ruhrgebiet Lebenden erst gestreift, haben die beiden zu Ende gedacht. Mit Vielem haben sie Recht, dies muss auch ich als Ruhrgebiets-Eingeborene (nicht immer gerne) unumwunden zugeben. Ich habe mich sehr oft wieder erkannt. Sie haben Recht mit ihren liebevollen Blicken auf die mutige, oft trotzige Beharrlichkeit des \”Ruhries\”, die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen. Es stimmt, der Ruhrgebietler kultiviert den Malocherpathos, ist aber auch stolz auf die einzigartigen Kultur- und Landschaftsräume. Ich geben Ihnen aber auch Recht mit ihrer desillusionierenden Feststellung, \”Reg Dich nicht auf, hat doch keinen Zweck\” wäre ein ausgezeichnetes Leitmotiv für eine noch zu entwerfende Ruhrpottflagge. Fatalismus hat im Ruhrgebiet Tradition und auch die ach so vorbildliche, gerühmte Multi-Kulti-Toleranz ist schlicht und ergreifend oft genug einfach nur Ignoranz und nebeneinanderher leben. Hauptsache, man fällt nicht auf, passt sich an, kappt seine eigenen Wurzeln und wird zum \”Ruhrpötter\”. Lischka/Patalong fassen es treffend zusammen:\”Der bewährte Ruhrreflex gegen alles, was uns die Schattenseiten vor Augen führen könnte:Woanders ist auch scheiße\”.

Die beiden Autoren dürfen meckern. Sie sind aus dem Ruhrgebiet, sie lieben den Pott, man liest es aus jeder, auch noch der kritischsten Zeile heraus. Und sie meckern ja nicht nur, sie zeigen uns auch ihre persönlichen Lieblingsplätze und geben jede Menge feine Tipps für alle Lebenslagen. So ist ihr Buch ein empfehlenswerter Schmelztiegel geworden, genau wie das Ruhrgebiet selbst. Es sei jedem Ruhrgebietler empfohlen, der eine kritisch liebevolle Auseinandersetzung mit seiner Heimat verträgt und darüber hinaus jedem, der immer schon mal erfahren wollte, wie es im Ruhrgebiet abseits von der in den Medien oft so gern überzeichneter Tristesse wirklich ist.

Das Ruhrgebiet ist heute vom Strukturwandel gezeichnet, \”ein Ort, wo fast alles verschwinden oder sich zumindest jederzeit verwandeln kann\”. Im Guten wie im Schlechten. Sagen wir es mit dem im Buch oft zitierten Kumpel Schibulski \”Ewich gibbet nich. Wat bleibt, iss, wie die Leute sind.\”

(Anmerkung: Der Titel zitiert einen im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Trinkspruch, welcher dem verstorbenen Dortmunder Oberbürgermeister Samtlebe zugeschrieben wird.) 
*ortsübliche Bezeichnung für die im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Halden

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Bastei Lübbe

Die Spieler

dieSpielerAnnabelle Conroy – ebenso schöne wie begabte Trickbetrügerin – hat den ebenso skrupellosen wie mächtigen Kasinobesitzer Jerry Bagger aus Rache für die Ermordung ihrer Mutter um sagenhafte 40 Millionen Dollar erleichtert. Nun ist sie vor dem auf Rache sinnenden Unsympath auf der Flucht. Zum Glück gibt es Oliver Stone und seine bekannten Mitstreiter aus dem Camel Club – immer auf der Suche nach der Wahrheit, gerne aber auch auf Vergeltung und Rache sinnend. Der Camel Club bietet Annabelle Schutz und Unterstützung, doch unversehens wendet sich das Blatt und der Club kann seine Zusage nicht nur nicht einhalten, er braucht seinerseits die Hilfe Annabelles. Stone wird von seiner bis dato streng geheim gehaltenen Vergangenheit eingeholt und muss sich auf einen gnadenlosen Überlebenskampf mit ehemaligen Mitstreitern aus seiner CIA-Zeit einlassen.

So wirklich haben beide Storylines nichts miteinander zu tun, Baldacci gelingt es in seinem Thriller aber gekonnt, diese spannend zu verweben. Die Spieler, nun als Taschenbuch erschienen, sind der dritte Teil der Reihe um den Camel Club. Wie man es von Baldacci erwartet, surren die Verschwörungstheorien dem Leser nur so um dem Kopf, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, das Katz-und-Maus Spiel hält die Spannung bis zum furiosen, blutgetränkten Finale.

Gut, stattgegeben – hohe Literatur ist das nicht. Manches zu konstruiert, manches zu zufällig, manch Protagonist zu sehr mit der Schablone gezeichnet, manch zeitliche Abfolge mit Macht so hingebogen, dass es so gerade eben noch in den vorgegebenen Rahmen passt und der Charakter Harry Finn erinnert sicher auch nicht zufällig an Jack Ryan. Aber – mal ehrlich, ein gut gestrickter Thriller zwischendurch muß auch mal sein. (zumal, wenn der Titel so dezent auf einen unser tapferen Mit-Rezensenten verweist ).

David Baldacci ist ein amerikanischer Thriller-Autor und Bestseller Garant. Seine Romane wurden in mehr als 45 Sprachen übersetzt und erreichen weltweit eine Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplaren. Sein erster Roman “Der Präsident” ( Absolute Power ) war ein durchschlagender Erfolg und wurde kurz darauf verfilmt. In den letzten Jahren gab es immer wieder Romane von ihm, die nur bedingt überzeugen konnten. Mit inzwischen drei Romanserien scheint es, als liefe er sich selbst hinterher und nicht wenige seiner Fans bemängelten holzschnittartige Schluddrigkeiten und wenig Spannung. Mit den Spielern kriegt er aber nun wieder die Kurve und liefert solide Kost. Spannend und flüssig, ein Pageturner, dessen Auflösung man entgegenfiebert. Es steht Thriller drauf, es ist Thriller drin. Mehr braucht es eben manchmal nicht.

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Genre: Thriller
Illustrated by Bastei Lübbe

Ruß

9783462043297_grStereotypen wiederholen sich doch. Willkommen im beliebtesten Handlungsort Deutschlands für überzeichnete Tristesse: Duisburg. Willkommen in abgewrackter Ruhrpott-und Malocher Folklore. Willkommen in Ruß, dem neuen Roman von Feridun Zaimoglu. Willkommen in einem arg dürftigen Handlungsgerüst. Schnell erzählt: Dem Arzt Renz wurde seine Frau ermordet. Resigniert und desillusioniert wird er zum Säufer, mühsam aufrecht gehalten von seiner Arbeit als Budenmann am Ruhrorter Neumarkt. “Nach und nach isst er die Asche seiner getöten Frau direkt aus der Urne” , findet seltsamen Trost in dilettantischer Ikonenmalerei. Die trügerische Ruhe wird gestört durch höchst unklare, undurchsichtige Gesellen, die ihm aus ebenso unklaren Motiven zur Rache verhelfen wollen. Der Tag der Haftentlassung des Täters naht und Renz lässt sich auf eine Jagd durch Deutschland nach Polen, schließlich Österreich ein – um zu einem so vorsehbaren wie unbefriedigendem Showdown zu gelangen.

Besessen von Sprache, mit unbändiger Lust am Spiel mit derselben malt Zaimoglu das Bild eines verlorenen, düsteren, labyrinthischen Ruhrgebiets, bevölkert von Pappkameraden mit vernarbten Lebensgeschichten. Spürbar ist der Autor vom Willen getragen, mit einer von Überflüssigem befreiten Poesie des Unschönen Literaturgeschichte zu schreiben. Den realen ruhrischen Umgangston löst er solange aus seinen Ursprüngen heraus, bis eine künstlich anmutende Umgangssprache entstanden ist. Ich für meinen Teil ( in Duisburg pottriotisiert ) – ich mag mein Ruhrisch, aber so wie die blassen Zecher am Kiosk spreche ich ganz sicher nicht. Ich habe mich nicht willkommen gefühlt im Ruß Zaimoglus. Mir hat das Buch nicht gefallen. Und zwar nicht nur, weil das Buch ganz sicher nicht gefallen will. Es will verstören und aufrütteln – aber das ist ein schmaler Grat. Ein Grat, der im Buch zu oft verlassen wird. Ein Grat, auf dem die Charaktere mühsam kippeln. Genauso mühsam, wie das Buch zu lesen ist. Gerade zum Ende hin erzeugt das Buch nichts als Überdruß.

Gleichwohl – wir wollen fair bleiben. Finsternis, Verzweiflung und Alkoholismus nehmen keineswegs ab, wenn die Handlung sich an andere Orte verlagert. Im Gegenteil – immer neue Lügengeschichten treiben das Verwirrspiel noch wüster voran. Der Leser weiß nicht nur, wem er glauben, trauen, schauen soll – er weiß auch nicht, liest er nur eine Road-Novel, einen Thriller oder doch vielleicht einen Heimatroman der anderen Art. Auch die Kritikpunkte an der oft zu bemühten Sprache Zaimoglus – sie relativieren sich, wenn man sie mit der Sprache anderer, in diesem Jahr preisgekrönter Romane vergleicht. (Ich sage nur : “Nämlich, dass…”) Seien wir dankbar, wenn wir einen Autor haben, der mit Sprache ringt, sie respektiert, ja, sie letztendlich in den Mittelpunkt seiner Bemühungen stellt. Und – für einen ganz großen Pluspunkt hat es sich gelohnt, das Buch gelesen zu haben: Zaimoglus Beschreibung der im Metropolenwahn der Kulturhauptstadt entstandenen Pseudo-Hochglanz- Locations wie dem Duisburger Innenhafen trifft es wie keine von mir bisher gelesene und legt den Finger genau in das wunde Herz derer, die nicht wollen, dass aus ihrem Ruhrgebiet eine öknomischen Zwängen untergeordnete kalte Ruhrstadt werden soll.

Vielleicht hätte mir das Buch besser gefallen, wenn der Vorab-Trommelwirbel des Verlags mir nicht die “große, deutsche Saga aus dem Ruhrgebiet ” versprochen hätte und meine Erwartungshaltung nicht die einer Ruhrgebietlerin gewesen wäre, welche in einem Roman über das Ruhrgebiet wirklich gerne etwas anderes als Klischees lesen würde. Sicher – es ist das Recht eines jeden Autors, seinen Handlungsort so trist und grau zu malen, wie es ihm beliebt. Sicher – Zaimoglu ist in guter Gesellschaft. Viele seiner Figuren und Orte erinnern an synthetische Versatzstücke aus Filmen, Büchern, Hörspielen über das Revier. (Duisburg-Ruhrort- so der Titel des allerersten Schimanskis. Seitdem hat wohl jeder in Deutschland eine verbriefte Vorstellung des Ortsteils. Die Schifferbörse, der schöne alte Ortskern, die sorgfältige restaurierte Promenade und das Haniel Haus gehören nicht dazu.) Dennoch- ich kann es nicht mehr hören. Dieses triste, trostlose Bild unserer Region und wenn die Süddeutsche noch so selbstgerecht urteilt: “Ein lebenskluger Roman über Deutschlands verwildernden Westen”. Ich sehe sie förmlich vor mir: die deutsche Intelligenzija in ihren Lese-Fauteuils, wie sie aus sicherer Distanz selbstgefällig urteilen, welch ein Kenner mit “Ruß” doch am Werke war . Wie bestätigt man nun doch in der von den armen Ruhrgebiets-Eingeborenen so vehement abgestrittenen Darstellung des Ruhrgebiets als Tristesse pur ist. Dass Zaimoglu selbst freundlich erklärte, die “Ruhries in ihrer Discount-Diaspora durchaus zu lieben”, macht mein Gefühl nach diesem Buch nicht weniger schal. Ich kann es nicht mehr hören. Gerade weil ich seit jeher oft und gerne sage: “Solln Se doch so reden, dann bleiben Se uns wengstens erspart, solche Fuzzis. Ohne die warn hier immer schon besser dran” werde ich hier nichts weiter zur Ruhrgebietsverteidigung hinzufügen. Wartet in Ruhe ab. Eine meiner nächsten Rezis. Ich hab da noch watt Feinet inne Hinterhand.

Feridun Zaimoglu kam 1965 mit seinen Eltern nach Deutschland und lebt in Kiel. Nach angefangenem Studium der Medizin und der Kunst arbeitet er als freier Schriftsteller. Seit seinem viel beachteten Erstlng “Kanak Sprak” wendet er sich in seinen literarischen Werken gegen einen romatischen Multikulturalismus.

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Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Abaton – Vom Ende der Angst

AbatonFaszinierend und beängstigend zugleich – so kündigte der Jugendbuchverlag Mixtvision “ABATON – Vom Ende der Angst” an. Ein Omen? Zwei angesehene Drehbuchautoren tun sich zusammen, um gemeinsam als Jugendbuch-Autoren zu debütieren. Kann so etwas gut gehen? Schon der Prolog beweist: Hier wird der ganz große Bogen gespannt. Unter einer Trilogie tun es Christian Jeltsch und Olaf Kraemer nicht. Von im zweiten Weltkrieg mundtot gemachten, verkannt genialen Wissenschaftler bis zu Fragen von brennender Aktualität hat das Autoren-Duo sich einiges vorgenommen. Und zwar nicht irgendwie: Kraemer/Jeltsch bezeicnen ihr Genre selbst als Science Faction, verweben Mysteriöses mit realen jugendlichen Lebenswelten und tüten das Ganze spannend ein. Schon auf dem Cover begegnen wir dem hypnotisierenden Sonnenrad, innen durchziehen blaugedruckte Datenreihen das Buch und geben ganz im Stil amerikanischer Easter-Egg-Tradtion noch mehr Rätsel auf.

Edda, Linus und Simon sind drei eigentlich ganz unterschiedliche Jugendliche. Und doch ist es kein Zufall, dass sie sich in einem Feriencamp kennen lernen und als “kritische Masse” schnell seltsame Gemeinsamkeiten finden. Gemeinsamkeiten, gegen die sich zunächst noch wehren, die sie aber bald erkennen lassen, dass sie nur zusammen bestehen können. Bestehen gegen mysteriöse Geschehnisse, die auch ausgebufftere Jugendliche zu Tode ängstigen könnten. Das Camp erweist sich als manipulierende Forschungsstation, aus der noch die nervigsten Nerds als supercoole, jedoch fixierte Kids wieder rauskommen. Die drei verbindet eine gebrochene Kindheit – Simons Vater im Gefängnis, Edda Mutter in der Klapse und Linus Eltern komplett verschollen. Auf der Suche nach Linus Eltern entdecken sie im Berliner Untergrund mysteriöse Graffiti ( das Sonnenrad! ), die ihren Alltag in eine andere Ebene verschieben. Eine Ebene, in die sie immer wieder hineingezogen werden , in der nichts ist, wie es scheint, eine Ebene, die Angst machen, aber auch nehmen kann.

Kraemer/Jeltsch haben ihr Debüt in die ihnen bekannte Form eines Drehbuchs gepackt. Ein kluger Schachzug, der den Verzicht auf herkömmliche Kapitel legitimiert und den Autoren das gemeinsame Schreiben, sowie den mühelosen Wechsel zwischen Erzählperspektiven und Zeiten ermöglicht. Auch dem nicht so ausdauernden Leser wird so die Chance gegeben, immer nur kurze Abschnitte zu lesen und trotzdem nie den roten Faden zu verlieren, den die Autoren stringent durch die verwirrende Handlung führen.
Offizielle Altersangabe: für Jugendliche ab 14, aber “wie jedes gute Jugendbuch auch für Erwachsene”. Nun denn, auch die erwachsene Leserin hat eine Meinung, zunächst aber –wenn man sie schon im Haus hat – eine Kritik aus der Zielgruppe.

Malte, 14:
Zuerst ein kleiner Kritikpunkt, damit die Rezension nicht so klingt, als würde ich Geld für eben diese bekommen. Zu den Namen der Kinder Edda, Linus und Simon. Sie passen meiner Meinung nach nicht gerade zu einem Jugendthriller, der im 21. Jahrhundert spielt. Jugendliche identifizieren sich eher mit Namen wie Nina, Mark und Jan oder anderen “modernen” Namen, auch wenn zumindest der Name Edda im Buch von ihr selber kritisiert wird. Diesem Kritikpunkt stehen jedoch eine ganze Menge positiver Punkte gegenüber. Schon am Anfang beginnt die Story sehr rätselhaft und vielschichtig, da innerhalb von wenigen Seiten aus mehreren Sichten und in 2 Epochen berichtet wird. Im Laufe des Buches entwickelt sich die Story zu einer Mischung aus Matrix und in Teilen Tintenherz, da sie trotz aller Dramatik auch sehr fantasievoll und teilweise auch romantisch ist. Ein Lob auch an die Autoren, denen eine gigantische Story eingefallen ist, die zum einen nicht von anderen Büchern kopiert wurde und zum anderen auch genial in ihrer Form ist. Die Ereignisse in der Story fügen sich nahtlos ineinander als wären sie Zahnräder, was vielen Jugendromanen heutzutage leider nicht mehr gelingt. Besonders am Ende des Buches war es schwer von der Geschichte abzulassen und man hat sich gefragt, was als nächstes passiert und wirklich mit den Charakteren mitgefiebert.
Mein persönliches Fazit: Das Buch ist ein Buch der Kategorie, die ich gerne und ohne schlechtes Gewissen 2 oder 3 mal lese und welche ich auch gerne Freunden weiterempfehle. Dank der gelungenen Story und da ich nach dem Cliffhanger am Ende des Buches unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht, fiebere ich dem nächsten Buch der “Abaton” Trilogie Ende 2012 schon entgegen.


Fazit der Rezensentin: Spannend war es, keine Frage. Neu auch. Da hat Malte Recht. Nichts Abgekupfertes gefunden. Selten heutzutage. Und das bei so einer komplexen Struktur. Homogen geschrieben – trotz oder gerade wegen der zwei Autoren, denen es bei aller “Science Faction” gelingt, nahe an jugendlichen Gedankenwelten zu sein – wohlgemerkt, ohne auch nur einmal den pädagogischen Zeigefinger zu heben. Rund ist es nicht, soll es auch nicht sein. Schließlich: unter einer Trilogie tun es die Autoren nicht. Abaton ist im orthodoxen Glauben das Allerheiligste. Der Ort den nur wenige Erwählte kennen lernen dürfen. So darf man spekulieren, dass genau darin wohl auch die entscheidende Frage für Edda, Simon und Linus liegen wird: Was genau ihr persönliches Abaton ist und ob das Ende der Angst nun eine befreiende oder eine erst recht beängstigende Vorstellung ist.

Die Autoren: Christian Jeitsch ist ein Grimme- und Fernsehpreis-dekorierter Drehbuchautor ( diverse “Tatörte”, Polizeirufe u.a. Olaf Kraemer, Buch- und Filmautor, wurde bekannt mit der Uschi-Obermaier-Biografie “High Times”, die nach seinem Drehbuch unter dem Titel “Das Wilde Leben” erfolgreich verfilmt wurde.

Einen gelungenen Einstieg in die Abaton-Welt bietet die schick gestaltete Homepage zum Projekt.

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Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Mixtvision München

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

DanielaKrienSommer 1990 in der DDR.Der letzte Sommer in einem Land, welches bald keines mehr sein wird. Maria wird bald siebzehn. Sie wohnt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern nahe der deutsch-deutschen Grenze, die bald keine mehr sein wird. Maria ist ein zartes verträumtes Mädchen. Zwar beteiligt sie sich tatkräftig an der Hofarbeit, verweigert jedoch die Schule. Ihr Liebstes sind zu dieser Zeit die Gebrüder Karamasov, deren Fragen nach Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung.

Der Brendel-Hof, auf dem Maria lebt, ist neben dem Henner-Hof der größte des Ortes. Beim Henner ist alles noch wie vor dem Krieg, der eigenbrödlerische Mann lebt dort alleine. Sein einsames Leben und seine harsche Art erregen Argwohn im Dorf. Dass sein eigenwilliges Charisma auf Frauen attraktiv wirkt, macht es nicht gerade einfacher. Die junge Maria begegnet Henner eines Tages zufällig, eine einzige Berührung reicht aus, damit eine ebenso unausweichliche wie unmögliche Liebe beginnt. Maria “fällt in einen tiefen Rausch, nichts verwehrt sie diesem Mann.” Ihre Liebe grenzt bisweilen an Hörigkeit, schon nach kurzer Zeit sagt sie den einen Satz zu ihm, den sie – das weiß sie jetzt schon – in ihrem Leben nur einmal sagen wird “mach mit mir, was Du willst”. Und das tut er dann auch. “Sein Wollen hatte etwas Tierisches, Unberechenbares, etwas , das mich an Dinge erinnerte, die lang vor meiner Zeit geschehen sind, die ich nicht wissen kann und dennoch zu kennen glaube, als wäre mein Gedächtnis nur Teil eines größeren.” Doch Henner will eher ihr Herz als ihren Stolz und so wird Maria an dieser Beziehung wachsen und nicht zerbrechen. Den ganzen Sommer leben sie ihre Liebe heimlich, atmen “den scharfen Geruch der Lüge”. Auch wenn Maria Johannes und dessen Familie sowohl mit Respekt als auch mit Zuneigung begegnet, sind sie nicht in der Lage, voneinander zu lassen und treiben die Lüge weiter, als sie je geglaubt haben, eine Lüge treiben zu können. Das Ende sehen sie dennoch kommen. Das Ende des Sommers, das Ende der DDR, das Ende des Lebens, das sie kannten, das Ende ihrer Liebe.

In ihrem Roman-Debüt läßt Daniela Krien ihre Ich-Erzählerin Maria mit der verträumten Sprache einer 17-jährigen von obsessiven Leidenschaften und historischen Zeitenwenden erzählen. Die Welt, von der sie berichtet, ist heute eine vergangene. Durch die besondere Sprache des Romans ermöglicht sie es dem Leser, mitzuleiden und mitzuerleben. Alle Charaktere, von der jungen Maria bis zur alten Bäuerin erscheinen ihm echt und unverfälscht. Man kann Marias Tun gutheißen, muss es aber nicht. Durch ihre ehrlichen Berichte über zerstörte Kindheitsträume und Zwänge in der Pionierrepublik versteht man sie als Leser jederzeit. Der Autorin gelingt das schwierige Kunststück, eine obsessive Sinnlichkeit so zu vermitteln, dass man sie als Leser fast körperlich spüren kann. Von Anfang an versteht man die magische Anziehungskraft des unpassenden Mannes und Marias leidenschaftliche Unterwerfung. Die Familie, bei der Maria lebt, lernen wir als Menschen mit Ecken und Kanten kennen und wertschätzen. Die Geschichte dieser Familie umspannt die schwierige Liebesgeschichte wie ein schützender Rahmen und bringt dem Leser lebendig die Zeit und die Gedankenwelt der DDR-Bürger in diesem Sommer des Umbruchs näher. Fast schon nostalgisch liest man über die Pläne und Hoffnungen der Menschen, auch wenn die Bauern damals schon ahnen, was wir heute wissen: “Wir können nicht holterdipolter in Monaten das schaffen, was die drüben in Jahrzehnten entwickelt haben.” Siegfried, das tatkräftige Familienoberhaupt will sich an den im Westen der Neunziger so erfolgreichen Demeterhöfe orientieren, allerdings “ohne den anthroposopischen Überbau”, das ist ihnen zu verschroben.

Dieser Roman lebt nicht von Spannung oder großer Romantik, das wirklich Besondere an ihm ist neben der Achtsamkeit, mit der die Autorin Sprache als ein kostbares Gut behandelt, seine Authenzität und Ehrlichkeit. Denn: Auch so kann man ein Buch zur Zeitenwende in Deutschland Ost und West schreiben, auch so kann man das Anliegen, Erinnerungen an einen zerbrochenen Staat, seine Menschen und sein Lebensgefühl zu bewahren, vermitteln.

Am Ende des Sommers ist alles anders. Dem Höhenflug der Leidenschaft folgt tiefster Kummer, auch dieser elementar und vorweggenommen. Maria geht mit Johannes weg vom Brendelhof, die Zukunft ist offen. Aber auch verheißungsvoll? Trost geben ihr die Brüder Karamasov, die Worte Alexejs und wie er sagte “irgendwann würden wir alle auferstehen und uns wiedersehen und alles erzählen. Wirklich alles.” Am Ende des Buches ist auch für den Leser einiges anders. Er betrachtet die Welt, von der er gelesen hat, neu und er hofft, dass Daniela Krien ihm, dem Leser noch einiges zu erzählen hat.
Wenn auch wohl niemals alles.

Die Leipzigerin Daniela Krien, studierte Kulturwissenschaftlerin, arbeitete als Drehbuchautorin und Cutterin. “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” ist ihr erster Roman.

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Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München

Abgründe

AbgründeEine Woche lang schaute Frankfurt auf Island. Nicht der Finanzblase wegen, auch Aschewolken waren außen vor – nein, es war Buchmesse und Island zu Gast. Man bezauberte mit der gemütlichsten Wohnzimmer-Installation der ganzen Messe und drohte mit der erklärten Absicht, Europas Buchmarkt werde sich nie wieder von dieser Bücherblase erholen. Die Heute-Show fragte gar, ob es nun nicht opportun sei, den Isländern mit einer Schreibblockade zu drohen. Wir fragen investigativ, ob es nicht einfach reicht, eines davon zu lesen. Im Selbstversuch verzichtete ich auf Elfen, Trolle und Stockfische und griff mir eines, welches Spannung und abgründige Blicke in Islands Finanzwelt versprach .

In seinem neuesten Island-Krimi schickt Arnaldur Indridason seinen bewährten Kommissar Erlendur erst einmal in Urlaub. So muss sich sein Kollege Sigurdur Oli um die Aufklärung zweier Todesfälle kümmern. In einen davon ist er persönlich verwickelt, da er der Bitte seines besten Freundes entsprechend eine junge Frau davon abhalten will, dessen Familie zu erpressen. Als Oli diese Frau, Lina, zur Rede stellen will, findet er sie zu Tode geprügelt von einem Schuldeneintreiber vor. Obwohl persönlich involviert, ermittelt er weiter und findet heraus, dass vor über einem Jahr ein Banker bei einem Ausflug, den ausgerechnet Linaorganisierte, einen tödlichen Sturz in einen Abgrund erlitt. Die Ermittlungen führen ihn in höchste Bankenkreise, die in abenteuerlichen, moralisch fragwürdigen Geschäften immer höhere Gewinne scheffeln.

“Abgründe” ist ein Krimi, bei dem es auch, bei weitem aber nicht nur, um einen kriminellen Plot geht. Von Ingridason zwar bildhaft und flüssig erzählt, liegt hier die Schwäche des Romans. Weite Teile drehen sich um das Privatleben Olis, das eigentlich nichts als abgründig langweilig ist. Das Sympathiepotential des Kommissars dürfte sich bei jenen erschöpfen, für die amerikanische Sportarten das Größte und die noch dazu vom Leben und den Frauen enttäuscht sind. Der Rest der Leser wartet auf den Fortgang der Handlung. Besser gesagt, der zwei Handlungen. Der Klappentext bemerkt zu Recht, dass die beiden Fälle auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Verschwiegen wird dabei, dass sie auch auf den zweiten Blick nicht wirklich miteinander verwoben sind. Außer, dass die Protagonisten sich kannten, finden sich nicht wirklich viele Gemeinsamkeiten. Der Plot um Lina ist relativ schnell gelöst, die Frage nach dem Motiv nimmt noch etwas länger Raum ein. Doch auch hier können die Banker nicht dienen. Die Geschichte um die Banker dient einzig und alleine dazu, die Erwartungen des Lesers zu bedienen, dem Hintergründe zur abgründigen Finanzwelt versprochen werden. Das verkauft sich sicher prima, die zu diesem Thema angebrachte Kritik ist lobenswerterweise auch zu keiner Zeit übers Ziel hinausschießend. Ärgerlich nur, wenn man fast die Hälfte des Buches zuwarten muss, bis der Autor sich endlich dem Thema zuwendet, welches der Klappentext als das vorherrschende anpreist. Noch ärgerlicher, wenn sich die Geschehnisse im Bankermilieu als relativ müde gähnende Abgründe erweisen – vor allem, weil sie anno 2005 geschahen und jeder halbwegs informierte Leser weiß, dass a) die Abgründe des Jahres 2008 wesentlich tiefer waren und b) sich gerade die isländische Wirtschaft anno 2011 wieder berappelt hat. (wahrscheinlich der vielen verkauften Bücher wegen). Eine weitere Irritation im Buch ist eine Side-Story über einen als Kind misshandelten Penner, der nunmehr auf Rachefeldzug ist und dem Kommissar das Leben kriminaltechnisch erschwert. Auch dessen Geschichte beschreibt Indridason eindringlich und bemerkenswert – aber sie hat nichts, absolut nichts mit dem Fall zu tun.(Wenn man mal davon absieht, dass das Leid des Penners die moralische Verwerflichkeit der anderen Verbrechen durchaus eindrucksvoll unterstreicht.) Dass man dies erst ganz zum Schluß erfährt, während man 420 Seiten lang auf die Auflösung der Zusammenhänge wartet, macht den Spannungsbogen nicht besser.

Arnaldur Indridason war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung und lebt heute als freier (preisgekrönter) Autor in Rejkjavik.

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Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe

Je schneller ich gehe, desto klener bin ich

skomsvold“Ich habe schon immer gern Dinge zu Ende gebracht. Ohrenwärmer. Sommer. Herbst. Frühling. Winter. Epsilons Berufsleben. Die Sachen erledigt.”

So beginnt ein kleiner, feiner, außergewöhnlicher Roman der jungen Norwegerin Kjersti A. Skomsvold. Ihre Heldin Mathea Martinsen ist fast hundert Jahre alt und am liebsten würde sie sich einfrieren. Solange, bis sie sich überlegt hat, wie sie den Rest ihrer Lebenszeit am besten nutzen kann. Epsilon – so nannte sie ihren vor kurzem verstorbenen Mann und so wie er lebenslang ihr Maßstab, ihre Orientierungsmarke war, so orientiert sie sich nun am Epsilon als statistische Einheit. Sie resümiert ihr Leben, ihre Ehe und wird gewahr, dass nichts von ihr überdauern wird, dass sie ihre Lebenszeit nicht genutzt hat. Sei es aus Überdruss, aus Schüchternheit, aus Bequemlichkeit. So ganz kann sie das selber nicht mehr klären. Gerne würde sie etwas hinterlassen, damit die Nachwelt weiß, dass sie überhaupt gelebt hat. Schliesslich leben momentan mehr Menschen auf der Welt, als jemals gestorben sind. Und da wäre es doch “fein, das Zünglein an der Waage zu sein”. Aber ist eine vergrabene Kiste, ihr Brautkleid und Legionen von für Epsilon gestrickte Ohrenwärmern enthaltend, dafür ein probates Mittel? Obwohl sie in ihrem (Ehe-)leben nur ein einziges Mal Besuch erhielten, versucht sie nun eine zaghafte Annäherung an ihre Mitmenschen. Eigentlich geht sie nur aus dem Haus, bevor sie sich durch ihren Türspion versichert hat, dass ausser ihr niemand im Treppenhaus ist. Nun grüßt sie mutig den Mann ohne Namen im Wald, sogar dem Nachbarn, den sie ihr Leben lang nur von oben herab gesehen hat, leiht sie Zucker. Mutig geworden geht sie gar zu einem Senioren-Kaffeeklatsch mit Bingo “Vergnügen” – und scheitert. Wieder einmal an ihrer eigenen Unsichtbarkeit, in langen Jahren zur Perfektion ausgebildet. Sie gehört nicht zu der Spezies, die Kuchen bekommen und ihre Jacke wird als Kuriosität versteigert.

Kjersti A. Skomsvold erzählt mehr ein versponnenes Märchen denn eine Handlung oder gar eine Biographie. Anrührend, bisweilen recht vergnüglich erzählt sie von der Kunst des Lebens und Sterbens und dem Scheitern an diesen Künsten. Noch vor dem bittersüßen Ende kommt Mathea zu der Erkenntnis “so muss es sein, wenn man tot ist, wie als man noch nicht geboren war, und das war ja nicht die schlechteste Zeit.”
Die junge norwegische Autorin hat ein ganz beachtenswertes Debüt geschrieben, in Norwegen viel bejubelt – und ja, zumindest dort schon mit Preisen dekoriert. In diesem Bücherherbst ist viel von gescheiterten Lebensentwürfen zu lesen. So auch in diesem. Dennoch ist es nicht ein weiteres zu dieser Thematik, denn es ist gleichzeitig auch ein Buch, welches Hoffnung mitgibt – zudem so einige Wahrheiten und Erkenntnisse über das Leben.

In Presseberichten wurde Mathea eine rührende alte Dame voller Weisheit genannt. Das kann ich so nicht sehen. Es ist nicht rührend, eigentlich ist es erschütternd. Man liest das Buch mit einem Schmunzeln, kann sich aber des traurigen Mitleidens für die des Lebens so unfähige Mathea und ihres dadurch sehr eingeschränkten Epsilon nicht erwehren.
Jeder Leser wird nach der Lektüre seine eigene Interpretationsmöglichkeit des sperrigen Titels finden, jeder Leser wird die Geschichte auch auf seine eigene, auf ihn selbst gemünzte Art interpretieren. Und das ist sicher die eigentliche Kunst des Buches. Es regt zum Nachdenken an – und zu eigener Entscheidungsfindung.

Ich hatte in diesem Portal schon eindringlich die Bücher der norwegischen Ausnahme-Autorin Anne B. Ragde empfohlen. Die junge Osloerin schickt sich an, in ihre Fußstapfen zu treten. Kjersti A. Skomsvold beweist in meinen Augen einmal mehr, dass es sich lohnt, die skandinavische Literatur jenseits der Krimis und Thriller für sich zu entdecken. Ich bin mir sicher, von ihr wird noch viel zu lesen sein.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Die romantischen Jahre

Ingendaay“Und ist ihm sonst auch nichts gelungen, dann macht er in Versicherungen”. Hätte Marko Theunissen eine mit ähnlich klugen Lebensweisheiten gesegnete Omma gehabt wie ich, wäre ihm sicher das ein oder andere erspart geblieben. Ganz recht. Marko Theunissen. Der Held aus “Warum Du mich verlassen hast” begegnet uns in seinen romantischen Jahren wieder. Noch lange nicht erwachsen geworden, aber ins Erwachsenenleben integriert. Der Literaturstudent mit reichlich Flausen im Kopf ist nun Versicherungsvertreter. Oder auch Agent. Weil sich das besser anhört, befindet Joe, seine kleine Freundin aus der Nachbarschaft.

Paul Ingendaay erzählt in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes weiter, der nicht so genau weiß, was sein Lebenstraum ist und sich vielleicht genau deswegen nachgerade trotzig dazu entschließt, die Lebensträume und Risiken anderer zu versichern. Denn wie um alles in der Welt kann man Romantiker sein und doch Versicherungsvertreter an der gönne Kant des tiefsten Niederrheins werden? Wie kann es sein, dass einer zehn Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, Bildungsreisen inclusive und sich plötzlich in der Ellenbogenwelt des vertriebsorientierten Kundensprechs, der Bonifikationen, der “Ich-hab-da-zwei-Leben-in-der- Anbahnung” – Abschlussgeilheit wieder findet? Während Theunissen in einer Branche, welche “hinreichend Platz für alle Gemeinheiten der Menschennatur bietet” , die Balance zwischen Überleben und Fairneß zu halten sucht, kämpft er gleichzeitig an den ältesten Fronten der Menschheit: Den Verflechtungen der Liebe und denen mit der eigenen Familie. Gewonnene Einsichten sowohl aus dem “Haifischbecken” der Versicherungsbranche als auch aus dem nicht minder bissigen Umfeld des Literaturbetriebs helfen ihm dabei..”Menschen neigen dazu, sich selbst als Einzelfall zu sehen und deshalb vom Schicksal eine Einzelfallsbehandlung zu erwarten.”

Ingendaay erzählt fabulierfreudig, mit der Sprache spielend, eine ganz normale Geschichte. Eine Geschichte, wie sie heutzutage wohl eher die Regel denn die Ausnahme ist. Eine Geschichte von Unentschlossenheit, von zerplatzten Lebensentwürfen, von verratenen Idealen und Selbstbetrug. Er erzählt sie liebevoll, von viel Verständnis für die sich so schnell in Schubladen stecken lassenden Menschen getragen. Er weiß, dass “je mehr Entscheidungen wir dann aber treffen, umso kleiner werden die Chancen auf einen ganz anderen Lebensentwurf”. Mit einem guten Gespür für Würde und Würdelosigkeit mischt der Erzähler sich mit feiner Ironie ein und lenkt die Dinge in eine zwar von Kompromissen getragene, aber durchaus befriedigende Richtung. Denn “das Schicksal schlägt auch nicht zu. Es hat ja keine Arme. Das Schicksal ist, was wir sind. Unser Schicksal ist die Summe unserer wechselnden Zustände in einem gegebenen zeitlichen Rahmen.”

Der Autor selbst nennt sein Buch “den Roman der verpassten Möglichkeiten”. Kennen wir das nicht alle? Der Klappentext verspricht “den Sieg der Möglicheit über die graue Realität”. Wünschen wir uns das nicht alle? Und tatsächlich schafft es unser Held, sein Leben nicht zum emotionalen Schadensfall werden zu lasen und es gelingt ihm mit etwas Glück und viel Chuzpe einem äußerst widerwärtigen Exemplar von Kollegen (kennen wir den nicht auch alle?) das Handwerk mit Hilfe von “Rosinenschnecken” zu legen. Sehr gelungenes Ende!

Marko Theunissen ist die meiste Zeit “glücklich immer nur gewesen ” und rettet sein Motto “Ich bin liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam” in eine Zukunft, von der hoffentlich weiter zu lesen sein wird. Ich für meinen Teil werde einige der ebenso klugen wie verqueren Einsichten des Herrn Versicherungsagenten behalten und ganz besonders das schöne spanische Sprichwort “Dar tiempo al tiempo” (Der Zeit muss man Zeit geben) zu beherzigen suchen.

Der Autor: Paul Ingendaay lebt seit 1998 mit seiner Familie in Madrid als Kulturkorrespondent der FAZ. Einem breiteren Publikum ist er nicht nur als Herausgeber der Gesamtausgabe von Patricia Highsmith bekannt, sondern auch als Autor der beliebten “Gebrauchsanweisung für Spanien”. Mit dem Alfred-Kern-Preis ausgezeichnet, hat er sich auch als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Insofern freut es ganz besonders, dass Ingendaay mit den romantischen Jahren schon den zweiten exzeptionell guten Roman vorgelegt hat.

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Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

In Zeiten des abnehmenden Lichts

RugeBereits 2009 bekam Eugen Ruge für sein Prosa-Manuskript den renommierten Alfred-Döblin-Preis. Nun liegt der fertiger Roman vor, bereits mit dem Aspekte Literaturpreis ausgezeichnet und auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Von Kritikern einhellig bejubelt, vom Otto Normal-Leser – zumindest von denen, die es sorgsam lesen und sich nicht nur ins Regal stellen, weil es ja das Must-have des Buch-Herbstes ist – eher zwiespältig beurteilt.

“In Zeiten des abnehmenden Lichts” erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Es darf vermutet werden, dass Ruge mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie bewahrt. Eine Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Der 1.Oktober 1989 ist die Klammer, die dieses Buch zusammenhält. Es ist der Geburtstag des Patriarchen Wilhelm – überzeugter Kommunist, der durch die Machtergreifung Hitlers einst mit seiner Frau Charlotte ins russische Exil, später in unbedeutende Geheimdienstmissionen gezwungen wurde. Dieser Tag wird aus der Perspektive jedes einzelnen Familienmitglieds erzählt – immer unterbrochen von szenischen Momentaufnahmen beginnend mit den frühen Fünfzigern bis hin zum September 2001. Wir erleben die Geschichte von Kurt, der als einziger Sohn überlebte – sowohl den zweiten Weltkrieg als auch den sowjetischen Gulag. Kurt, der zwar an die Veränderbarkeit der Welt unvermindert glauben möchte, der aber eher ein sich arrangierender Mitläufer denn überzeugter Parteifunktionär ist. Die Strahlkraft der politischen Utopie nimmt von Generation zu Generation weiter ab, über den unglücklichen, sich aber nicht engagierenden Enkel Sascha bis hin zum schließlich aufbegehrenden Ur-Enkel Markus.

Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Seltsam distanziert bleibt dementsprechend der Leser, zumal die ständigen Zeitsprünge und Perspektivwechsel ihm einiges abverlangen. Dazu kommt, dass Ruge sich des öfteren in kleinlichen Hakeleien verliert, die seinen Hass auf den realen Sozialismus klar zutage treten lassen und den Leser ohne detailliertes Hintergrundwissen leicht überfordern. Die Geschichte verliert in seinem Lauf viel vom furiosen Schwung der Anfangskapitel, zum Ende hin wird es gar mühsam. Man hat das Gefühl: Es reicht. Wir haben es jetzt verstanden. Wir brauchen nicht noch eine Drogenabhängigkeit, nicht noch eine tödliche Krankheit, nicht noch einen Streit, nicht noch eine demente Götterdämmerung, um die Botschaft des Buches entziffern zu können. Denn bei allem Verständnis bleibt doch die unbeantwortete Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderem System glücklicher geworden?

Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht “In Zeiten des abnehmenden Lichts” trotz der Kritikpunkte ganz sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Gleichwohl tut man meiner Meinung nach dem Autor keinen Gefallen, wenn man sich in großen Feuilletons dazu versteigt, hohe Erwartungen zu schüren und gleich die ostdeutschen Buddenbrooks heraufzubeschwören. Die Buddenbrooks (diese Bemerkung gestatte ich – die ich Thomas Manns Epos als eines meiner liebsten Bücher bezeichne – mir) sind das Maß aller Dinge und ich glaube auch in der Tat nicht, dass Eugen Ruge mit seinem Buch das ostdeutsche Komplementärwerk vorlegen wollte. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht.

Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” ist sein Debütroman.

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Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Grau

\"grau\"Ein Mann sieht rot. Und das ist auch gut so. Denn Eddie Russett lebt in einer Welt, in der jeder Mensch nur eine Farbe sehen kann. Wenn er Glück hat. Denn es gibt auch noch die Grauen. Die, die gar keine Farbe sehen können und ganz unten in der Hierarchie als unterwürfige Drohnen ihres Kollektivs dienen müssen. In Eddies Welt ist Farbe zu einer Ware geworden, welche die soziale Hackordnung bestimmt. Machtbefugnisse basieren ausschließlich darauf, welche Farbe man wie gut sehen kann. Eddie steht kurz vor dem gesellschaftlichen Aufstieg, durch seine exzellente Rotsicht sind seine Chancen auf dem Heiratsmarkt bis hin zur Erbin eines Bindfadenimperiums gestiegen. Er lebt in einer Welt, 500 oder 600 Jahre nach dem \”großen Ereignis\”, genau weiß man das nicht. Es herrscht Löffelknappheit, dafür gibt es zum Glück Ovomaltine im Überfluss. Das Land ist fruchtbar. Es leben dort nicht allzu viele Menschen, dafür Sprungziegen und Antilopen. Äußere Zeichen früherer Zivilisation sind von wildwuchernder Megafauna verdeckt. Was der aggressive Rhododendron nicht schafft, wird durch verordnete Rücksprünge vernichtet. Höflichkeit ist verordnet, das Leben genau geregelt. Mit geschürter Angst vor Schwanattacken, Blitzeinschlägen und der Dunkelheit wird das Volk in Schach gehalten. Eddie fühlt sich nicht unwohl in dieser Welt. Wenn er nun noch lernt, seine Neugier und seine Kreativität im Zaume zu halten, dann steht einem erfolgreichen Leben als roter Präfekt nichts mehr im Wege. Womit er nicht gerechnet hat, ist die Liebe. Wider jede Vernunft verliebt er sich in Jane. Jane ist zwar wunderbar stupsnasig, aber eben auch der verachteten grauen Unterschicht zugehörig. Das ist fast genauso schlimm, als wenn sie Grüne wäre, denn intime Verbindungen zwischen Komplementärfarben sind verboten. Plötzlich hat Eddie mächtige Feinde, erfährt unbequeme, bestürzende Wahrheiten und seine Angebetete erwidert seine Liebe nicht. Sie ist nämlich nicht nur stupsnasig und eigensinnig, sondern hütet auch noch ein explosives Geheimnis, von dem Eddie bereits viel zu viel herausgefunden hat. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als alles zu versuchen, Eddie den fleischfressenden Yateveo Bäumen zum Fraße vorzuwerfen.

Jasper Fforde hat eine perfekt entworfene Welt gebaut, bis ins kleinste Detail durchdacht , überbordend vor Phantasie und Ideenreichtum. Anschaulich zeigt er, wie eine Diktatur funktioniert, was sie sympathisch macht und was angreifbar. Zum Beispiel die unüberschätzbare Macht der Neugier und die Wahrheit. Fforde selber sagt, dass es erschreckend einfach war. eine Hierachie zu erfinden. Er begann mit ein paar ganz einfachen Regeln, schuf eine Ordnung, die auf Farbwahrnehmung beruht und \”sobald er einen Schuß Ehrgeiz und Missgunst zugab, kam ihm alles irgendwie entsetzlich vertraut vor.\” Er fasst in seiner Dystopie so manches heiße Eisen an, bis hin zur institutionalisierten Sterbehilfe, enthält sich aber jeder Wertung. In \”Grau\” entfaltet sich eine völlig neue, andersartige Welt. Abstrus und befremdend, in ihrem Wiedererkennungswert jedoch fast schon genial. Der Handlung tut es gut, dass Fforde nie der Versuchung erliegt, das \”große Ereignis\” näher zu spezifizieren. Sein humorvoller Stil macht Spaß, besonders die versteckten Anspielungen auf unsere heutige Welt, sich z.b. manifestierend in Namen oder Buchtiteln. Die Handlung verliert nie ihren roten Faden, hat jedoch einige Längen. Gerade im letzten Drittel , wenn die chromatokologische Welt einmal hinreichend gezeichnet ist, ist es oft des Guten ein bißchen zuviel. Da wird eine Intrige nach der anderen gesponnen, Verschwörungen geplant und man wünscht sich, er würde jetzt irgendwann mal zum Punkt kommen.

Die Geschichte um Eddie Russett ist als Trilogie angelegt und trotz der erwähnten Kritikpunkte darf man gespannt und unüberschätzbar neugierig auf die Fortsetzung sein. \”Grau\” ist ganz sicher kein Sprung zurück und mehr als nur ein Hüpfer nach vorne unter den allzu oft immer gleichen Zukunftsvisionen.

Der in Wales lebende Jasper Fforde wurde 2001 weltbekannt mit dem Roman \”Der Fall Jane Eyre\” und erschrieb sich mit seiner Thursday Next Reihe eine beständige Fangemeinde. Ins Deutsche übersetzt wurde das Buch von Thomas Stegers. Bei all den von Fforde neu erfundenen Begriffen sicher kein leichtes Unterfangen, hier aber sehr gut und sorgfältig gelöst, wie im Fall des gerade im Deutschen sehr doppeldeutigen Mustermanns.

Zum Buch gibt es neben der Facebook Fanseite auch eine Microsite und einen Trailer. Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Science-fiction
Illustrated by Eichborn Verlag

Der Seiltänzer

goering seiltänzer
Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas in Münster begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen. Diese Fahrt, von mehreren Anlaufstellen unterbrochen, wird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, “viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer” als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend “dass es kein ungefährlicher Bund für ihn” ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann “über dem das Seil aufgespannt ist, auf dem er geht.”

Michael Göring erzählt in einer sehr klaren, fast nüchternen Sprache von Wendepunkten, vom sich Entscheiden müssen, von den Anfechtungen des Alltags, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters. Er blickt dennoch liebevoll und wohlwollend auf seine Protagonisten und bewahrt seine Erzählung so vor einem bitteren Unterton. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Die Rückblenden beginnen in den frühen Siebzigern und werden mal aus Andreas’, mal aus Thomas’ Perspektive erzählt. Thomas übernimmt dabei den Part des Skeptikers und Mahners. Die Geschehnisse in der Gegenwart – (im Roman Frühjahr 2010) werden bis auf die allerletzte Seite ausschließlich aus der Sicht von Andreas erzählt und vermitteln ein sehr eindringliches Bild von Problemen und Anfechtungen, die in unserer Zeit sehr ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld und Generalverdacht führen können. Darüber hinaus vermittelt er in seinem Buch noch eine Erkenntnis, der nicht wenige aus täglichem Erleben heraus zustimmen werden. Kirche als Institution wird heute kaum mehr gehört und akzeptiert. Auch nicht von denen, die den Wunsch, ihren Glauben zu leben, noch nicht aufgegeben haben. Kirche ist für die meisten nur noch die Gemeinde vor Ort. Nicht mehr, aber eben doch auch nicht weniger.

Als Dreingabe neben all diesen “schweren” Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Ein Unterfangen, um das sich noch nicht allzu viele Autoren verdient gemacht haben.

Zum Ende hin verliert der Roman etwas von seinem Schwung, die Dialoge auf den letzten Seiten wirken auf einmal gestelzt und zu bemüht. Auch das Ende selbst – es hat mir so nicht gefallen. Um es westfälisch zu sagen, es war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches. Ohne zuviel verraten zu wollen – es ist völlig in Ordnung und auch folgerichtig, wenn der Autor die allgemeingültige Lösung nicht geben will. Mir als Leser wäre es jedoch wesentlich lieber gewesen, er hätte sich klar zum offenen Ende bekannt.

Mein Fazit: Der Seiltänzer ist ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema, dem Erfolg zu wünschen ist. Nicht zuletzt verbunden mit dem Wunsch, dass die überfälligen Diskussionen in der katholischen Kirche wieder aufleben – wenn möglich auf einer sachlicheren und weniger von persönlichen Eitelkeiten geprägten Ebene als zuletzt. .

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

In den Augen der anderen

Jodi PicoultWas ist normal und wer entscheidet das? “In den Augen der anderen ist Jacob Hunt alles andere als normal. In den Augen seiner Mutter ist es normal, ein besonderes Kind zu haben. Jacob selbst sagt “Normal ist nur eine Einstellung an der Waschmaschine”.

Als bei Emma Hunts Sohn Jacob das Asperger Syndrom diagnostiziert wird, eine autistische Störung, ist die Wissenschaft ungefähr auf dem Stand von Rain Man. Emma kämpft, lässt ihrem Sohn jede denkbare Therapie angedeihen und integriert seine besonderen Bedürfnisse in den Familienalltag. Routinen sind für ihn überlebenswichtig. Wenn Jacob nicht als erster duscht, ist der Tag nicht mehr zu retten. Wenn Jacob kein offenes Haar erträgt, dann macht Emma sich eben einen Pferdeschwanz. Wenn jeder Wochentag eine besondere Farbe haben muss, dann gibt es am weißen Dienstag eben Kartoffelpüree mit Reis. Wenn Jacob es leichter fällt, in Filmzitaten zu antworten, dann lernt man eben, dass “geschüttelt und nicht gerührt” das Äquivalent zu “Ja” ist. Emmas unermüdlichem Einsatz ist es zu verdanken, dass Jacob am Alltagsleben teilhaben, dass er zur Schule gehen und seine außergewöhnliche Intelligenz nutzen kann. Und sei es für ein obsessives Interesse an Kriminaltechnik. Was Emma nicht beeinflussen kann, ist die Wahrnehmung Jacobs in den Augen der anderen. Freundschaften sind nicht erzwingbar und wenn Jacob ein Außenseiter ist, nimmt sie in Kauf, dass auch sie aussen steht. Was Emma nicht rechtzeitig sieht und beeinflusst, sind die Auswirkungen von Jacobs Krankheit und des gelegentlich absonderlichen Familienlebens auf ihren jüngeren Sohn Theo. Eines Tages wird die junge Pädagogikstudentin Jess tot aufgefunden. Erschlagen? Vielleicht von Jacob, den sie mehrmals in der Woche betreute und für den sie erfolgversprechende Übungen für seine soziale Kompetenz entwickelt hatte? Schnell wird Jacob verdächtigt und die mühsam erkämpfte Normalität in Emmas kleiner Familie bricht zusammen. Jacob muss vor Gericht. Doch wie soll das gehen? Emma und ihr bislang nicht gerade durch fulminante Erfolge aufgefallene Rechtsanwalt Oliver nehmen den Kampf auf. Es geht darum, Jacob vor dem Gefängnis zu bewahren – aber auch um die Rechte von Menschen, die anders sind. Wenn auch nur in den Augen der anderen.

Jodi Picoult berichtet Jacobs Geschichte wie immer sorgfältig recherchiert. Der Leser wird erschöpfend mit Fachwissen über Autismus und das Asperger Syndrom versorgt. Teils zu erschöpfend. Weniger wäre in ihrem neuen Buch etwas mehr gewesen. Ein beherztes Streichen hätte nicht geschadet. Dennoch – der ungewöhnliche Held Jacob, die tapferen Mitstreiter und die Story entfalten genug Spannung, dass man sich auch in diesem Buch dem Sog von Jodi Picoults Erzählung nicht entziehen kann. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven. Der Leser erfährt jede Seite der Geschichte. Er weiß um die Nöte Emmas, aber auch um die von Theo. Er erfährt Hintergründe des Verbrechens vom ermittelnden Polizisten und vom Anwalt die genaue Vorbereitung des Prozesses und seine Führung. Aber auch die Gedankenwelt Jacobs und seine eigene Sicht der Dinge kommen nicht zu kurz. Der Beleuchtung des Themas von allen Seiten, aus aller Augen sozusagen tut dies ausserordentlich gut. Klar kristalliert sich heraus, wie Jacob auf andere wirkt, wie es zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen kommen kann.

Die US-amerikanische Autorin Jodi Picoult hat sich beidseits des Atlantiks eine riesige Fangemeinde erschrieben. Ihre Bücher erscheinen zumeist pünktlich zum Leseherbst und sind sichere Bestseller-Garanten. Ihre Bücher folgen einem immer gleichen Schema. Sie verbindet das Drama brisanter Themen mit den Auswirkungen auf eine Familie, akribische Recherche mit moralischen Grundsatzfragen. Ihre Bücher siedeln zwischen Reportage und Roman, immer nahe an ihren Protagonisten und am Thema. Ob es nun um die minutiöse Aufarbeitung eines Amoklaufs geht (19 Minuten) oder um die Frage, ob ein Kind gezeugt werden darf, welches ein Leben lang als Knochenmarkspender für die leukämiekranke Schwester dienen soll. (beim Leben meiner Schwester) – immer legt Jodi Picoult den Finger zielsicher in die Wunden unserer Gesellschaft und legt offen, wie kompliziert menschliche Verflechtungen sein können. Auch wenn man nach jedem ihrem Bücher erschöpfend informiert ist zum jeweiligen Thema – es ist nie langweilig, immer spannend wie ein Thriller, bis sie am Ende dem Leser eine eigene Position abringt – die nicht zwangsläufig mit ihrer eigenen übereinstimmen muss.
Mich erinnern ihre dokumentarischen Romane immer ein wenig an die Readers Digest früherer Jahre. Oft wird – zu Recht – geklagt, dass Qualitätsjournalismus und vernünftige Reportagen selten geworden sind. Eine Geschichte wie die von Jacob hätte ich auch gerne in einem Magazin gelesen. Es scheint, als ob Jodi Picoult in die Bresche springt und diese warum auch immer freigewordene Lücke besetzt. Vielleicht sollte man den Erfolg von Jodi Picoult zum Anlass nehmen, Journalismus im 21. Jahrhundert noch einmal zu überdenken. Der Erfolg gibt Jodi Picoult recht und der Bedarf scheint da zu sein.

Fazit: In den Augen der anderen ist ein echter Jodi Picoult. Sorgfältig recherchiert. Sorgfältig dokumentiert. Man kriegt, was man erwartet. Ihre Fans werden es lieben. Ihre Kritiker werden wieder überheblich den Zeigefinger heben, dass man solche Themen doch nicht für reißerische Romane mißbrauchen könne – um damit zu überspielen, dass sie nur kritisieren, aber davor zurückscheuen, sich brisanten Themen fundiert zu nähern.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Die hellen Tage

Neun lange Jahre haben wir gewartet. 2002 wurde Zsuzsa Bank für ihren Debut-Roman “Der Schwimmer” gefeiert und mit Preisen überhäuft. Seit diesem Frühjahr liegt mit den “hellen Tagen” ihr zweiter Roman vor. Von den Lesern geliebt, vom Feuilleton zwiespältig bewertet.

helletage“Die hellen Tage” sind ein Buch über Freundschaft und Liebe, Verrat und Aufopferung, Heimat, über Verlust und brüchige Idyllen. Vor allem aber über die Sehnsucht nach hellen Tagen. Den hellen Tagen, mit denen alles angefangen hat.

Zsuzsa Bank erzählt die Geschichte dreier Familien und die Geschichte einer Lebensfreundschaft. Einer Freundschaft, einst zwischen drei Kindern geschlossen, die sich zum Zeitpunkt der Erzählung nicht erinnern können “an eine Zeit vor dieser Freundschaft, keine Vorstellung davon, wie sie ausgesehen haben könnten, die Tage ohne einander”.
Zsuzsa Bank erzählt von den Tagen miteinander, von dieser Freundschaft, die sie in einem Dreieck hält, aus dem sie sich nie lösen konnten und wollten. Von den Mädchen Siri und Aja, von dem Jungen Karl. Drei, die “lange aneinander gefädelte helle Kindheitstage verlebten, unbelastet von den Verschattungen, die sie doch schon ahnten.”
Sie erzählt von Ajas Mutter, der Seiltänzerin Evi. Evi, die anders war als die anderen Frauen im Dorf Kirchblüt. Deren Haus eigentlich eine Baracke war, aber ein in der Zeit schwebender Ort für die Kinder und ihre Mütter, wo die “Tage hell waren, wenn sie im Schatten der Bäume Grashalme zupften”.
Sie erzählt von Zigi, Ajas Vater, der als Trapezkünstler unter der Zirkuskuppel schwebt und nur wenige Wochen im Jahr präsent ist. Wenige Wochen, in denen sie eine ganz normale Familie sein können, in denen Zigi “mit seinen schiefen Zähnen und dem wirren Haar” Aja und Siri auf seine Schultern setzt und sie lange tragen kann, ohne müde zu werden. Sie erzählt die Geschichte von Evi und Zigi, die einst eine schmale Zeitschleuse nutzten, um über Nacht und ohne Abschied aus ihrem Zirkusleben in Ungarn zu fliehen und ihr Glück in Wanderjahren im freien Westen zu suchen.
Sie erzählt von Karl, dessen Leben von zwei Sekunden bestimmt und unabdingbar getaktet ist. Den zwei Sekunden, die sein Bruder brauchte, um in ein fremdes Auto zu steigen und für immer aus aller Leben zu verschwinden.
Sie erzählt vom gemeinsamen Aufbruch der Freunde nach Rom, der Suche nach einem Ort, an dem es nie schneite, einem Ort voller Licht und Wärme. Von den Fahrten dorthin, die sie andächtig zelebrierten, die Berge hinter sich lassend, den Süden begrüßend. Rom – ein Ort, der in Seris Vergangenheit schon einmal die Rolle der verlorenen Stadt übernahm und in dem sich auch für Seri, Aja und Karl ihre Lebenswege klären und entscheiden werden.
Sie erzählt von der sich entwickelnden Freundschaft der Mütter. Der Mütter, die das Dreieck stützen, die das trotz aller Verluste immer spürbare Glück der drei festhalten, die dafür sorgen, dass ihre Tage hell bleiben können.
Schliesslich erzählt sie die unerwarteten Wendungen in Ajas Leben. Aja, die übers Eis schwebend die Gabe hatte, den Schnee zu spüren, bevor er fiel. Aja, deren Fähigkeit zur Nähe sie eine wunderbare Ärztin werden liess. Aja, deren Idylle sich als die brüchigste erwies und die mehr noch als die anderen beiden das Freundschafts-Dreieck brauchte, um sich im Leben zu halten und den Schatten, die plötzlich über den hellen Tagen lagen, zu widerstehen

Wie in ihrem Debütroman sind auch “die hellen Tage” weitgehend ein Roman übers Erwachsenwerden. Anders ist die Sprache Zsuzsa Banks. Es kündigte sich schon in ihren zwischenzeitlich erschienenen Erzählungen an, die kurzen, klaren Sätze aus dem Schwimmer sind Vergangenheit. Von den hellen Tagen erzählt Zsuzsa Bank elegisch, fast schon poetisch, auf jeden Fall eigentümlich und unvergleichlich. Unwillkürlich fragt man sich, ob man wirklich ein Buch aus unserer Welt, aus unserer Zeit in den Händen hält. Auf jeden Fall ist es ein Buch, welches den Leser lange festhält, ihn nachhaltig begleitet.
Ein bisschen schwebt der Roman, so wie Evi über Seil und Aja übers Eis. Die Handlung wird nicht stringent erzählt, Bruchstücke aus der Vergangenheit verweben sich immer wieder mit der gegenwärtigen Erzählwelt. Zsuzsa Bank widersteht jeder Reflexion. In ihrem Buch gibt es Beziehungen, aber keine Gespräche oder Analysen darüber, es gibt Lebensgeschichten, Wahrheiten und Erkenntnisse, aber keine psychologischen Studien.
Mutig wagt sie sich an Gefühlswelten. Sie weiß, welchen schmalen Grat sie damit betritt. Sie hält ihren Stil und die Balance genau wie Evi auf dem Seil und schafft es – manchmal nur haarscharf – nie die Grenze zum Kitsch zu überschreiten.
Allen Verlusten zum Trotz, allen schmerzlichen Wahrheiten die Stirn bietend, zeugt dieser Roman vom möglichen Glück. Dem Glück, Freunde und Familie zu haben, die einen tragen und auffangen. Die es ermöglichen, die “hellen Tage zu behalten und die dunklen dem Schicksal zurückzugeben.”

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Der Besucher

Schauerroman? Gesellschaftsroman? Psychologische Studie? Die britische Autorin Sarah Waters gibt ihren Lesern einige Rätsel auf. Fest steht am Ende, der Besucher ist ein gut unterhaltender, ganz und gar nicht schauerlicher Schmöker.

Der BesucherHauptschauplatz des Geschehens ist Hundreds Hall, ein jahrhundertealtes, vom Verfall bedrohtes Herrenhaus im englischen Warwickshire. Auf der einen Seite haben wir die zum englischen Landadel gehörende Witwe Mrs. Ayres. Sie residiert mit ihren erwachsenen Kindern Roderick und Caroline auf Hundreds Hall. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg versuchen sie verzweifelt, den verwunschenen Familiensitz vor dem Verfall zu retten und einen einstmals als selbstständlich genommenen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Dr. Faraday. Junggeselle und Landarzt, der sich mühevoll aus dem Arbeitermilieu hochgearbeitet hat. Seine Mutter war einst Kindermädchen bei den Ayres und behütete die unter ungeklärten Umständen um Leben gekommene Erstgeborene. Faraday war schon als Kind fasziniert von der prachtvollen, aber auch mystischen Erscheinung Hundreds Halls. Haus und Bewohner erschienen ihm wie aus einer anderen Welt und begründeten seine lebenslange undefinierte Leidenschaft für Hundreds Hall.
Eines Nachts wird der Arzt zum Herrenhaus gerufen. Er nutzt die Gelegenheit, den Kontakt zur Familie zu begründen. Auch wenn sie aus unterschiedlichen Schichten stammen, eine entscheidende Gemeinsamkeit haben Faraday und die Familie. Sie alle suchen ihren Platz in der veränderten Gesellschaft des Nachkriegsenglands. Dr. Faraday wird bald zum Vertrauten der Familie, fühlt sich zugehörig und übernimmt – teils ungebeten – Verantwortung für Hundreds Hall und seine Bewohner. Schon bald erfährt er von seltsamen, unerklärlichen Vorgängen. Es beginnt mit sich verschiebenden Gegenständen und Möbeln, kryptischen Zeichen, die plötzlich an den Wänden auftauchen und unerklärlichen bedrohlichen Geräuschen im Haus und endet schliesslich in Bränden, versuchten und gelungenen Selbstmorden. Der Mann der Wissenschaft versucht, immer wieder natürliche Erklärungen zu finden und drängt die Familie zu unglücklichen Konsequenzen. Der Sohn wird in die Obhut eines Irrenhauses gegeben, doch es hilft alles nichts. Die Schicksalsfäden der Familie sind gezogen und umspannen die Familienmitglieder sowie den Herrn Doktor einen nach dem anderen unerbittlich und ausweglos.

Sarah Waters ist eine preisgekrönte britische Schriftstellerin, die vor dem Besucher vor allem mit Büchern aus dem lesbischen Milieu Aufmerksamkeit erregte. Mit dem nun vorliegenden Roman, erst der zweite ins Deutsche übersetzte, wagt sie sich erstmals in Mystery Gefilde. Sie erzählt die Geschichte gekonnt, ihre flüssige Sprache verdichtet die Ereignisse und bringt dem Leser so die gesellschaftlichen Umstände jener Zeit nahe. Sie lässt sich Zeit, beschreibt detailverliebt die Schauplätze und charakterisiert ihre Protagonisten psychologisch fundiert. Zugegeben, der Spannungsbogen leidet darunter. Das dürfte aber nur denjenigen stören, der einen Horror-Roman in schnellem Tempo erwartet. Meinem Empfinden nach hebt genau dies den Besucher über das Level einer reißerischen Horrorgeschichte hinaus und bestärkt meine Vermutung, dass die Intention der Autorin eher ein Gesellschaftsroman war. Ein Roman, der die Elemente des Schauerromans verstärkend nutzt, um die Geschichte eines schauerlichen Untergangs zu erzählen.

Ich habe mich gut unterhalten, auf mehr als 500 Seiten fein geschmökert und mich anschließend beim Lesen diverser Buchbesprechungen im Netz bestens amüsiert. Da waren sie wieder alle. Die sofort schreien, wenn Fragen offen und Lösungen ungeklärt bleiben. War es nun a) Wahn oder doch b) ein Poltergeist? Es wird diskutiert, man erregt sich, die Diskussion verselbstständigt sich und übersieht das, was wirklich geschrieben steht. Ohne allzu viel verraten zu wollen, weise ich zum einen dezent daraufhin, dass dieses Buch einen Titel hat und dieser Titel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zufällig gewählt wurde. Des weiteren verweise ich auf das Gespräch zwischen Dr.Faraday und dem Kollegen Seeley über die Theorie des Kräfte freisetzenden Traum-Ichs und schlussendlich auf die Traumsequenz Faradays (übrigens der Name!! Nachtigall und so…. ) in der letzten Katastrophennacht sowie seine epischen selbstberuhigenden Rechtfertigungen zum Ende des Romans! Bleibt als offene Frage, ob Mrs.Waters sich nicht heimlich auf ihrer Insel amüsiert, weil keiner Lösung C diskutiert ?

Mein Fazit: Mit dem Besucher begibt man sich auf eine schaurig schöne Reise. Ein Schmöker, wie gemacht für lange Winterabende, aber auch durchaus okay für faule Urlaubstage.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Elf Leben

MarkWatson
“Überschätzen die Leute, was sie verändern können oder unterschätzen sie es?” Um diese zentrale Frage menschlichen Daseins dreht sich ein kluges, überraschendes Buch des Briten Mark Watson. Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Sturm entfachen oder jeder kennt jeden um höchstens 6 Ecken. Diese Theorien sind nicht neu, Wissenschaftller aller Couleur und sogar soziale Netzwerke wie Xing mühen sich, den Beweis dafür zu erbringen. Neu ist, dass ein Autor den Versuch wagt, sich dieser Theorien literarisch anzunehmen. Mit Elf Leben ist Mark Watson mehr als das gelungen.

Xavier Ireland ist der Domian Großbritanniens. Moderator einer nächtlichen Radiosendung, in der Menschen anrufen, die schlaflos in London ihre Geschichten wälzen und sich von Xavier die Lösung ihrer Probleme auf einem Silbertablett erhoffen. Xavier hört ihnen zu, agiert jedoch mehr am Rande dieser Geschichten. Wohl gibt er Hilfestellung, aber er mischt sich nicht ein. Der Leser vermutet schnell, dass dies mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat. Wenig gibt er von sich preis. Gerade soviel, dass man weiß, Xavier ist in Australien aufgewachsen, er hatte dort Freunde und eine große Liebe – um von einem auf dem anderen Tag wegzugehen und auf einem fernen Kontinent unter neuem Namen ein neues Leben zu beginnen, als eben jener Radiomoderator. Erst die Begegnung mit der exzentrischen, vor Leben sprudelnden Pippa, die trotz ihres eigenen Schicksals nie aufhören kann, sich einzumischen, die Xavier zunächst nur widerstrebend als Putzfrau in sein Leben lässt – erst diese Begegnung und die aufkeimende Liebe brngt ihn dazu, sich seinem Leben und seiner Vergangenheit zu stellen. Eine Entscheidung herbeizuführen, was er mit seinem Leben wirklich anzufangen (ver)mag. Soweit der vordergründige Plot. Im Hintergrund kreuzen sich zehn weitere Lebenswege. Mit Xavier sind dies die titelgebenden elf Leben, deren Schicksale unausweichlich miteinander verbunden sind. Sie werden sich nie begegnen, nie voneinander erfahren, aber das Handeln Xaviers, besser gesagt, sein Nicht-Handeln bleibt nicht ohne Einfluss auf die Schicksale dieser Menschen und sein eigenes.

Die eingangs gestellte Frage beantwortet diese Buch mit einem klaren “Du kannst das Leben von jemand ändern, ohne es überhaupt zu wissen. Es ist viel einfacher, Dinge zu wissen, als sie zu beherrschen..” Im Roman werden die elf Schicksalsfäden zusammengeführt, es schliesst sich ein Kreis. Anders und bestürzender als gedacht und erhofft. Dem Leser bleibt die Hoffnung, dass das Leben “Begnadigungen in letzter Minute” gewährt und der Kreis ein Schlupfloch lässt.

Elf Leben ist ein kluges, tief beeindruckendes und lange nachwirkendes Buch. Anspruchsvoll ob der vielen sich kreuzenden Geschichten und handelnden Personen schafft der Autor den Spagat zwischen Leichtigkeit und Tiefsinn. Den Leser stößt er in ein Wechselbad der Gefühle – charmante, feinfühlige Momente und scharfsinnige Beobachtungen lassen ihn lächeln und Tränen blinzeln zugleich. Er gibt ihm keine Lösungen mit auf dem Weg, aber viele Denkanstöße. Mark Watson schreibt, als wäre ihm die Geschichte mit Leichtigkeit aus der Feder geflossen, als hätte er nur notiert, was das Leben ihm diktierte. Nicht wenige Kritiker zogen den Vergleich zu Nick Hornby, ich finde ihn zu bemüht. Hornbys Geschichten sind wie aus einem Guß, ein melancholischer Unterton schwingt immer mit. Bei Mark Watson ändert sich der Ton, als er beginnt, die Tragödie des Xavier Ireland zu erzählen und trotz der Dimensionen dieser Ereignisse und dem überraschenden Ende verliert das Buch nie seinen optimistischen Unterton. Watson findet eine eigene Sprache für seine Geschichte, lakonisch und stilvoll zugleich. Manche Sätze sind so leicht, aber pointiert, dass man erst locker über sie hinweg liest, um nach einem kurzen Innehalten nachdenklich und tief berührt zu ihnen zurückzukehren. Lange wiegt er den Leser in falscher Sicherheit. Vom leichten Ton der ersten Hälfte getragen, war ich mir ziemlich sicher, welcher Art das große Geheimnis ist, welches Xavier umgibt. Aber – selten so daneben gelegen. Die zugrunde liegende Tragödie ist alles andere als lapidar, sie ist vielmehr in der Tat ein Grund dafür, dass ein Mann so aus der Welt fallen kann wie unsere Hauptfigur. Zusätzlich stockt dem Leser irritiert der Atem, wenn Watson den Kunstgriff anwendet, by the way der Zukunft vorzugreifen. So endet eine entscheidende Begegnung mit der simplen Feststellung “Sie gaben sich die Hand. Zwei Männer, die sich nie mehr wiedersehen werden”. So, als ob doch schon alles vorherbestimmt und auch durch Einmischen nicht mehr zu ändern wäre. Ebenso überraschend endet der Roman nicht an der Stelle, wo der Leser es erwartet hätte. Watson schreibt es auch noch ganz deutlich “Hier könnte die Geschichte enden”. Doch das tut sie nicht. Genauso ist das Leben eben nicht. Es ist nicht wie die Scrabble-Turniere, mit denen Xavier seine Sonntagnachmittage verbringt.

Mein Fazit: Den Wert der Buchstaben in Elf Leben hat Watson definitiv mehr als verdoppelt. Ich empfehle dieses sehr besondere Buch – selten genug – uneingeschränkt.

Der Autor: Mark Watson ist ein in England sehr beliebter Romanautor, Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator und Stand-Up Comedian. Studierter Literaturwissenschaftler und Umweltaktivist, ausserdem als Blogger noch einer von uns. Elf Leben ist sein erstes in Deutsche übersetze Buch. Ich für meinen Teil hoffe inständig auf weitere.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Eichborn Verlag