Der Geliebte der Mutter

widmer-2Requiem für eine besessene Frau

Im umfangreichen und vielseitigen Œuvre des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer ist die fiktionale Biografie «Der Geliebte der Mutter» erster Teil einer Trilogie, zu der auch «Das Buch des Vaters» und «Ein Leben als Zwerg» gehören, die allesamt zu seinen größten Erfolgen gerechnet werden. Es ist der Roman einer an Hörigkeit grenzenden, tragischen Leidenschaft der Mutter des Ich-Erzählers für einen berühmten Orchesterchef, der von manchen auch als Schlüsselroman für die reale Person des Dirigenten Paul Sacher gedeutet wird.

Als Klammer für den kurzen Roman dient der Tod des Dirigenten. «Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben» lautet der erste Satz. Es folgt die Geschichte zweier Protagonisten, der kometenhafte Aufstieg des mittellosen, begabten jungen Edwin zum weltweit gefeierten Pultstar für moderne Musik, und parallel dazu und schicksalhaft damit verbunden der Niedergang der schönen und reichen Fabrikantentochter Clara, die verarmt in der Psychiatrie endet. Selbstlos hat sie die Karriere des von ihr grenzenlos geliebten Mannes gefördert, ihm bei der Gründung seines schnell prosperierenden jungen Orchesters geholfen. Eine unentgeltliche Tätigkeit als Mädchen für Alles, die von ihm aber niemals gebührend gewürdigt wird, er beachtet sie kaum, erwidert ihre Liebe nicht. Auf einer Konzertreise wird sie schließlich seine Geliebte, auch dies für ihn eher nebensächlich, ein unbedeutendes Techtelmechtel, mehr nicht. Als sie schwanger wird, verlangt er ganz selbstverständlich die Abtreibung. Beim Börsencrash 1929 verliert sie ihr ganzes Vermögen und muss fortan in ärmsten Verhältnissen leben, Edwin aber heiratet die reiche Erbin eines florierenden Unternehmens und wird der reichste Mann der Schweiz. Auch Clara heiratet irgendwann einen namenlos bleibenden und auch nicht weiter in Erscheinung tretenden Mann, wobei offen bleibt, ob er der Vater des Ich-Erzählers ist.

Wir haben es hier mit einer Art literarischem Requiem für eine liebeskranke Mutter zu tun, deren Besessenheit tragisch enden muss, deren stilles Aufbegehren in einem hilflosen «Ich kann nicht mehr» endet. Widmer schildert in einer angenehm dichten, leichtfüßigen Sprache den Lebensweg seiner beiden Figuren, verfolgt Claras italienische Herkunft bis zurück zu deren Urahnen. In einer urkomischen Szene wird ein Besuch des Duce auf dem Weingut der Familie geschildert. Hinreißend auch spiegelt der Autor in einem kurzen erzählerischen Wechselspiel das bescheidene Leben Claras in ihrem fast autarken Haushalt vor der Kulisse des Zweiten Weltkriegs: «So lebte sie. Hitler griff Russland an, und die Mutter setzte Zwiebeln. Hitler belagerte Moskau. Die Mutter riss Rüben aus. Rommels Panzer jagten die Panzer Montgomerys durch die Sahara. Die Mutter stand im Rauch eines Feuers, das alten Ästen den Garaus machte». In einem amüsanten Einschub wird von Claras Wiedersehen mit Edwins Freund erzählt, der auf einer Reise durch die Südsee vom Krieg überrascht wurde und in Bali gestrandet ist, wo er kurz entschlossen eine Inselschönheit heiratete. Clara trifft die Beiden nach dem Krieg ganz profan am Wäschestand in einem Kaufhaus.

«Die Geschichte ist erzählt» heißt es am Ende. Der nun plötzlich leibhaftig auftretende Ich-Erzähler trifft im Museum den greisen Dirigenten. Auf seine Frage: «Warum haben Sie Clara gezwungen, ihr Kind abzutreiben» entgegnet Edwin: «Ich zwinge keine Frauen zu nichts. Nie. Ich habe vier Kinder». Er leugnet jede Verantwortung: «Wenn Ihre Geschichte stimmen würde», rief er kichernd, «da wären Sie ja mein Sohn», und verschwand. In einer TV-Sondersendung zum Ableben Edwins schließlich sah der Sohn Archivmaterial aus dessen Leben, und bei einem Schwenk ins Publikum, in der Mitte des Balkons, «einen Schatten, der meine Mutter sein mochte». Diese berührende Geschichte ist nüchtern und zielgerichtet, ohne jedes Pathos erzählt, sie wirkt gerade dadurch besonders lange nach. Ganz ohne Zweifel ein rundum gelungener Roman!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

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