Die Liebesblödigkeit

Wilhelm Genazinos Held ist ein freischaffender Zivilisations-Apokalyptiker, der mehr schlecht als recht von Verträgen, Kolloquien, Tagungen und gelegentlichen Essays in Fachzeitschriften lebt. Dafür ist er reich mit den Segnungen der Liebe ausgestattet: Der 52jährige unterhält intensive und langjährige Verhältnisse zu zwei höchst unterschiedlichen Frauen. Dabei handelt es sich um die gescheiterte Konzertpianistin Judith sowie die Büroangestellte Sandra, die sich plötzlich der Hobbymalerei zuwendet.

Die dauerhafte Liebe zu diesen beiden schenkt ihm nach eigenem Dafürhalten eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Er hält die Liebe zu zwei Frauen weder für obszön noch gemein oder besonders triebhaft. Sie ist ihm vielmehr eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Dem Ich-Erzähler ist jedenfalls das Bewusstsein dafür, dass sein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. So wünscht er allen Männern zwei Frauen und allen Frauen zwei Männer, wenigstens phasenweise, denn das sei die Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können, ohne uns gleich dem Gesetz der Kargheit auszuliefern.

Sein eigenes Leben ist trotz dieser Üppigkeit von keimenden Krankheiten, diversen Zipperlein und einem spürbaren Alterungsprozess bestimmt. Er beobachtet Krampfadern und das Zucken eines Augenlids und erlebt das schleichende Nachlassen seiner Manneskraft. Das alles serviert ihm einen guten Schuss Todesangst. Außerdem fürchtet er, aufzufliegen. Was soll werden, wenn er plötzlich ins Krankenhaus muss und beide Damen prallen aufeinander?

Auf einem seiner Apokalypse-Seminare in den Schweizer Bergen reift sein Entschluss, sich von einer der beiden Beziehungen zu verabschieden. Aber von welcher der höchst unterschiedlichen Damen soll er sich trennen, oder soll er sich sowohl von Judith wie auch von Sandra lösen und es dann noch einmal völlig neu versuchen? Beim Abwägen der Vor- und Nachteile verfällt der Prediger des Weltuntergangs zunehmend in einen von ihm als Liebesblödigkeit bezeichneten Zustand. Tatsächlich rutscht er in eine Depression, die ihm jede Entscheidungskraft raubt. Er kriecht immer stärker in sein Schneckenhaus und kommt vollends ins Schwimmen, als er auf seine Ex-Frau Bettina trifft, der er lieber aus dem Weg gehen möchte.

Er spürt seine Feigheit, empfindet sich als Versager und erlebt sich als ein Katastrophenbefallener. Auch sein Umfeld, der Postfeind Bausback, der Panik-Berater Dr. Ostwald, Herr Mannschott, der Alkohol-Sekretär der Turbinenfabrik Schnellinger, der Empörungs-Beauftragte Morgenthaler und Dr. Blaul, der als Ekelreferent tätig ist, helfen ihm wenig bei der Lösung des Problems. Sie sind selbst alle Verlorene, merkwürdige Gestalten am Wegesrand, die einfach nur komisch wirken.

Nun erwartet der Leser, der dem Geschehen folgt, wohl eine Lösung oder eine jähe Wendung. Ob die Damen zu guter Letzt vielleicht sogar ihren langjährigen Freund und Liebhaber verlassen, ob er selbst eine Entscheidung fällt und sich vielleicht in ein hübsches junges Ding verliebt, das seinen Weg kreuzt? Geübte Genazino-Leser ahnen jedoch, dass sich der Fortgang der Handlung auflöst in einer Reflektion über Todesangst wie über das Todesangsttheater, das seinen Helden verwirrt. Wie immer bei diesem Autor ist der Roman relativ handlungsarm und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, spannend bis zur letzten Zeile.

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Genre: Romane
Illustrated by dtv München

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