Schloß Gripsholm

tucholsky-1Ich dichte erst ab 12 %

Es gibt nur wenige Schriftsteller, die derart vielseitig geschrieben haben wie Kurt Tucholsky, der als kritischer und weitsichtiger politischer Journalist ebenso erfolgreich war wie als Publizist, Kritiker für Literatur, Film und Musik, als Kabarettautor, Lyriker und nicht zuletzt als Satiriker. Schloß Gripsholm, sein 1931 erstmals erschienener, berühmter «Sommerroman» wurde ein großer Publikumserfolg, er gehört zu den heiteren Erzählungen, die ihm hier nach anfänglichem Sträuben letztendlich doch locker und leicht aus der Feder geflossen ist. Der Erfolg beim Publikum war entsprechend, es folgten immer wieder neue Auflagen. Der notorische Schürzenjäger Tucholsky berichtet von einem Liebesurlaub mit seiner Freundin in Schweden, dessen immer nur ganz dezent angedeutete erotische Komponente der Geschichte eine gewisse Würze verleiht. In einer Art Vorspiel zum Roman ist ein fiktiver Briefwechsel des Autors mit seinem Verleger Ernst Rowohlt abgedruckt, der ihn auffordert, doch mal eine «kleine Liebesgeschichte» zu schreiben. Im Antwortbrief auf die Prozentzahl an Rezensionsexemplare angesprochen bietet ihm Rowohlt 14% an, was der Autor ablehnt: «Bei 14% fällt mir bestimmt nichts ein – ich dichte erst ab 12%.»

«Sie hatte eine Altstimme und hieß Lydia» heißt es im ersten Satz von der Sekretärin, die mit dem Ich-Erzähler Peter ein unkonventionelles Liebespaar bildet, das für fünf Wochen nach Schweden reist, um dort die Seele baumeln zu lassen, sich gründlich zu erholen. Lydia ist gleichzeitig guter Kumpel und engelsgleiche Geliebte für Peter, der sie zumeist «Prinzessin» nennt und unsterblich verliebt ist in sie. Als er sie kennenlernte als balzender Mann, «beleuchtete ich alle Schaufenster meines Herzens. Und dann sprachen wir von der Liebe. Das ist wie bei einer bayerischen Rauferei – die raufen auch erst mit Worten.» Ihr Ferienquartier wird nun Schloß Gripsholm, wo sie in einem Anbau fern von den Touristen genau das finden, was sie suchen: Nichtstun, Faulsein, heiter verliebt die Natur genießen. Der Besuch von Karlchen, einem guten Freund von Peter, unterbricht ihre Idylle für einige Tage, danach taucht plötzlich auch Billy auf, Lydias beste Freundin, die sich von ihrem Liebhaber getrennt hat.

Bei einem ihrer Streifzüge durch die Gegend treffen die Prinzessin und Peter auf Ada, ein kleines, offensichtlich tief verstörtes Mädchen, das in einem Kinderheim lebt und dort von der tyrannischen Leiterin gequält wird. Es gelingt ihnen, die in der Schweiz lebende Mutter davon zu überzeugen, das Kind zu sich zurückzuholen. Dieser zweite Handlungsfaden rückt die Realität wieder etwas mehr in den Vordergrund, brutale Gewalt der Herrschenden den hilflos Unterdrückten gegenüber beschwört bei Peter den Albtraum eines Gladiatorenkampfes herauf, bei dem nichts als die nackte Gewalt regiert. Eine Idylle wie die im Schloß Gripsholm ist also nur auf Zeit vorstellbar, eine ernüchternde Erkenntnis für die beiden Turteltauben. Nach gemeinsamem Kreuzworträtselraten mit Billy kommt es am Ende zu einer Liebesnacht zu dritt, ganz unkonventionell genießen die Urlauber die Unbeschwertheit ihrer schönen Ferientage.

Tucholsky schreibt witzig, verschmitzt, lakonisch, geistreich, weitsichtig. Er benutzt, Gott sei Dank nur im kurzen Abschnitten, plattdeutsch und andere Idiome, was einerseits erheiternd ist, andererseits aber auch den Lesefluss erheblich stört. Sein kreativer Schreibstil ist durch überraschende Wortschöpfungen und verblüffende Gedankengänge geprägt, die satirische Komponente seiner Erzählung wird durch kluge Reflexionen ergänzt. Bei alldem schwingt unübersehbar im Hintergrund oft auch eine gewisse Melancholie mit, die vielbeschworene leichte Sommergeschichte ist jedenfalls nicht ganz so unbeschwert, wie sie vielen Lesern erscheint. Insoweit ist Schloß Gripsholm ein lesenswertes Buch, das oft unterschätzt wird und weit mehr Tiefgang bietet als eine typische Liebesgeschichte das jemals kann.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

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