Die Wasserfälle von Slunj

Der Poet als gottgleicher Schöpfer

Sein bekanntestes Werk ist «Die Strudelhofstiege», sein Opus magnum «Die Dämonen», sein bester Roman jedoch sei, wie manche meinen, «Die Wasserfälle von Slunj». Auf jeden Fall aber gehört Heimito von Doderer zu den bedeutendsten Schriftstellern des Zwanzigsten Jahrhunderts. Er befindet sich mit seinem Bestreben nach einer möglichst allumfassenden Erzählweise vom narrativen Ansatz her durchaus auf Augenhöhe mit «Großschriftstellern» wie Thomas Mann oder Marcel Proust. Und ähnlich wie bei Fontane, dem Chronisten des Preußentums, kann man in Doderers Romanen wunderbar in vergangene Zeiten zurückreisen, hier in die bereits dem Untergang geweihte k. u. k. Doppelmonarchie. Das vorliegende, breit angelegte Epos ist als erster Roman einer geplanten Tetralogie 1963 erschienen, der zweite Roman erschien posthum und unvollendet. Anders als sein berühmter österreichischer Kollege Robert Musil aber ist der wegen seiner diversen Exzesse eher unsympathische, moralisch und politisch umstrittene Autor den deutschen Lesern weitgehend unbekannt geblieben. Schade eigentlich!

Der Roman beginnt mit der Hochzeitsreise von Robert Clayton, die ihn 1877 zu den imposanten Wasserfällen von Slunj führt. Er ist der Sohn eines britischen Industriellen, der in Wien ein Zweigwerk eröffnet. Aus dieser Ehe nun geht der Sohn Donald hervor, der nach dem Studium als Ingenieur in die österreichische Dependance eintritt. Für das Kaufmännische wird der eher unscheinbare Buchhalter Chwostik eingestellt, der in bescheidensten Verhältnissen lebt und zwei Untermieterinnen hat. Fini und Feverl betreiben in zwei kleinen Zimmern seiner Wohnung ihr Gewerbe als Prostituierte. Er selbst erweist sich als wahrer Glücksfall für die Firma und steigt zum Prokuristen auf. Die beiden Vorstadt-Huren retten beim Baden ein Kind und gehen aufs Land zurück, als ihnen die dankbare Mutter eine gutbezahlte Stellung auf einem ungarischen Gutshof verschafft. Der missratene Stiefsohn von Chwostiks Hausmeisterin landet glücklich als Postmeister in Kroatien, in der Schule bilden vier Schüler aus dem gehobenen Bürgertum den «Club Metternich» zur intensiven Vorbereitung auf die Matura, eine toughe Ingenieurin Mitte dreißig wirbelt die Männer gehörig auf und verändert nachhaltig das Leben von Clayton Senior und Clayton Junior, ihre verheiratete Freundin schließlich vernascht – in einer Reifeprüfung der besonderen Art – frohgemut einen der Jungs vom Club Metternich.

Mit seiner üppigen, anschaulich geschilderten Figurenschar aus Prekariat und Bürgertum zeichnet Heimito von Doderer ein drei Generationen umfassendes Kaleidoskop der Habsburger Monarchie. Dabei treffen die verschiedenen, ineinander verschlungenen Handlungsfäden immer wieder bei den Claytons zusammen, die titelgebenden Wasserfälle bilden eine narrative Klammer um das Ganze. Stilistisch elegant, in einer aus heutiger Sicht altösterreichisch wirkenden, der historischen Erzählzeit geschuldeten Diktion, breitet der Autor humorvoll plaudernd seine klug durchdachten Geschichten in prächtigen, farbenfrohen Bildern vor dem Leser aus.

Bei aller Ironie ist dem Plot jedoch eine beachtliche psychische Tiefe zueigen, die in vielen treffenden Metaphern zum Ausdruck kommt. Clayton Junior scheitert als erfolgreicher Ingenieur im Privatleben jämmerlich, er ist emotional geradezu verkrüppelt, sein verwitweter Vater sticht ihn mühelos aus bei der schönen Ingenieurin, in die Donald verliebt ist, wie er viel zu spät erst erkennt, – «man möchte ihm in den Hintern treten», schreibt der Autor dazu. Als Leser schaut man ihm zuweilen über die Schulter, so wenn er Figuren aus seinem Roman «herausschmeißt» wie Fini und Feverl. Leutselig erklärt er: «… und damit kommt der Augenblick, […] wo der Romanschreiber nicht an die Eigengesetzlichkeit seiner Figuren gebunden bleibt, sondern zuletzt noch mit diesen machen darf was er will», – der willkürlich agierende Poet also als gottgleicher Schöpfer seiner ganz eigenen Welt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Winterbienen

Danksagung als raffinierte Ergänzung

In «Winterbienen», dem neuen Roman des als Eifeldichter apostrophierten Schriftstellers Norbert Scheuer, ist erneut jenes nützliche Insekt titelgebend, das vor zwei Jahren schon mal für Aufsehen gesorgt hat. Der in die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises gewählte Roman hat also womöglich Chancen, an den Riesenerfolg des Erstlings «Die Geschichte der Bienen» von Maja Lunde anzuknüpfen, dem 2017 in Deutschland meistverkauften Roman. Gemeinsam ist beiden Romanen, dass in den ineinander verschachtelten Handlungsebenen jeweils Bienen die Thematik bestimmen, an ihnen spiegelt sich das eigentliche Geschehen.

Der vorliegende Roman ist das Tagebuch eines frühpensionierten Gymnasial-Lehrers aus der kleinen Eifelgemeinde Kall, dessen Aufzeichnungen am 3. Januar 1944 mit dem Absturz eines amerikanischen Kampfbombers beginnen. Egidius Arimond ist wegen seiner Epilepsie vom Kriegsdienst befreit und widmet sich als passionierter Imker intensiv der Erforschung dieser Insekten. Er lebt bescheiden von seiner Bienenzucht, zusätzlich benötigt er viel Geld für Medikamente, die er bei seinen epileptischen Anfällen dringend braucht. Der Nazistaat kommt nach dem Verdikt vom «lebensunwerten Leben» nämlich nicht mehr dafür auf, er wurde nach den absurden Vorstellungen der «Rassenhygiene» sogar zwangssterilisiert und fürchtet, irgendwann auch noch der Euthanasie zum Opfer zu fallen. In ganz konkreter Lebensgefahr befindet er sich aber, weil er mit Hilfe seiner Bienenstöcke Flüchtlinge gegen Bezahlung über die Grenze nach Belgien schleust. Nicht ganz uneigennützig also, denn die Preise für die rezeptpflichtigen Medikamente, für die er ja kein Rezept bekommt, werden vom erpresserischen Apotheker des Ortes ständig angehoben, irgendwann gibt es sie dann kriegsbedingt gar nicht mehr.

Der Tagbuchschreiber hat einige Liebschaften mit Frauen aus der Gemeinde, deren Männer im Krieg sind, und er begibt sich schließlich sogar in Lebensgefahr, als er sich ausgerechnet in die Ehefrau des Kreisleiters der NSDAP verkuckt. Ein Goldfasan also, wie der Volksmund diese Parteibonzen wegen ihrer Uniformen nannte, und dessen Frau wiederum beginnt tatsächlich ein Verhältnis mit ihm. Unter der Überschrift «Fragment» werden abwechselnd acht Notizen von Ambrosius Arimond, einem frühen Vorfahren des Tagebuchschreibers aus dem Jahre 1489, in diese Erzählung eingeschoben. Sie stammen aus einer nachgelassenen Klosterbibliothek, die Egidius im Archiv des Ortes entdeckt und mühsam übersetzt hat. Der Benediktiner-Mönch berichtet darin von einer desaströsen Alpenüberquerung, die er in jungen Jahren miterlebt hat. Später war er ebenfalls als Bienenforscher aktiv und hat eine widerstandsfähigere südliche Bienenart in der Eifel angesiedelt.

Bemerkenswert ist, wie souverän der Autor in Tagebuchform seine Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive einer abgeschiedenen Ortschaft schildert. Dabei verknüpft er geschickt das wohlgeordnete Leben seiner Bienenvölker mit dem chaotischen Kriegsgeschehen, er beobachtet ebenso kenntnisreich die Flüge seiner Bienen wie das Getümmel der Bomber und Jäger am Himmel. Es gibt keinen wirklichen Helden in diesem Roman, die eher ambivalente Hauptfigur wirkt gerade durch das nicht Heldenhafte aber sehr glaubwürdig. Erzählt wird ganz unreflektiert, eher beiläufig, nüchtern und unaufgeregt. Der Krieg ist vorbei, als Egidius beim Einfangen eines Bienenschwarms plötzlich merkt, dass er mitten in einem Mienenfeld steht, lapidar lautet der letzte Satz: «Erstarrt blieb er stehen». In einer längeren Danksagung versteckt berichtet der Autor, wie ihm die vor Jahrzehnten in einem Bienenstock aufgefundenen Tagebücher und Dokumente eines gewissen Egidius Arimond übergeben wurden, aus denen sein Roman im Wesentlichen bestehe. Eine raffinierte Herausgeber-Fiktion also, durch die man dann auch noch erfährt, was nach dem letzten Satz des Romans passiert ist. So spannend kann eine Danksagung sein!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Traum von China

Satirische Dystopie

Der neue Roman des chinesischen Schriftstellers und Dissidenten Ma Jian trägt seinen Titel «Traum von China» nach einer Losung von Xi Jinping, dem Präsidenten des asiatischen Riesenreichs, die sogar offiziell Eingang in die Verfassung gefunden hat. Sie zielt darauf ab, den «Schlafenden Löwen» China zur Weltmacht aufsteigen zu lassen und letztendlich auch die kommunistische Weltherrschaft zu erringen. Der seit zwanzig Jahren in London lebende und als berühmtester Exilautor seines Landes geltende Ma Jian wird als literarisches Pendant zu Ai Weiwei bezeichnet, dem weltbekannten Konzeptkünstler. Der hatte ihm bei einer Begegnung freundlich angeboten, das Cover für sein neues Buch zu gestaltet, – welche Ehre für Autor und Buch! Mit der Widmung «Für George Orwell, der alles vorausgesagt hat» wird deutlich darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine Dystopie handelt, – also eher Albtraum als Traum! Aber keine Sorge, auf den Leser wartet keine niederschmetternde Schreckensvision, es handelt sich um eine köstliche Satire bei diesem Roman, es gibt bei allem Horror also auch viel zu schmunzeln.

«In dem Moment, da Ma Daode, der Direktor des neugeschaffenen Traum-von-China-Amts, aus seinem Schlummer erwacht, stellt er fest, dass sein jugendliches Ich, von dem er eben noch geträumt hat, nicht verschwunden ist, sondern direkt vor ihm steht». In diesem ersten Satz steckt bereits die Problematik dieses Mannes, denn er hat für nichts weniger als dafür zu sorgen, dass ein kollektives Gedächtnis das individuelle jedes einzelnen Chinesen ersetzt. Eine schwierige Aufgabe, wie er an seinen eigenen Gedanken merkt. Denn die holen ihn aus seiner privilegierten Gegenwart als hoher Beamter mit repräsentativem Büro, zu dem auch ein Schlafzimmer mit Privatbad gehört, immer wieder ungewollt in die Vergangenheit zurück. Sie erinnern ihn an die Gräuel der von Mao Tse-tung ausgelösten Kulturrevolution. Er gehörte damals zu den Roten Brigaden, die Schrecken und Terror verbreitet haben, mit unzähligen Toten. Schon damals ging es darum, einen neuen Menschen zu schaffen, nun soll, mehr als vier Jahrzehnte später, durch die Traum-von-China-Bewegung die Vergangenheit komplett verdrängt werden, um das neue China zu schaffen. Dazu sind von seinem Amt viele verschiedene Maßnahmen geplant, erläutert Ma Daode in einer Sitzung der beteiligten Behörden, «… außerdem werden wir mit der Arbeit an einem Neuroimplantat beginnen, dem sogenannten Traum-von-China-Chip, der die privaten Träume der Menschen durch den kollektiven Traum von China ersetzen wird».

Der Plot des Romans schildert vordergründig die bevorstehende Räumung eines armseligen Dorfes, das als Bauland benötigt wird für eine Industrieansiedlung. Die Bewohner kämpfen mit allen Mitteln dagegen an, auch der Leiter des Traum-von-China-Amts vermag sie nicht von einer besseren Zukunft zu überzeugen. Viel Raum im Roman nimmt außerdem das ausufernde Liebesleben des Protagonisten ein, er hat unzählige Geliebte, die er demnächst auf zehn zu begrenzen gedenkt, eventuell sogar nur auf fünf, – der besseren Übersicht wegen. Das Narrativ wird durch häufige Rückblenden beherrscht, welche, als Bewusstseinsstrom erzählt, die Gedankenwelt von Ma Daode abbilden, mit den Schwerpunkten Politik und Weiber. Sprachlich dürfte die zweifache Übersetzung Chinesisch-Englisch-Deutsch dem Roman allerdings geschadet haben, brillant geschrieben ist er jedenfalls nicht.

Mit dem Mittel des schwarzen Humors prangert der Autor sarkastisch den Überwachungsstaat in seiner Heimat an, der seine Ziele mit methodischer Desinformation und brutaler Unterdrückung Andersdenkender zu erreichen sucht. «Ein Volk, das sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verurteilt, sie erneut durchleben zu müssen», hat George Santayana dazu geschrieben. Daran wird auch das kommunistische China letztendlich scheitern, dieser zwischen viel Realität und sparsam eingesetzter Dytopie angesiedelte Roman gibt einen Vorgeschmack darauf.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Gestern war Heute

Vom Dilemma femininer Selbstverwirklichung

Der autobiografische Roman «Gestern war heute» mit dem Untertitel «Hundert Jahre Gegenwart» ist das bekannteste und erfolgreichste Buch der Schriftstellerin Ingeborg Drewitz. Ihr soziales Engagement steht auch hier wieder im Fokus, über drei Generationen hinweg gespiegelt am Schicksal einer Frau, deren Suche nach ihrer Identität an der Verlassenheit und Kontaktarmut der Mitmenschen scheitert, auch und vor allem in der engsten Familie. Die Autorin war Mitglied in den verschiedensten literarischen Verbänden, Jurymitglied in Klagenfurt, sie hat sich aber auch politisch zum Beispiel als Jurorin des 3. Russell-Tribunals in Frankfurt oder bei ‹amnesty international› engagiert.

Gabriele M. heißt die Protagonistin, über deren Leben – angefangen von der Geburt im Inflationsjahr 1923 bis hin zum Jahre 1978 – hier berichtet wird, wobei Rückblenden in die Familiengeschichte bis zum Deutsch-Französischen Krieg zurückreichen. Auch die Bismarckschen Sozialistengesetze und die dadurch ausgelösten Verfolgungen spielen eine Rolle, vor allem aber wird leitmotivisch immer wieder auf den Petersburger Blutsonntag zurückgeblendet als ein politisches Menetekel, das in ihre eigene Geschichte hineinwirkt. Ein Familienepos mithin, in dessen Mittelpunkt die physischen und psychischen Probleme weiblicher Emanzipation stehen unter dem äußeren Einfluss politischer Ereignisse. Dazu gehören natürlich der Erste Weltkrieg, die politisch instabile Weimarer Republik, der Albtraum der Nazidiktatur, die Teilung Deutschlands, der gescheiterte Aufstand in der DDR, schließlich Mauerbau und die Zeit der aufmüpfigen 68er-Bewegung in der Bundesrepublik. Die Väter in dieser Geschichte sind allesamt politisch schwache, ambivalente Figuren, die sich opportunistisch am liebsten aus allem raushalten, während die Frauen sich beherzter engagieren.

Die Suche der Heldin Gabriele nach Selbstverwirklichung, nach dem ‹Ich›, bleibt durch kriegsbedingte Arbeitsverpflichtung, Abbruch des Studiums wegen Schwangerschaft, Eheproblemen bis hin zur drohenden Scheidung, nachgeholtem Studienabschluss und beruflichen Querelen aber derart unerfüllt und starr gesellschaftlich vorgezeichnet, dass sie sich vom Alltagsstress völlig erschöpft und entmutigt mit Suizidgedanken trägt. Sie ist als freiberufliche Reporterin beim Hessischen Rundfunk sehr erfolgreich, fühlt sich aber eingeengt, fragt sich, wo sie selbst bei alledem bleibt, was denn nun ihr ‹Ich› ausmacht. Als ihre opponierende älteste Tochter geradezu brutal ausbricht aus allen tradierten gesellschaftlichen Konventionen, sich im linken politischen Spektrum betätigt, erkennt Gabriele widerwillig schließlich an, dass ihr lebenslang der Mut zu ebenso konsequenter Selbstverwirklichung gefehlt hat, dass ihre ledige Tochter ihr da um einen entscheidenden Schritt voraus ist. Demnach scheint es historisch also tatsächlich einen gewissen gesellschaftlichen Fortschritt zu geben. Die jüngere Tochter aber heiratet am Ende, ein Enkelkind wird geboren, wieder mal zeichnet sich da also ein unabänderlich scheinender familiärer Alltagstrott ab, – ein wahrlich pessimistischer Ausblick zum Thema Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Dieses grandiose Zeitdokument ist gekennzeichnet durch seine vielen verschiedenen, glaubhaft geschilderten Figuren, durch stimmige Dialoge und einen dem jeweiligen Zeitgeschehen gekonnt und einfühlsam angepassten Plot. Sprachlich überzeugt der aus unterschiedlichen Perspektiven erzählte Roman mit einer wohltuend unartifiziellen, präzise beschreibenden, zielgerichtet komprimierten Diktion, oft in Form des inneren Monologs. Das atmosphärisch dichte Bild, das er so erzeugt, bewirkt einen Lesesog, dem man gespannt folgt bis zur letzten Seite. Zu Recht also ist dies ein zeitloser Klassiker, der sich, angenehm lesbar und auf intellektuell hohem Niveau, mit dem aus femininer Sicht noch lange nicht geklärten sozialen Dilemma individueller Selbstverwirklichung auseinandersetzt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Bolwieser

Tragischer Pantoffelheld

Zu den Hauptwerken des in vielen literarischen Genres aktiven Schriftstellers Oskar Maria Graf gehört der Roman «Bolwieser» von 1931, ein Publikumserfolg, den Rainer Werner Fassbinder als Stoff für einen zweiteiligen Fernsehfilm benutzt hat, der dann als Spielfilm adaptiert auch in die Kinos kam. Er ist der erste der beiden «Spießerromane» des bayrischen Dichters, der sich selbst, mit seiner ländlichen Herkunft kokettierend, als «Provinzschriftsteller» bezeichnet hat. Auf der Flucht vor den Nazis ging er 1938 ins Exil nach New York, wo er 29 Jahre später als US-amerikanischer Staatsbürger starb. Seine damals entstandenen Werke gelten denn auch als Exilliteratur, wobei sein umfangreiches Œuvre vor allem durch eine außergewöhnliche thematische Vielseitigkeit geprägt ist, die scharfsinnig analysierte politische und philosophische Themenfelder mit einschließt. Als literarisches Vorbild nannte er Lew Tolstoi, dessen rustikale Bodenständigkeit er ebenso bewunderte wie seine engagierte Gesellschaftskritik. Albert Einstein hat ihn in einem Brief so charakterisiert: «Da ist einer in unserer Zeit, der Manieriertheiten und Dunkelheiten ganz vermeidet und in natürlicher Schlichtheit und Anmut zum Denken anregt».

Über die Idee zu diesem Roman hat der Autor notiert: «Warum, so fragte ich mich, wird eigentlich ein Pantoffelheld immer nur lächerlich und humoristisch gesehen? Kann er nicht auch eine tragische Figur sein? Das war alles, wofür ich lange Zeit den geeigneten Stoff suchte». Als Graf sich bei einer Fahrradtour mit Freunden von einem alten Fährmann über den Inn setzen ließ, sagte sein Begleiter: «Sie, der alte Mann wär‘ eigentlich was für einen Roman. Er war ein ehemaliger Bahnhofsdirektor in Wasserburg, seine Alte, in die er sehr vernarrt war, hat ihn betrogen und ihn nachher, als sie ins Gerede gekommen ist, dazu gebracht, dass er ihre Unschuld vor Gericht beeidigt. Wie er wegen Meineid ins Zuchthaus gekommen ist, hat sie den anderen geheiratet». Oskar Maria Graf hatte, was er suchte, vier Monate später war sein Roman fertig!

Als Inbegriff des Spießers will der dröge Xaver Bolwieser «seinen Frieden, weiter nichts». Der selbstzufriedene Kleinbürger ist seit mehr als drei Jahren mit der attraktiven, wohlhabenden Hanni verheiratet, die beiden haben ein sehr erfülltes Sexualleben, – er ist regelrecht wild nach ihr. Ihm genügt, verfressen wie er ist, zum Leben ein reich gedeckter Tisch in seiner warmen Stube, seine 35jährige Frau aber sinniert über ihre Zukunft, sie träumt von einem glamourösen, turbulenten Leben. Sie will einfach nicht akzeptieren, dass ihr Leben weiterhin so völlig ereignislos dahinplätschert mit ihrem langweiligen, dicken Xaverl. Es kommt, wie es kommen muss, sie beginnt ein Verhältnis mit einem charismatischen Jugendfreund und stürzt damit ihren arglosen Mann ins Unglück. Am Ende aber hat die lebensgierige Hanni in dem feschen Friseur längst schon wieder einen neuen Liebhaber gefunden, cosi fan tutte!

Äußerst skeptisch betrachtet Oskar Maria Graf in seinem Roman die Stabilität sexueller Liebe im Verlaufe der Zeit und unter Berücksichtigung der parallel dazu abnehmenden gegenseitigen Attraktivität, – fürwahr ein uraltes Thema! Und auch soziale Gegensätze kommentiert er mit feiner Ironie: «Der echte Unternehmer trachtet nach der Ausdehnung seines Betriebes und nach Macht. Der Arbeiter kämpft mit seinesgleichen um erträglichere Lebensbedingungen. Der Kleinbürger hingegen will das ‹eine› nicht und hat das ‹andere›. Er strebt nach intimem Luxus. Er will die erborgte Prächtigkeit, wie man sie mitunter in veralteten Gesellschaftsfilmen zu sehen bekommt». Diese chronologisch angelegte Geschichte wird dialogreich in einer wohltuend klaren Sprache erzählt, sie ist thematisch sehr gut durchdacht und absolut logisch aufgebaut. Alfred Döblin nannte den Roman «Ein Kabinettstück deutscher Erzählkunst», dem will ich mich gerne anschließen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten

Ein literarisches Requiem

Die rumänische Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Berlin übersiedelte, hat mit dem Roman «Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten» und dem Untertitel «Tod eines Patrioten» den letzten Band einer Trilogie vorgelegt, in der sie mit dem Kommunismus in ihrem Heimatland abrechnet. Er ist auf Deutsch geschrieben, die Autorin gehört mithin wie viele andere zur Generation der «Chamisso-Enkel», Schriftsteller also, die aus ihrer Muttersprache ins Deutsche wechselten. Sie nimmt darin das Thema der beiden Vorgänger-Romane wieder auf, die Nöte eines «Kaderkindes» im Kommunismus, eines Kindes von hochrangigen Apparatschicks also, dessen Verhalten für die Eltern verheerende Folgen haben konnte, sollte es sich offen systemkritisch äußern. Der vorliegende autobiografische Roman ist eine Art literarisches Requiem, geschrieben in der heutzutage nicht gerade häufig anzutreffenden Form eines Poems.

Vortragende dieser Totenklage ist die Tochter eines hochverdienten Funktionärs der kommunistischen Partei, deren verwitweter 87jähriger Vater einen Unfall erleidet und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Die in Berlin lebende Tochter wird benachrichtigt, hat aber selbst gerade nach einem Unfall ein Bein in Gips, sie kann nicht sofort nach Rumänien reisen. Dort kümmern sich zwei Geliebte des Vaters um ihn, seine ehemalige, ihm treu ergebene Sekretärin und die wesentlich jüngere Krankenschwester, die vor dreißig Jahren seine Frau liebevoll gepflegt hat, bevor sie sehr früh verstarb. Der Vater ist auch nach der Revolution unbeirrt ein glühender Kommunist geblieben, gleich mit den ersten Worten dieses reimlosen Langgedichts wird seine unbedingte Kadertreue verdeutlicht: «Für Vater waren drei Dinge wichtig/In der festgefügten Reihenfolge/Das Vaterland/Die Partei/Die Ehre der Familie». Das Private hatte sich also der Ideologie völlig unterzuordnen, worunter die heranwachsende Tochter sehr gelitten hat. Ihre aufmüpfige, systemkritische Einstellung hatte denn auch verheerende Folgen, der Vater verlor seine privilegierte Stellung, sie ging ins Ausland, die beiden haben viele Jahre lang kein Wort mehr miteinander gesprochen. Aber auch der Bruder und der Onkel hatten jeden Kontakt zu dem unbeirrbaren kommunistischen Betonkopf und Despoten abgebrochen.

Aus dieser konfliktreichen familiären Konstellation, verursacht durch den tyrannischen Vater mit seinem blinden ideologischen Kadavergehorsam, ergibt sich ein kompliziertes psychologisches Geflecht von gegenseitigen Schuldzuweisungen, erlittenen Verletzungen, Demütigungen und unbewältigten Konflikten. Dabei spielt natürlich auch die Eifersucht zwischen der Ehefrau, den beiden aktuellen Geliebten und all den verflossenen eine wichtige Rolle. Aber auch mit der Tochter gibt es aufgestaute Wut und offenen Neid der anderen Frauen, also reichlich Stoff für psychologische Tiefenbohrungen.

Im Nachwort wird das Buch als «ein auf einen inneren Monolog entblößter Roman» bezeichnet. Sprachlich umgesetzt wird der hier kurz skizzierte Erzählstoff als Prosagedicht, in dem die Ich-Erzählerin geradezu obsessiv ihre ureigensten Gefühle ausdrückt, und zwar mit einer verblüffend suggestiven Wirkung. Durch nicht über die Zeile hinaus reichende, extrem kurze Sätze ohne Interpunktion, durch Wiederholungen und Reihungen wird variantenreich ein ureigener, stakkatoartiger Sprachrhythmus erzeugt, eine sprachliche Verdichtung also, die sich, wie die Autorin im Interview erklärt hat, zur Dichtung hin orientiert. Die vielen Wiederholungen einzelner Wörter und Phrasen in diesem episch sehr breit ausgewalzten Vater/Tochter-Konflikt setzen allerdings einige Geduld beim Leser voraus. Gleichwohl wird ihm das federleicht schwebend Erzählte sehr eindringlich nahe gebracht, er wird tief mit hinein gezogen in das seelische Befinden der Tochter, die ihre Totenklage zu einer verzweifelten Anklage gegen den herzlosen, egozentrischen Vater macht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by PalmArtPress Berlin

Die allertraurigste Geschichte

Subversive Erzählweise

Der englische Schriftsteller Ford Madox Ford hat mit seinem 1915 erstmals erschienenen Roman «The Good Soldier» unbestritten ein kanonisches Werk von weltliterarischem Rang geschaffen, auf Deutsch erschien es unter dem Titel «Die allertraurigste Geschichte» erst im Jahre 1962. Ein verkanntes Meisterwerk, dem nie ein besonderer Erfolg beschieden war, das allerdings über mehr als hundert Jahre auch nie in Vergessenheit geriet. Es wurde immer wieder neu übersetzt, was ein anhaltendes Leserinteresse anzeigt und diesen Roman als zeitlosen Klassiker ausweist. Ein perfekter Roman, wie seine schreibenden Kollegen unisono meinen, ohne dass der Autor deshalb ein elitärer «writer’s writer» ist, der die Erwartungen der Leserschaft schnöde ignoriert.

Das amerikanische Ehepaar John und Florence Dowell lernt 1905 bei der Kur in Bad Nauheim das englische Ehepaar Edward und Leonora Ashburnham kennen, sie werden beste Freunde. Der arglose Ich-Erzähler Dowell berichtet aus der Erinnerung heraus naiv, geradezu blauäugig, über die neun scheinbar glücklichen Jahre miteinander, die beiden Paare aus den besten Kreisen besuchen sich gegenseitig und unternehmen zusammen Reisen, – bis es zur Katastrophe kommt. Nach dem Suizid seiner Frau entdeckt er, dass sie ihn viele Jahre lang mit Edward betrogen hatte, was dessen Frau Leonora wusste und geduldet hat. Der von ihm grenzenlos bewunderte Edward, ein gutaussehender Mann, untadeliger Soldat, vorbildlicher Gutsbesitzer und selbstloser Menschenfreund, ist eben auch ein erfolgreicher Schürzenjäger. Und Florence, seine Geliebte, hatte schon vor der Ehe einen Liebhaber unter den Bediensteten, sie hat ihren arglosen Mann von Anfang an schamlos betrogen, – und ihre Ehe wurde auch nie vollzogen! Für die streng katholische Leonora ist eine Scheidung unvorstellbar, sie vertuscht des Skandals wegen die Liaison der beiden Ehebrecher, wie sie immer schon alle Eskapaden ihres treulosen Mannes verheimlicht hat. Nur scheibchenweise erfährt der Leser, dass Florence aus Eifersucht Selbstmord begangen hat und nicht, wie ihr Mann glaubt, an Herzversagen starb, und dass Edward sich am Ende die Kehle durchschneidet, weil er sich nach einem jungen Mädchen verzehrt, seinem Mündel, das seinen Ehrbegriffen nach aber unerreichbar bleibt für ihn.

Was hier als banaler Plot skizziert wurde, ist im Roman ein diffiziles Spiel mit raffinierten Vor- und Rückblenden, häufigen Perspektivwechseln und ständigen Halbwahrheiten eines überaus naiven Erzählers, der seinen Vornamen im Buch nur einmal erwähnt und selbst kaum in Erscheinung tritt. Ein Gehörnter, der mit seiner ans Dümmliche grenzenden Unbedarftheit die Untreue seiner Frau einfach nicht erkennt, andererseits aber fast schon homoerotisch Edward bewundert. Das für diesen Roman markante Stilmittel ist der unzuverlässige Erzähler, der hier extensiv eingesetzt wird und den Leser oft auch direkt anspricht, ihm rhetorische Fragen stellt. Somit bindet er ihn mit ein in die Entstehung seiner Erzählung, offenbart ihm auch seine angeblichen Wissenslücken und Irrtümer, man ist als Leser beim Erinnerungs- und Schreibprozess quasi dabei.

«Ich weiß, ich habe die Geschichte in einer sehr weitschweifenden Weise erzählt», bekennt der eher unbeteiligt erscheinende Ich-Erzähler im vierten und letzten Teil seiner grotesken Geschichte der Täuschungen, Lügen, Selbstentlarvungen, Desillusionierungen, viktorianischen Standesdünkel und verlogenen Etikette. Es ist die hier zum Prinzip erhobene Unbestimmtheit, der fehlende rote Faden, der diese Story so verstörend macht für den arglosen Leser, in der nie etwas ist, wie es scheint, in der «ich weiß nicht» eine der häufigsten Phrasen ist. Schamhaft angedeuteter Sex, Religion und Geld sind die dominanten Themen dieser an Widersprüchen reichen Geschichte, die in einem trügerischen Plauderton erzählt wird. Nicht der Plot ist hier dominant, sondern die ironische, geradezu subversive Erzählweise eines kreativen Könners.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Zweimal jährlich

Der berühmteste Roman der als Knight Commander des Order of the British Empire hoch geehrten schottischen Schriftstellerin Muriel Spark trägt den Titel «Die Blütezeit der Miss Jean Brodie». Im Jahre 1961 erstmals erschienen, ist er als Klassiker der englischsprachigen Literatur einhellig in den Top-Hundert-Listen von BBC, ‹Guardian› und ‹Time› vertreten, natürlich auch erfolgreich verfilmt und fürs Theater und Fernsehen adaptiert. Nun ist eine deutsche Neuübersetzung erschienen, mit einem informativen Nachwort der Autorin Candia McWilliam, die darin bekennt: «Seit ich zehn geworden bin, lese ich dieses Buch jedes Jahr zweimal». Grund genug also, es auch zu lesen, – wenigstens einmal!

Jeder, der den Spielfilm «Der Club der toten Dichter» gesehen hat, wird schon nach wenigen Buchseiten eine Gemeinsamkeit feststellen: Für beide Lehrerfiguren ist gleichermaßen die Entwicklung ihrer Schüler zu einem selbständig denkenden und selbstbewusst handelnden Menschen oberstes Unterrichtsziel. Mit dieser unbotmäßigen Abweichung von einem stupiden Lehrplan sind die Konflikte schon vorgezeichnet. Wie John Keating im Film ist auch Jean Brodie im Roman eine charismatische Lehrerin, – «in der Blütezeit ihrer Jahre», wie sie immer wieder betont -, deren anfangs zehnjährige Schülerinnen sie einem Guru ähnlich verehren. Sechs von ihnen bilden als Brodie-Clique den eingeschworenen, elitären Kern ihrer Schülerinnen und genießen eine besonders intensive Förderung durch diese unkonventionelle, junge Lehrerin, die sie euphorisch als ‹Crème de la crème› der Schule bezeichnet. Der in Edinburgh angesiedelte Plot beschreibt, beginnend 1931, die unterschiedliche Entwicklung dieser sechs Mädchen und ihren weiteren Lebensweg nach der Schulzeit, der auch dann noch eng mit Miss Brodie verknüpft bleibt und sogar deren Liebesleben mit einbezieht. Zum Verhängnis wird der unkonventionellen Lehrerin schließlich ihre Bewunderung für den Faschismus, mit einem Führer, den sie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch, total verharmlosend, lediglich als «ungezogen» bezeichnet. Denn auch sie fühlt sich als unumschränkte Führerin der Brodie-Clique, die sie selbstherrlich, allein nach ihren Vorstellungen, in ein ihren Fähigkeiten entsprechendes, erfülltes Leben hinaus zu führen gedenkt.

Natürlich ist der sprichwörtliche britische Humor ein tragendes Element dieses Romans, Muriel Spark zieht dabei alle Register, man kommt als Leser aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus und muss oft auch laut auflachen. Da erscheint den Mädels dann der Kölner Dom auf einem Foto als «Hochzeitstorte» im Vergleich mit den eher kargen heimischen Kirchenbauten. Ein köstliches Beispiel ist auch der Abschiedbrief von Jean Brodie an ihren Liebhaber, den Musiklehrer, der mit den Worten schließt: «Gestatte mir zum Abschluss, Dir von Herzen sowohl zu Deinem Geschlechtsverkehr als auch zu Deiner Sangeskunst zu gratulieren». Derart unverblümt direkt und trocken wird hier punktgenau und virtuos, in lapidar kurzen Sätzen, durchaus auch Tragisches beschrieben. Die Brodie-Clique ist dem Schicksal ebenso gnadenlos ausgeliefert wie ihre Lehrerin, der ihre faschistische Einstellung dann letztendlich zum Verhängnis wird. Als eines der Mädchen, die ins Kloster gegangen ist, am Ende gefragt wird, was sie in ihrer Schulzeit denn am meisten beeinflusst habe, lautet die Antwort im letzten Satz des Romans: «Es gab da eine Miss Jean Brodie in der Blüte ihrer Jahre».

Diese auktorial erzählte Geschichte entwickelt mit ihren gekonnt platzierten Zeitsprüngen einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann. Besonders die immer wieder eingebauten Vorausblenden auf das Schicksal der einzelnen Figuren baut Spannung auf, man will wissen, wie es dahin gekommen ist, und vor allen Dingen, warum. Mit seiner hoch verdichteten, lässigen und amüsanten Erzählweise ist dieser Roman ein Klassiker, den zu lesen sich wirklich lohnt, – für Anglophile vielleicht sogar zweimal jährlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Abtrünnig

Furor teutonicus

Es ist der unversöhnliche Blick auf die Welt, der das Œuvre von Reinhard Jirgl kennzeichnet und auch in seinem Roman «Abtrünnig» am Beispiel Berlin die ‹Zumutung des Menschseins› entlarvt. Die Befindlichkeiten seiner aus den Parallelwelten DDR und BRD stammenden Protagonisten spiegeln dabei in einem an Döblin erinnernden Großstadtroman die hasserfüllt beschriebene Gesellschaft der als unmenschlicher Moloch beschriebenen Metropole zu Beginn des dritten Jahrtausends. Subversiv im Sujet und poststrukturalistisch im Duktus, fordert dieser hoch artifizielle Roman ungewöhnlich viel Ausdauer und Geduld von seinen Lesern, bereichert sie andererseits aber auch mit der radikalen Sicht eines stilistischen äußerst eigenwilligen, ‹abtrünnigen› Einzelgängers der anspruchsvollen deutschen Gegenwarts-Literatur.

Unter dem skeptischen Diktum «homo homini lupus» erzählt Reinhard Jirgl von einem Bauernsohn, der dem dörflichen Leben den Rücken kehrt, als freier Journalist nach Hamburg geht, dort seine große Liebe Elisabeth findet, sie heiratet und nach zwölfjähriger Ehe geschieden wird. Daraufhin verfällt er dem Alkohol, verliebt sich in seine verheiratete Therapeutin Sophia und folgt ihr dann für einen neuen Anfang nach Berlin, wo er sich nun auch als Schriftsteller versucht. Die deutsche Hauptstadt ist zudem der Fluchtpunkt für einen ehemaligen NVA-Grenzer, der in Frankfurt an der Oder beim Bundesgrenzschutz arbeitet und der jungen Valentina aus der Ukraine selbstlos bei ihrer illegalen Einreise in den Westen hilft, – er will einfach nur Gutes tun. Beide Beziehungen aber scheitern kläglich, Sophia kehrt aus purem Opportunismus zu ihrem wohlhabenden Ehemann und ihrem italienischen Zweit-Lover zurück, Valentina verdingt sich Mata-Hari-artig als Callgirl und spioniert für mafiöse Auftraggeber reiche Geschäftsleute aus.

Der hier kurz skizzierte Plot, zeitlich Anfang des neuen Jahrtausends angesiedelt, zur Zeit der maßlosen Hauptstadt-Hysterie also, ist mit seinen ineinander verschränkten Handlungsfäden nur das lose Stützgerüst für ein breit angelegtes, soziologisches Panorama der Großstadt. Es ist eine sarkastische, oft auch ausgesprochen verächtliche und zynische Abrechnung mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und ökonomischen Bedingungen in der Metropole. Hartnäckig widersetzt sich diese überreich mit essayistischen Einschüben und wechselseitigen Verweisen angereicherte Prosa jedwedem Konsens, sie ist in weiten Teilen eine unversöhnliche, frustgeprägte Hasstirade auf eine zutiefst verachtete Gesellschaft und ihre sozialen Verwerfungen. Dabei steht stilistisch der innere Monolog im Vordergrund, ergänzt durch traumartige Sequenzen und tief gründende, psychologische Reflexionen. Sprachlich benutzt Reinhard Jirgl dazu seine ureigene Diktion aus lautmalerischer Schreibweise und einer sehr eigenwilligen Zeichensetzung, die allen Konventionen widerspricht, an die man sich aber überraschend schnell gewöhnt als Leser. Damit wird eine verblüffende, eigenständige narrative Wirkung erzeugt, die überaus eingängig der Alltagssprache entspringt und damit schon fast körperliche Nähe schafft. Der Erzähler dabei ist laut Jirgl ein «gleitendes Ich», mit häufigen perspektivischen Wechseln in mehreren Ebenen entwickelt sich so ein nicht immer leicht zu durchschauendes, narratives Geflecht.

Der Lebensekel, hervorgegangen aus dem totalen Scheitern, von dem allein in dieser wütenden, apokalyptischen Streitschrift die Rede ist, dieser hoffnungslose Blick in die Abgründe des Menschseins also, ist natürlich keine Lektüre für Genussleser. Deutlich zu leicht macht es sich der misanthropische Autor, wenn er die beiden Frauenfiguren als Sirenen darstellt, die mit ihren Verführungskünsten die Männer in den Abgrund locken. Gleichwohl aber ist es dem Büchnerpreisträger von 2010 gelungen, in seinem «Roman aus der nervösen Zeit» die Bestie Mensch mit seinem ‹Furor teutonicus› unerbittlich als wahres Monster zu enttarnen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Johann Holtrop

Literarische Abrissbirne

Der 2012 erschienenen Roman «Johann Holtrop» von Rainald Goetz mit dem Untertitel «Abriss der Gesellschaft» ist in Feuilleton und Leserschaft zumeist ablehnend kommentiert worden, obwohl er mit seiner Thematik eigentlich hochaktuell war und ist. Es geht darin nämlich um Machtgier und Geldgier eines deutschen Topmanagers, für den Thomas Middelhoff literarisch Pate gestanden hat, der seinerseits erst vor wenigen Tage im FAZ-Interview beschönigend von «Gier nach Anerkennung» gesprochen hat. Der Protagonist des Romans, der sich selbst restlos überschätzt und am Ende kläglich scheitert, ist der Prototyp eines skrupellosen Wirtschaftsbosses. Zusätzlich hat der Autor für seine Geschichte noch Dutzende kaum kaschierter realer Figuren herangezogen, und tatsächliche Geschehnisse ebenfalls. Der Büchner-Preisträger von 2015 erreicht mit seiner hasserfüllten Entlarvung des Raubtier-Kapitalismus aber wohl kaum die davon unmittelbar betroffene Gesellschaftsschicht eines Millionenheeres von Habenichtsen. Denn denen geht eben nicht das sprichwörtliche «Messer in der Tasche» auf angesichts von Bonuszahlungen und Abfindungen in Millionenhöhe an offensichtlich unfähige Bosse, die eine krachende Insolvenz hingelegt haben. Mehr als ein Pfeifkonzert vor der Firmenzentrale findet da nie statt, und erst recht wollen sie nicht durch einen Roman daran erinnert werden.

In drei Teilen schildert der Autor die Karriere des charismatischen Topmanagers Johann Holtrop, beginnend im November 2001 auf dem Höhepunkt seiner Macht als 48jähriger Chef eines deutschen Medien-Konzerns mit weltweit 80.000 Mitarbeitern, und endend mit seinem Absturz neun Jahre später. In einem für den Leser absolut undurchsichtigen Konzerngeflecht agiert der Big Boss nach Gutsherrenart, jettet im Firmenflugzeug durch die Welt und hält sich in seinem Größenwahn für den Einzigen, der all die komplizierten Verflechtungen im Konzern und die globalen ökonomischen Einwirkungen auf die Geschäfte wirklich versteht und adäquat zu reagieren weiß. Seine Mitarbeiter in der Chefetage sind für ihn allesamt unfähige Idioten, und so beginnt die Geschichte dieses durchgeknallten Machertypen auch gleich mit dem fristlosen Rausschmiss eines langjährigen Topmanagers, den er für total unfähig hält und der sich daraufhin das Leben nimmt. Es macht wenig Sinn, hier beschreiben zu wollen, was in dem Roman passiert, denn in weiten Teilen wiederholt sich das immergleiche, undurchsichtige Gerangel der dutzenden Manager und Geschäftspartner, die Rainald Goetz alle namentlich auftreten lässt, auch wenn nur wenige davon dauerhaft eine Rolle spielen.

Konferenzen, Reisen, Hotels, gesellschaftliche Veranstaltungen, Vorträge und unzählige Telefonate in einem kaum nachvollziehbaren Poker um Kompetenzen und Strategien bestimmen das den Leser schnell ermüdende Geschehen. Das Private ist praktisch komplett ausgeblendet, die Politik ebenfalls, auch das Psychologische interessiert hier nicht, allein das Business steht im Fokus. Dabei fällt auf, dass der Autor fröhlich schwadronierend puren ökonomischen Nonsens einbaut in Form sinnfreier Wortschöpfungen, die man wohlwollend als lustige Einsprengsel in seine ansonsten wutschnaubenden Hasstiraden ansehen könnte. Der denunziatorische Text ist andererseits aber mit ebensolchen, dann allerdings ganz unlustigen Neologismen und Komposita regelrecht gespickt, mit «Überlängenhöchstwahrscheinlichkeit», wie Sprachguru Bastian Sick das treffend formuliert hat, – hier das typische Stilmittel. «Die Autos standen stehend fest» gehört ebenso zu den vielen sprachlichen Blüten dieses Romans.

Der gehässig beschriebene, tiefe Fall eines menschenverachtenden Egomanen ist, wie der Untertitel doppeldeutig verkündet, eher ein zerstörerischer «Abriss», für den ein an Thomas Bernhard erinnernder Autor besserwisserisch seine literarische Abrissbirne einsetzt. Zum Sujet passt schließlich auch das dem Milliardär Adolf Merckle nachempfundene Ende des Johann Holtrop.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Wie später ihre Kinder

Das Rezept wirkt heute noch

Einem Senkrechtstarter gleich wurde Nicolas Mathieu bereits mit seinem ersten Roman unter dem Titel «Wie später ihre Kinder» die höchste literarische Weihe in Frankreich zuteil, der alljährlich verliehene Prix Goncourt. Der jetzt auch auf Deutsch vorliegende Roman mit seinem vorangestellten Motto aus Jesus Sirach 44.9, dem auch der fatalistische Romantitel entlehnt ist, könnte als Analyse der Ursachen jener Gelbwesten-Bewegung gedeutet werden, deren landesweite Proteste nur zehn Tage nach der Preisverleihung begannen. Allerdings protestiert niemand in diesem Roman, wie in anderen Ländern auch hat sich nämlich das Prekariat, haben sich die sogenannten «Kleinen Leute» mit den trostlosen Umständen ihrer Existenz längst abgefunden Es ist diese resignative Dulderhaltung, die der Autor scharfsichtig aufdeckt und bis ins letzte Detail stimmig beschreibt.

Lothringen, einst wichtiges Industrierevier Frankreichs, wurde mit dem Niedergang der Montanindustrie wirtschaftlich ins Abseits gedrängt, eine hohe Arbeitslosigkeit war die Folge. Der Roman erzählt die Auswirkungen dieses Strukturwandels auf drei Heranwachsende aus verschiedenen Milieus in der Kleinstadt Heillange. «Ich wollte die Geschichte dieses Jungen erzählen» hat der Autor erklärt, sein Protagonist ist der zu Beginn 14jährige Anthony, Sohn eines arbeitslos gewordenen Stahlarbeiters, der sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, zusehends dem Alkohol verfällt und schließlich seine Familie verlässt. Der pubertierende Junge verliebt sich in Steph, Tochter aus «gutem Hause», der es an nichts fehlt und die von den Eltern schulisch in Richtung auf eine spätere, glänzende Karriere gedrängt wird, – sie hat zunächst allerdings keinerlei derartige Ambitionen. Dritter Protagonist ist Hacine, Sohn eines Immigranten aus Marokko, der Halbstarke spielt später auch eine Rolle im Drogenhandel. Anthony wird von dessen Bande immer wieder drangsaliert, sie stehlen das – ohne Erlaubnis von ihm benutzte – Motorrad seines Vaters. Statt es nach Intervention der Mutter wie versprochen zurückzugeben, setzen sie es in Brand.

Multiperspektivisch erzählt Nicolas Mathieu einfühlsam und sehr nah an seinen Figuren in Zweijahresschritten von deren Entwicklung, die sich in einem Beziehungsgeflecht vollzieht, dessen Milieu schlagwortartig mit «Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll» umschrieben werden kann. Durch konsequenten Verzicht auf irgendwelche politischen Schuldzuschreibungen gerät dieser Roman zu einer eindrucksvollen, glaubwürdigen Milieustudie über die Vorbedingungen für den späteren, scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der rechtsextremen Partei «Front National». Es bleibt allerdings nicht aus, dass bei den drei beschriebenen Gesellschaftsschichten das eine oder andere Klischee herhalten muss. Der Bösewicht ist auch hier natürlich der kleinkriminelle, marokkanische Immigrantensohn, den Loser-Typen verkörpert der labile Anthony aus dem bildungsfernen Prekariat, und mit Steph ist der künftigen Absolventin einer der «Grandes Écoles» eine unaufhaltsame Karriere durch ihre privilegierte Herkunft quasi schon in die Wiege gelegt.

Die flüssig lesbare, in die vier Sommer 1992, 1994, 1996 und 1998 aufgeteilte Geschichte mit ihrer entlarvenden Gesellschaftskritik ist durchaus auch spannend zu lesen, wobei die stimmigen Dialoge oft im authentischen Jugendslang wiedergegeben werden. Im dramaturgisch gekonnt platzierten letzten Kapitel bewirkt die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich, die der Gastgeber dann ja sogar gewinnen konnte, eine milieuübergreifende Solidarität der Menschen, welche die Romanfiguren ebenfalls versöhnt und sie wenigstens für kurze Zeit alles vergessen lässt. «Panem et circenses» nannte Juvenal bei den alten Römern dieses Ablenkungsmanöver der Herrschenden von den bedrückenden Lebensumständen des Prekariats. Und wie man sieht wirkt dieses Rezept auch heute noch, – nicht weniger als genau das hat Nicolas Mathieu hier deutlich gemacht!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Apostoloff

Ihr könnt mich mal kreuzweise

In ihrem vierten, 2009 erschienenen Roman «Apostoloff» hat Sibylle Lewitscharoff eine Karikatur ihrer selbst als Ich-Erzählerin erschaffen, deren an Thomas Bernhard erinnernde Hasstiraden dem Lande gelten, in dem sie durch ihren bulgarischen Vater zumindest teilweise selbst verwurzelt ist. Vier Jahre später erhielt sie den Büchnerpreis, weil sie «in ihren Romanen mit unerschöpflicher Beobachtungsenergie, erzählerischer Phantasie und sprachlicher Erfindungskraft die Grenzen dessen, was wir für unsere Wirklichkeit halten, neu erkundet und in Frage stellt», wie die Jury ihre Wahl begründete. Spätestens seit dem Eklat, den im Jahr darauf ihre Dresdner Rede ausgelöst hat, ist sie als streitbare Schriftstellerin dem Publikum auch außerhalb der Literatur als eine unerschrockene Querdenkerin bekannt geworden. All das erklärt mithin den unverwechselbaren Duktus des vorliegenden Romans, der ihr bisher persönlichster ist, mit etlichen autobiografischen Fakten, wie sie im Interview bekannt hat.

Der titelgebende Apostoloff chauffiert die namenlose Ich-Erzählerin mittleren Alters und ihre Schwester im Anschluss an eine pompöse Trauerfeier in Sofia als Touristinnen durch das postkommunistische Bulgarien. In diese erste Erzählebene intermittierend eingeblendet wird als zweite Ebene die Vorgeschichte der Bulgarien-Rundfahrt. Ein gewisser Tabakoff, reicher bulgarischer Emigrant aus Amerika, hat nach dem Tod seiner Frau die fixe Idee, auch die anderen achtzehn inzwischen verstorbenen Mitglieder der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Stuttgart gebildeten, bulgarischen Exilanten-Gemeinde, begleitet von den Angehörigen in einem feierlichen Korso aus 13 Stretch-Limousinen, in die Heimat zu überführen. Dort sollen sie in einem monumentalen Grabmal gemeinsamen bestattet werden, auch der früh durch Suizid aus dem Leben geschiedene Vater der Schwestern gehörte zu diesem Kreis. Die geschäftstüchtige Schwester handelt das Einverständnis zur Umbettung des Vaters auf 70.000 Euro hoch, die der närrische bulgarische Krösus tatsächlich auch bezahlt. Dritte, bedeutsame Erzählebene ist die schwäbische Heimat und Familie der Damen, wobei der Freitod des Vaters, ein beliebter Frauenarzt, sich letztendlich als tief sitzende Ursache des ganzen Hasses auf die Eltern erweist.

Diese drei narrativen Ebenen werden nicht getrennt erzählt, sie sind in buntem Mix mit abrupten Wechseln ineinander verschachtelt und erfordern volle Aufmerksamkeit des Lesers. Es wird aber immer wieder schnell klar, wovon die Rede ist, nicht nur bei der zeitlich direkt hinter einander liegenden Trauerreise und der anschließenden Rundreise, sondern auch bei der Jahrzehnte zurückliegenden Stuttgarter Jugendzeit der Schwestern. Zwischen Apostoloff, dem patriotischen bulgarischen Chauffeur, und der Schwester entwickelt sich ein verschämt verborgenes Techtelmechtel. Bei einem Gespräch mit dem Sohn des ehemaligen Nachbarn und Bordellbesitzers erfährt die Ich-Erzählerin, dass ihr Vater nach Kriegsende in einem Gefängnis in Sofia saß. In der gerüchteanfälligen bulgarischen Verwandtschaft hält sich deshalb hartnäckig die Lesart, der Vater sei vom Geheimdienst in den Tod getrieben worden, ersatzweise wird kolportiert, seine eigene Frau habe ihn ins Jenseits befördert.

Mit aberwitzigen Wortgebilden und tollkühnen gedanklichen Schlenkern beschreibt die Autorin in ihrer Satire ein Bulgarien, das nicht gerade einladend wirkt, jedoch ziemlich stimmig beschrieben scheint. Vieles in ihrer Suada ist zum Brüllen komisch, auch «Heilandzack» heißt es da Lewitscharoff-typisch, aber zuweilen wird es auch sehr beklemmend, so zum Beispiel, wenn die misanthropische Ich-Erzählerin ihr «radikales Desinteresse an Kindern» betont. Ihr tief sitzender Furor wird in einem konträren, aufgekratzt wirkenden, fidelen Ton vorgetragen, all das Wüten und Zetern aber mündet in einem «Ihr könnt mich mal kreuzweise», mit dem der Vater ihr am Ende im Traum entgegentritt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Kafka am Strand

Na und?

Der japanische Kultautor Haruki Murakami ist einer der wichtigsten Schriftsteller seiner Generation, er wird zuweilen sogar als Nobelpreiskandidat genannt. Von seinen bislang 14 Romanen wird «Kafka am Strand», erschienen 2002, zu seinen besten gezählt. In dieser wundersamen Geschichte sind, ganz im Stil des Magischen Realismus, verschiedene Grundzüge eines in der Jetztzeit angesiedelten Entwicklungsromans literarisch mit dem klassischen Ödipus-Komplex und vielen weiteren, märchenhaft mystischen Elementen angereichert.

Der Protagonist lebt allein mit seinem Vater in Tokyo, seine Mutter hat mit seiner Schwester die Familie verlassen, als er vier Jahre alt war. An seinem fünfzehnten Geburtstag reißt er von zuhause aus, und da er in der Schule begeistert Bücher von Kafka gelesen hat, nimmt er zur Tarnung den Vornamen Kafka an. Eine weitere tragende Rolle spielt Saeki, die sybillinische, 55jährige Leiterin der Privatbibliothek, in der Kafka auf seiner Flucht zunächst Unterschlupf findet, – er fühlt sich sogleich erotisch von ihr angezogen. Wobei im üppigen Bedeutungsgeflecht des Romans das in ihrem Arbeitszimmer hängende Gemälde «Kafka am Strand» und ein von ihr komponierter Song gleichen Namens symbolisch eine wichtige Rolle spielen. Der junge Ausreißer befindet sich in seiner invertierten Odyssee auf Sinnsuche, wobei ihm als böser Fluch prophezeit wurde, er werde seinen Vater töten und mit seiner Mutter und seiner Schwester schlafen. In einem parallelen Handlungsstrang wird von Nakata berichtet, der bei einem Klassenausflug am Ende des Zweiten Weltkriegs als einziger der Schülergruppe nach einer mysteriösen Massenohnmacht bleibende Schäden davontrug, alle militärischen Untersuchungen des Falls sind streng geheim. Er verkörpert nun als alter Mann im Roman den heiligen Narren, der mit Katzen sprechen kann und einen Mord auf Verlangen an Johnny Walker begeht, den bösen Katzenfänger, der die Katzen schlachtet und roh ihre noch schlagenden Herzen verzehrt. Beide Handlungsstränge dieser zeitlich etwa drei Wochen umfassenden Geschichte fließen schließlich ineinander. Nakata wird von dem geheimnisvollen KFC-Gründer Colonel Sanders bei seiner Suche nach jenem Weißen Stein unterstützt, der den Eingang zur jenseitigen Welt verschließt. Kafka Tamura andererseits gelangt mit Hilfe zweier japanischer Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg unauffindbar in den dichten Wäldern verschollen sind und seither diesen Eingang bewachen, in jenes geheimnisvolle Jenseits. Er entschließt sich dann aber doch zur Umkehr, gerade noch rechtzeitig, ehe der Weiße Stein den Eingang wieder verschließt.

Es ist schon starker Tobak, der dem Leser da geboten wird, Kafkas Vater wird tatsächlich erstochen, Kafka selbst lässt sich sexuell von einem älteren Mädchen verwöhnen, das seine Schwester sein könnte, und schläft zu guter letzt mit seiner mutmaßlichen Mutter. Es gibt jede Menge wunderlicher Figuren in diesem postmodernen Roman, der cool und in einfacher Sprache geschrieben einen geschickt konstruierten Plot mit stimmigen Dialogen erzählt und damit einen erstaunlichen Lesesog zu erzeugen vermag. Das Japanische daran erscheint praktisch nur in den Namen, der diesseitige Teil ist eindeutig westlich orientiert. Und wie immer bei Murakami spielt auch die Musik eine Rolle, hier sind es neben dem Song «Kafka am Strand» der geheimnisvollen Saeki insbesondere Beethovens Erzherzog-Trio und die D-Dur-Sonate Schuberts.

Mit vielen Absurditäten und surrealen Szenen führt der Autor seine staunende Leserschaft in fantastische Innenwelten, immer mit dem Ziel, einsame Menschen zueinander finden zu lassen und allen Dingen, selbst den profansten, irgendwie einen Sinn zu verleihen. Der wohldosierte Spannungsbogen, zwischen Realität und Traum oszillierend, hält auch diejenigen Leser des dickleibigen Romans bei der Stange, denen wie mir die Grenze zur Trivialität hier zuweilen überschritten scheint, – die aber gelassen sagen: Na und?

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Scoop

Fleet Street Persiflage

Der satirische Roman «Scoop» des britischen Schriftstellers Evelyn Waugh wurde 2015 von einer internationalen Jury auf die BBC-Liste der 100 bedeutendsten britischen Romane gewählt. Schon im Titel des 1938 erschienenen Buches, den man mit ‹sensationelle Exklusivnachricht› übersetzen kann, wird seine Thematik deutlich, es geht um Journalismus in dieser Satire auf die Fleet Street, dem einst traditionellen Zentrum der Presse in London. Angeregt dazu wurde Waugh durch seine Tätigkeit als Korrespondent bei der Krönung von Haile Selassie in Abessinien, ein Job, über den er im Vorwort schreibt: «Ich hatte kein großes Talent dafür, studierte aber mit großem Vergnügen die Schrullen und Ausschweifungen meiner Kollegen». Geradezu zynisch beschreibt der politisch erzkonservative, kulturpessimistische Autor einen Umsturzversuch im ostafrikanischen Ismaelia, wie er das Land im Buch nennt, ebenso sarkastisch aber auch das heimische Milieu seines Protagonisten, der nach eigenen Worten «anachronistischste Teil» seines Romans. «Jüngere Leser müssen meiner Versicherung Glauben schenken, dass es solche Menschen samt ihren Bediensteten vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich gegeben hat».

Der junge William Boot, Mitglied einer verarmten Familie des Landadels, hat eine Stellung als zuständiger Autor für die völlig unbedeutende Natur-Rubrik «Üppige Auen» bei der Tageszeitung Daily Beast inne, sie bringt ihm pro Beitrag eine Guinee ein. Durch eine Verwechslung mit dem Schriftsteller John Boot wird er als Sonderkorrespondent nach Ismaelia geschickt, weil dort ein Krieg auszubrechen droht. Der einem realen Korrespondenten nachempfundene William taumelt schon auf der Reise dorthin durch eine wirre Abfolge von haarsträubenden Ereignissen. Wahrhaft slapstickartig entwickeln sich dann auch die Verhältnisse in dem von einem Familienclan beherrschten Land, alle Korrespondenten sind auf der Jagd nach Informationen, aber nichts passiert dort wirklich. Als sie dann allesamt dem Mentor ihrer Zunft in eine angeblich für die erwarteten Ereignisse wichtige Wüstenstadt folgen, eine Sensation witternd, bleibt nur William in der journalistisch verwaisten Hauptstadt zurück, er weiß nämlich, dass die fragliche Stadt überhaupt nicht existiert. Und prompt bricht genau zu diesem Zeitpunkt ein von russischen Agenten unterstützter Putsch aus, der Präsident wird samt Familie festgesetzt, – und William hat seinen Scoop, er kann als einziger Journalist davon berichten.

Nach London zurückgekehrt, wird er als großer Journalist gefeiert, auf Veranlassung seines Zeitungsverlegers soll er sogar in den Adelsstand erhoben und mit einem großen Bankett geehrt werden. Was ihm aber gar nicht recht ist, er möchte lieber seine Ruhe haben und scheut die Öffentlichkeit. Natürlich hat Evelyn Waugh auch hier noch eine kuriose Szene eingebaut, irgendwoher muss die Redaktion ja nun einen neuen Boot auftreiben, sonst droht Ungemach vom allmächtigen Chef. Nachdem auch John Boot ausscheidet, weil er sich, – scheinbar auf der Flucht vor einer Frau -, in die Antarktis hat versetzen lassen, ist Williams Onkel Theodor Boot die letzte Rettung als Adels-Kandidat, ein geschwätziger Möchtegern-Schriftsteller.

Diese köstliche Persiflage auf die Sensations-Presse wird chronologisch erzählt und ist in einfacher Sprache geschrieben, weitgehend in Dialogform. Natürlich hat sich der Autor damit in der Fleet Street keine Freunde gemacht, es wurden etliche Prozesse geführt, die er aber alle gewonnen hat. Der etwas verzwickte Plot mit seinen tollpatschigen Figuren erinnert in seiner Machart an einschlägige Stummfilm-Klamotten, die beißende Kritik des kulturpessimistischen Autors deutet gleichwohl unübersehbar auf die Kuriositäten eines von ihm als chaotisch empfundenen Lebens des modernen Menschen hin. «So wie glücklichere Menschen Vögel beobachten, so beobachte ich Menschen», hat Evelyn Waugh seine Arbeitsweise beschrieben, – es macht Spaß, ihm dabei zu folgen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Katie

Roman-Haiku

Die Schriftstellerin Christine Wunnicke hat mit dem Titel ihres 2017 erschienen Romans «Katie» einem spiritistischen Medium gehuldigt und damit, wie auch in anderen ihrer Romane, eine exzentrische, obsessive Figur in den Mittelpunkt gestellt. Hier ist es die historisch verbürgte Entfesselungskünstlerin Florence Cook, zu deren Lebensgeschichte untrennbar auch der ebenfalls reale Naturwissenschaftler und Parapsychologe Sir William Crookes gehört. Das literarische Markenzeichen der Autorin ist es geradezu, diesen realen Figuren mit ungezügelter Phantasie eine ins Groteske reichende Persönlichkeit anzudichten, – im besten Sinne des Wortes. In diesem absurden und komischen Roman wird das geschichtlich Überlieferte durch fiktive Seitenpfade mit Esprit zu einem aberwitzigen narrativen Labyrinth ergänzt, ein Triumph des Übersinnlichen.

In London fasziniert um das Jahr 1870 herum Florence Cook in ihren Séancen ihr abergläubiges Publikum. Gefesselt und in einem Schrank sitzend stellt sie einen Kontakt mit dem Jenseits her, wozu wie ein Cherub als verschleiertes Medium jeweils «Katie» als fluoreszierende Lichtgestalt erscheint, eine zweigeschlechtliche, mehr als zweihundert Jahre alte, walisische Piratentochter und mystische Kindsmörderin. Natürlich ruft der zu jener Zeit weitverbreitete Okkultismus auch eine skeptische Wissenschaft auf den Plan. Bereitwillig stellt sich Florence dem renommierten Parapsychologen Crookes zu Verfügung, der mit Hilfe ziemlich obskur erscheinender Apparate den unerklärlichen, von ihm selbst wahrgenommenen Phänomenen auf den Grund gehen will. Sie wohnt während dieser wissenschaftlichen Untersuchungen in seiner Villa, wo er auch sein Laboratorium hat. In langwierigen Experimenten versucht er zusammen mit seinem Assistenten, verborgenen Kräften auf die Spur zu kommen, sie forschen mit Hilfe der Spektroskopie an vielerlei Stoffen und Strahlungen. Um auf seiner emsigen Suche nach dem «vierten Aggregatzustand» letztendlich aber zu erkennen, dass es den wohl doch nicht gibt.

Mit viel Witz schildert Christine Wunnicke genüsslich diese Irrwege des Wissens, beschreibt zudem mit feiner Ironie jene regelmäßig in wilde Massenekstase mündenden Bühnenshows mit dem berühmten Medium. Ihre Romanfiguren in dem slapstickartig angelegten Plot erscheinen als okkulte Spinner, ohne dass sie jedoch zynisch bloß gestellt werden als der Magie hörige Trottel. Dieser esoterische Roman voller Spuk und Gespenstern ist leicht erkennbar als Satire angelegt und wird in einem dem Sujet angepassten, amüsanten Ton erzählt, knapp und mit überraschenden Wendungen. Zu den berühmtesten realen Figuren, die den Roman bevölkern, gehört Charles Darwin, in einer Nebenrolle allerdings, bei der es nur darum geht, ob er denn in den geheiligten Hallen der Royal Society eine Zigarre rauchen darf, – er darf nicht!

Sie sei durch puren Zufall bei einer Recherche zum Thema Spiritismus auf ihre beiden Romanhelden gestoßen, ein Foto habe die beiden Arm in Arm gezeigt, und in einer Danksagung am Ende schreibt Christine Wunnicke dazu: «Ich danke […], dass sie mir ihre Lebensgeschichten überließen». Im Interview hat die Autorin ihre aktuelle Vorliebe für kurze Texte als Roman-Haiku bezeichnet. «Es kriegt ein bisschen was Exemplarisches, es bleibt schwebend, man muss nicht alles ausführen, man kann auch Sachen besser offen lassen, als wenn man einen großen, dickleibigen Roman schreibt». Und in der Tat bleibt hier manches offen, aber so ist das nun mal beim Überirdischen. Die euphorische Rezeption bei den wenigen Kritiken im Feuilleton, aber auch bei Leser-Rezensenten, deutet darauf hin, dass die Autorin eine kleine literarische Nische bedient, – in der auch ich mich nicht wohlgefühlt habe. Selten ist es mir nämlich so schwer gefallen, beim Lesen bis zum Ende durchzuhalten, ich fand einfach keinen Zugang zu diesem Hokuspokus, vom Thema her nicht, aber leider auch nicht von der ebenfalls esoterischen sprachlichen Form.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Berenberg Verlag