Die 27ste Stadt

franzen-2Die uninteressante Natur war uninteressant

«Es stürmt zum Obdachlosenverrecken» – und ich bin froh, ein Buch aus der Hand legen zu können, das solche hirnrissigen Sätze enthält. Für diesen und manchen anderen sprachlichen Lapsus mag der Übersetzer verantwortlich sein, für den miserablen, total misslungenen Roman ist Jonathan Franzen allein verantwortlich. Sein Erstling von 1988 ist das Schlechteste zwischen zwei Buchdeckeln, was mir seit vielen Jahren in die Hände gekommen ist, und das war nicht wenig!

Interessant ist genau genommen eigentlich nur die Frage, warum dieser Roman fast unisono so verrissen wird! Sind wir alle, die wir dieses Buch als grottenschlecht bezeichnen, dem Autor auf den Leim gegangen? Ist das Ganze einfach nur surrealistisch? Oder ist es etwa ironisch gemeint, eine Satire, und wir haben es nicht gemerkt, haben Hinweise darauf übersehen? – Natürlich nicht! Er meint es ernst, der Autor!

Für mich das größte Ärgernis ist der absolut unglaubwürdige Plot, eine wahrlich aberwitzige Konstruktion. Eine junge Inderin wird Polizeichefin in St. Louis (sic!) und zettelt eine Verschwörung an, deren letztendliches Ziel ebenso rätselhaft wie ominös bleibt. Ihren hartnäckigsten Widersacher bekämpft sie, indem sie sein Familienglück komplett zerstört und ihn damit zermürbt. Sie scheitert aber am Ende, weil das Referendum über die von ihr betriebene Fusion von Stadt und Landkreis grandios misslingt. Was soll das alles, fragt man sich erstaunt, denn man wird derartig mit erzählerischen Details zugemüllt, dass man schnell jeden Überblick und erst recht jedes Interesse verliert. Franzen spinnt in seiner naiven Gut-Böse-Sicht immer wieder neue Erzählfäden, die irrationale Handlung mäandert noch üppiger als das Mississippi-Delta, und als Krönung baut er auch noch unlogische und völlig überzogene Thrillerelemente mit ein. Seine in Regimentsstärke aufmarschierenden, meist unsympathischen Protagonisten sind widersprüchliche Figuren, deren Absichten undurchschaubar bleiben.

Auch sprachlich ist der mit 670 Seiten recht dickleibige, geschwätzige US-Roman ein einziges Fiasko. «Die uninteressante Natur war uninteressant» erfahren wir verdutzten Leser vom tiefsinnigen Autor, wie gut, dass fünf Seiten später Franzen endlich fertig war mit seiner unsäglichen Geschichte!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Der Fänger im Roggen

salinger-1Null Bock

Es gibt nicht viele Schriftsteller, deren Ruhm sich praktisch auf einen einzigen Roman gründet wie bei Jerome David Salinger mit seinem 1954 erschienenen Klassiker «Der Fänger im Roggen». Nicht nur dass unzählige Schüler und Studenten sich damals mit dem Buch als Pflichtlektüre befasst haben, das Jahrzehnt des Erscheinens seines einzigen Romans wurde in der US-amerikanischen Literaturgeschichte sogar häufig als «Ära Salinger» bezeichnet. Der ungemein erfolgreiche Roman hat die Leserschaft damals schon polarisiert, und er tut es heute immer noch. Was keineswegs gegen ihn spricht, wie ich meine.

Holden gehört nicht zu den Romanhelden, die man sympathisch finden oder mit denen man sich identifizieren könnte als Leser. Als 16-Jähriger hat er Probleme mit dem Erwachsenwerden, verweigert jegliche Leistung, die unabdingbar scheint auf dem Weg ins Leben. Und damit in eine Welt; die er zutiefst verachtet, weil er sie als verlogen durchschaut hat. Wegen seiner Null-Bock-Haltung fliegt er aus dem College und durchlebt eine traumatische Odyssee auf dem Weg nach Hause. Anders als Goethes Werther verzweifelt er an der Gesellschaft, sucht den alternativen Lebensentwurf. Erst spät wird ihm klar, dass er vom einfachen Leben träumt, in einer einsamen Blockhütte mit Frau und Kindern.

In diesem Szenario bewegt sich der nur drei Tage umfassende, einsträngig erzählte Plot, dessen Ich-Erzähler einerseits merkwürdig reif und altklug wirkt, der aber durchaus auch noch kindlich erscheint, insbesondere was seine Sprache anbelangt. An der scheiden sich nämlich die Geister, besser gesagt die Leser, es ist ein unflätiger Slang, der gleich mehrere Probleme aufwirft. Erstens ist so etwas immer schwer zu übersetzen, auch ist der Jugendjargon vor sechzig Jahren ein anderer gewesen als heute, und außerdem besteht generell eine Krux darin, dass die Generationen sich zuweilen auch sprachlich fremd sind. Eine im aktuellen Argot geschriebene Geschichte dürfte auf viele Leser genau so abstoßend wirken, mir fällt da als Beispiel spontan «Axolotl Roadkill» von Helene Hegemann ein. In vielen Rückblenden, oft als Bewusstseinsstrom erzählt, breitet Salinger das Leben seines Helden vor uns aus, er beginnt mit dem Satz: «Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr’s genau wissen wollt». Zu diesem sprachlichen Duktus gesellt sich ein köstlicher, unterschwelliger Humor, so wenn Holden zum Beispiel von seiner Großmutter schreibt: «… sie schickt mir ungefähr viermal im Jahr Geld zum Geburtstag». Oder er sinniert darüber, dass er sich eine Lungenentzündung holen könnte und daran stirbt. «Dann überlegte ich, wie diese ganze Blase mich in einen verfluchten Friedhof steckte und so, mit meinen Namen auf dem Grabstein und so. Um mich rum lauter tote Typen. […] Und dann kommen am Sonntag Leute und legen einem einen Strauß Blumen auf den Bauch und den ganzen Mist. Wer will schon Blumen, wenn er tot ist? Keiner». Er spricht häufig den Leser auch direkt an, so wenn er von seinem früh verstorbenen Bruder erzählt: «Ihr habt ihn ja nicht gekannt».

Die Gedichtzeile von Robert Burns «Wenn einer einen trifft, der durch den Roggen kommt» hat Holden falsch verstanden und «trifft» durch «fängt» ersetzt, in seiner Phantasie sieht er sich nämlich, wie er kleine Kinder fängt, die im Roggenfeld herumlaufen und eine Klippe hinunter zu stürzen drohen. Und auch er fällt letztendlich nicht, er ist geläutert durch seine kleine Schwester, die er innig liebt, die er beschützen will. Genau dies ist das Motiv, das im kryptischen Titel dieses berühmten, aber auch schwierigen Romans anklingt, der zu vielfältigen Interpretationen einlädt über Generationen- und Gesellschaftskonflikte wie auch über sexuelle, moralische und psychologische Aspekte.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-1Böses mit Bösem bekämpfen

Als frühes Werk des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt ist «Der Richter und sein Henker» 1950 zunächst als Fortsetzungsroman in einer Wochenzeitschrift veröffentlich worden, er wurde später mehrfach verfilmt. Der Reiz dieses Krimis liegt hauptsächlich darin, dass hier ein Dramatiker am Werke war, der äußerst knapp und konzentriert so erzählt, wie es bei einer Bühnenfassung erforderlich wäre, verständlich also und einfach nachvollziehbar. Es wird wenig ausgeschmückt, der Text bleibt beim Wesentlichen, und es geht Schlag auf Schlag, nicht atemlos, aber zielstrebig. So ist denn auch nach gerade mal hundert Seiten der Fall gelöst und lässt einen verblüfften Leser zurück.

In zwanzig Kapiteln entwickelt Dürrenmatt seine Geschichte vom Kampf zweier Männer, die im Suff vierzig Jahre vorher in Istanbul eine makabre Wette geschlossen hatten: der Berufsverbrecher Gastmann hatte damals gewettet, vor den Augen seines Widerparts, des Kriminalkommissars Bärlach, einen Mord zu begehen, den dieser ihm nicht nachweisen könne. Und Gastmann hat diese Wette gewonnen, – seither hat Bärlach nur noch einen Wunsch, seinen Kontrahenten von damals zur Strecke zu bringen. Als sie nun bei den Ermittlungen des inzwischen in Bern tätigen «Kommissärs» im Mordfall an einem seiner Mitarbeiter erneut aufeinandertreffen, weil Gastmann verdächtigt wird, erklärt der lapidar, auf die Wette anspielend: «Ich rate dir, das Spiel aufzugeben. Es wäre Zeit, deine Niederlage einzusehen.» Es sieht auch ganz so aus, als würde Gastmann, durch höchste politische und wirtschaftliche Kreise gedeckt, sich den Ermittlungen auch diesmal wieder entziehen können, und das, obwohl er für den vehement gegen ihn ermittelnden Kriminalassistenten Tschanz dringend tatverdächtig ist. Der alte Bärlach gibt sich nicht geschlagen: «Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.» Als Gastmann ihm den Tod androht in diesem letzten Gespräch vor dem Showdown, entgegnet der Kommissar: «Du irrst dich. … Du wirst mich nicht töten. … Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen.»

Dieser Roman ist ein Krimi im klassischen Sinne mit einem Verbrechen und dem zugehörigen Detektiv, allerdings verschiebt sich hier die logische Abfolge, denn der Täter ist dem Kommissar längst bekannt, er ermittelt bewusst falsch, um eine Situation heraufzubeschwören, die seinem egoistischem Ziel der Selbstjustiz dient. Sich über alle moralischen Bedenken hinwegsetzend spielt Bärlach sich zum Richter auf und sorgt zudem dafür, dass sein Todesurteil auch sofort vollstreckt wird. Er löst damit gleichzeitig den aktuellen Fall, denn indem er den Mörder auf seinen ewigen Widersacher hetzt, treibt er letztendlich beide in den Tod, – Böses mit Bösem zu bekämpfen gerät hier also zur Katharsis.

In lakonisch knapper Sprache, mit kurzen, einfachen Sätzen, ironisch und zuweilen amüsant, schildert der Autor das turbulente Geschehen, lässt seine kühl und distanziert beschriebenen Protagonisten agieren. Der Plot weist logische Fehler auf, die mich sehr gestört haben: Kein Dorfpolizist, auch keiner aus der Schweiz, würde einen soeben aufgefundenen Ermordeten in dessen Wagen vom Tatort weg zur Wache fahren! Wer lässt sich schon von einer scharfen Dogge anfallen, damit der Kollege sie erschießt und er so zu einer Kugel aus dessen Dienstwaffe kommt? Welcher Kriminalpolizist schießt, selbst angeschossen, mit nur drei Schüssen gleich drei gefährliche Gangster tot? Wilhelm Tell lässt grüßen! Es gibt Dergleichen mehr zu beanstanden, -Fiktion hin, Fiktion her, etwas Realitätsnähe hätte der philosophisch ja interessanten Thematik gut getan. Was also soll der Hype um diesen Roman? Er ist weder ein überzeugender Krimi noch gar ein literarisch hochstehendes Werk!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Korrekturen

franzen-1Vom Scheitern der Familie

Mit seinem dritten Roman ist dem amerikanischen Gegenwartsautor seinerzeit der Durchbruch gelungen. Auch hier steht das scheinbar unaufhaltsame Auseinanderfallen der klassischen Familie im Mittelpunkt, wobei Jonathan Franzen geradezu sezierend deren einzelne Mitglieder als auch das soziale Gesamtgefüge bloßlegt, sie gekonnt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen in ihre Grundelemente zerlegt.

Wir haben es mit fünf Protagonisten zu tun, die jeder für sich als Prototypen verschiedener Charaktere und konträrer Lebensentwürfe angesehen werden können. Enid, frömmelnde und einer überholten, geradezu kitschigen Vorstellung von Familie nachhängende Mutter, träumt vom letztmaligen gemeinschaftlichen Weihnachtsfest der gesamten Familie. Bei Alfred, ihrem herrschsüchtigen und altersstarrsinnigen Ehemann, sind erste Anzeichen von Demenz zu erkennen, und inkontinent ist er auch noch. Sohn Gary, scheinbar erfolgreicher Banker, entspricht am ehesten den Idealen seiner Eltern, ist aber depressiv und hat erhebliche Ehe- und Alkoholprobleme. Chip, honoriger Literaturprofessor, verliert wegen einer Affäre mit seiner Studentin die Stellung, scheitert als Autor und wird in äußerst dubiose Geschäfte in Litauen verwickelt. Denise schließlich, hochbegabte Gourmet-Köchin, verliert ihren Job, weil sie eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau des Chefs hat und irgendwann dann auch noch mit dem Chef selbst im Bett landet.

Eindringlich und detailreich schildert Franzen in breit angelegten Rückblenden die Biografien seiner Figuren, durchleuchtet deren kompliziertes Beziehungsgeflecht. Wir erfahren von Ehekriegen, Krankheiten, Altersqualen, Depressionen, lesbischen Beziehungen, Trennungen, Niederlagen und Triumphen, von allen familiären Irrungen und Wirrungen einer Familie aus dem Mittleren Westen der USA. Vor dem interessierten Leser wird in einem simplen Plot, dessen Höhepunkt das missglückte Weihnachtsfest ist, pessimistisch der Niedergang der herkömmlichen Familie vorgeführt, dargestellt am Beispiel der verkorksten Vita sämtlicher Figuren.

All das ist so üppig angelegt und emotional überfrachtet, dass man unwillkürlich an alte Hollywoodfilme erinnert wird, bei denen man auch nicht viel nachdenken musste, weil einem alles so mundgerecht serviert wurde. Dieser monumentale, amerikanische Erzählstil erinnert an John Updike, Philip Roth oder John Irving, ohne allerdings deren literarische Qualität wirklich zu erreichen. Das Buch mit seinen 780 Seiten liest sich sehr flüssig, und es findet sich auch einiges Amüsante dabei, die Senioren-Kreuzfahrt gegen Ende der Story ist ein gutes Beispiel dafür. Wer sich unangestrengt und extensiv unterhalten lassen will als Leser ist hier bestens aufgehoben.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Fräulein Smillas Gespür für Schnee

hoeg-1Eiskalte Groteske

Dem dänischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Peter Høeg gelang mit seinem Roman «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» 1992 international der Durchbruch. Der mit einigen Preisen, unter anderem dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnete Roman erlangte schnell Bestsellerstatus und wurde schon bald auch verfilmt, wenig überzeugend allerdings. Nicht zuletzt unter diesem Eindruck hat der Autor eine Verfilmung seiner Werke künftig generell ausgeschlossen, er wolle nicht, dass der bildlichen Phantasie seiner Leser durch den Film Grenzen gesetzt werde. Eine wie ich meine durchaus honorige und nachahmenswerte Position, misslungene Verfilmungen gibt es ja zuhauf, wie Romanleser aus leidvoller Erfahrung wissen. Diametral steht dem allerdings der schnöde Mammon gegenüber, die kaum auszuschlagenden finanziellen Verlockungen für die Autoren.

Das Kopfkino des Lesers bekommt jedenfalls reichlich zu tun, um den rasanten Plot mit Smilla Jaspersen, der robusten und überaus zähen Ich-Erzählerin, in Bilder umzusetzen. Der in drei Teile gegliederte, vorwärtsdrängend im Präsenz erzählte Roman ist mehr als ein Krimi, er ist zugleich auch Großstadt-, Wissenschafts- und Grönland-Roman, widmet sich der entseelten Metropole ebenso wie der Gletscherkunde und der Unterdrückung der indigenen Eskimo-Bevölkerung Grönlands. Smilla, halb Inuk und halb Dänin, eine 37jährige arbeitslose Mathematikerin und Geologin, kommt nach dem rätselhaften Todessturz eines kleinen Eskimojungen vom Dach ihres Wohnblocks in Kopenhagen einem kriminellen Komplott von skrupellosen Naturforschern auf die Spur. Sie erkennt an einem winzigen Detail der Spur des Jungen in dem Schnee, der auf dem Dach liegt, dass es Mord war. Dessen Hintergründe will sie klären, die Polizei allerdings ist wenig interessiert, behindert sie eher, und wie besessen von ihrer Mission stürzt sie sich couragiert in ein ebenso turbulentes wie gefährliches Abenteuer, das im Grönland-Eis endet. Mehr zu erzählen verbietet sich bei einem von der Spannung lebenden Roman wie diesem natürlich.

Auch wer wie ich nicht gerade ein Krimifreund ist, wird von dem erzählerischen Sog des handlungsreichen Romans unweigerlich mitgerissen, es geht quasi Schlag auf Schlag. Aber nicht nur das ist Grund für den Spaß beim Lesen, weit mehr hat mich die flapsige, schlagfertige, immer wieder überraschende, ebenso kreative wie amüsante Erzählweise des Autors in ihren Bann gezogen, man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. «Moritz verkehrt dort, weil die Küche gut ist, die Preise sein Selbstgefühl anregen und er es mag, dass man durch die fassadenhohen Spiegelscheiben einen guten Ausblick auf die Leute auf der Straße hat. Benja geht mit, weil sie weiß, dass die Leute auf der Straße durch dieselben Scheiben einen guten Ausblick auf sie haben. Sie haben einen festen Tisch am Fenster und einen festen Ober, und sie essen immer dasselbe. Moritz nimmt Lammniere, Benja eine Schale mit der Sorte Futter, die man Kaninchen gibt.»

Wie zu befürchten lässt der Schwung der Erzählung ab der Mitte spürbar nach, es schleichen sich Längen ein in den 500seitigen Roman, speziell was die wissenschaftliche Thematik anbelangt. Man hat oft Probleme, die Fülle von Details richtig einzuordnen, ihre Relevanz für die Geschichte zu erkennen, wobei die vielen Figuren, speziell was die skurrile Besatzung des Schiffes anbelangt, ebenfalls für einige Verwirrung sorgen. Auch das Ende hat mich nicht wirklich überzeugt, es bleibt zu vieles unplausibel, der Showdown ist absurd überzeichnet. Bei einem ansonsten konsequent dem Realismus verpflichteten Text ein ziemliches Manko, zumindest für die plot-orientierten Leser. Bereichend jedoch sind Grönland, Eis und Schnee als unwirtliche arktische Kulisse, auch die Verhältnisse auf einem Küstenmotorschiff sind für Landratten natürlich interessant, erheiternd aber ist die unbekümmert nassforsche Sprache, in der diese zuweilen fast groteske Geschichte erzählt wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Das Buch der Illusionen

auster-2Das Buch der Slapsticks

In seiner Heimat USA ist der Schriftsteller Paul Auster erstaunlicher Weise weniger erfolgreich, werden weniger seiner Bücher verkauft als in Deutschland und Frankreich, wo er eine große Fangemeinde hat. Das mag an seiner sehr speziellen Erzählweise liegen, für die der Roman «Das Buch der Illusionen» ein typisches Beispiel ist. Auch hier finden sich wieder Männer als kauzige Außenseiter in der Gesellschaft nicht zurecht, suchen nach Identität, auch hier schreibt der Protagonist wie ein Alter Ego des Autors Bücher, gibt es reichlich Intertextualität, bestimmt der pure Zufall das Geschehen in einem komplizierten Plot.

Bei einem Flugzeugabsturz verliert der Literaturprofessor David Zimmer seine Frau und beide Söhne, er versinkt in Depressionen, verfällt dem Alkohol. Zufällig sieht er im Fernsehen einen Stummfilm von Hector Mann, der ihn zum Lachen bringt, zum ersten Mal nach langer Zeit. Er beginnt mit Nachforschungen zu dem 1927/28 sehr erfolgreichen Stummfilmstar, der dann auf mysteriöse Weise plötzlich spurlos für immer verschwand, und schreibt schließlich sogar ein Buch über ihn, das 1987 herauskommt. Anschließend zieht er sich wieder in die Einsamkeit seines Hauses in Vermont zurück. Ein früherer Kommilitone bietet ihm einen Auftrag für die Übersetzung von François-René de Chateaubriands « Mémoires d’outre-tombe» an, der an seiner Autobiografie 35 Jahre gearbeitet und verfügt hatte, sie erst 50 Jahre nach seinem Tode zu veröffentlichen, er wolle aus dem Grabe sprechen. Zimmer macht sich an die Arbeit, kurz darauf erhält er einen Brief aus New Mexiko, Hector Mann lebe noch, habe sein Buch über ihn gelesen und würde ihn gerne sehen. Er zögert, glaubt an einen Schabernack, bis Wochen später plötzlich Alma, eine junge Frau mit einem entstellenden Muttermal im Gesicht, vor seiner Tür steht und den Zögernden auffordert, mitzukommen zu Hector Mann, der im Sterben läge. Sie zieht sogar eine Pistole, um ihn notfalls zu zwingen, die beiden landen aber schließlich noch in der gleichen Nacht zusammen im Bett. Er kann den Stummfilmstar dann tatsächlich noch für wenige Minuten in seinem Krankenzimmer sprechen, am anderen Morgen aber ist Hector tot, und seine Frau macht sich unbeirrbar daran, seine sämtlichen Filme zu verbrennen, wie er es verfügt hat. Bei einem Streit mit Alma, die zu David ziehen will, stürzt die Witwe unglücklich und stirbt, Alma nimmt sich daraufhin das Leben.

Der hier nur knapp umrissene Plot ist prall gefüllt mit Geschichten, Rückblenden zumeist, geschickt aus verschiedenen Perspektiven erzählt, wobei mich insbesondere die Passagen über Filme angesprochen haben. Auster, der reichlich Filmerfahrung mitbringt, versteht es, einen Film derart plastisch zu schildern, sämtliche Einstellungen und Kameraschwenks so detailliert zu beschreiben, dass man ihn im Kopfkino wahrhaftig sieht, – und sich dabei natürlich auch sofort an den brillanten Spielfilm «The Artist» erinnert. Raffiniert verschachtelt der Autor seine zwei Erzählebenen, die turbulente, mitreißende Geschichte von Hector nach dessen spurlosem Verschwinden beispielsweise lässt er Alma während des Fluges nach New Mexiko erzählen.

Sind wir Menschen dem Zufall ausgeliefert, ist unsere Selbstbestimmtheit nur Illusion, wie der programmatische Titel suggeriert, in einem ziellosen Chaos? Ist immer Transzendenz im Spiel oder hilft womöglich das Schreiben, Ordnung ins unstrukturiert Immanente hinein zu bringen? Paul Auster variiert auch in diesem Roman wieder seine Themen: Männer in der Krise, Zufall, Schicksalsschläge, Einsamkeit, Schuld, Identität, kurz gesagt die Existenz des uns Verborgenen, und er stellt das alles vor einen dramatischen Hintergrund, die Unbedingtheit des Todes. Mit seiner überbordenden Themenfülle erscheint der gekonnt erzählte Roman ziemlich überfrachtet, der Plot wirkt geradezu slapstickartig mit seinen vielen Wendungen bis hin zum kitschigen Ende des Buches im Buch. Gut unterhalten aber wird man allemal!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der Ekel

sartre-1Vom philosophischen Olymp

Wenn man von Intellektuellen spricht, drängt sich der Name des französischen Dichters und Denkers Jean-Paul Sartre unwillkürlich als erster auf, – weniger bekannt ist er als Romancier. Während seines für ihn unerfreulichen Aufenthalts als Lehrer in Le Havre entstand sein Debütroman «Melancholia», der vom Verlag Gallimard zunächst abgelehnt wurde und 1938 dann mit erheblichen Kürzungen und Änderungen unter dem Titel «Der Ekel» herauskam. Seine depressive Krise während dieser Zeit der Sinnsuche und Selbstfindung, die ihn für kurze Zeit sogar in eine Psychiatrische Anstalt brachte, bestimmt im Wesentlichen die Thematik in diesem belletristischen Erstling. Dessen Erfolg hat ihn dann darin bestärkt, Romancier zu werden, letztendlich hat er auch dazu beigetragen, ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte zu sichern. Als ihm dann 1964 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, hat er als bisher einziger Preisträger – freiwillig – die Annahme abgelehnt, um sich, wie er sagte, seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Auch Antoine Roquentin, Alter Ego des Autors im Roman, durchlebt eine quälende Daseinskrise. Er ist ein krasser Außenseiter, ständig auf der Suche nach dem Grund für den Ekel, den ihm seine Umgebung anfallartig beschert. Immer wieder sind es insbesondere die Menschen um ihn herum, aber auch die Dinge, tote und lebendige Materie, die in ihm Abscheu und Verzweiflung auslösen, ihn zum Kotzen bringen, ihn in eine tiefe Daseinskrise stürzen. Sartres hier in Romanform artikulierte existentialistische Philosophie läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass der durch puren Zufall auf die Welt gekommene Mensch den Sinn seiner Existenz selbst herausfinden, ihn ganz individuell für sich definieren muss. Der Protagonist ist in der fiktiven Hafenstadt Bouville, – was so viel bedeutet wie «Schlammstadt» -, mit der Arbeit an einem historischen Werk über den Diplomaten Rollebon beschäftigt, er sieht darin die einzige Rechtfertigung für seine Existenz. In der Sprache allein erkennt der Autor das Werkzeug, die Welt zu verstehen, hinter dem Existierenden das Sein zu entdecken. Hinter seiner Figur Roquentin als «Existenz» schimmert für ihn also als «Sein» dessen Studienobjekt Rollebon durch, was letztendlich bedeutet, dass wir es hier mit einer ersten Ausprägung eines Antihumanismus á la Sartre zu tun haben. «Die Existenz kommt vor dem Wesen» lautet seine Definition, anders gesagt: Der auf die Welt geworfenen menschlichen Existenz folgt als Essenz sein Tun.

Der dreißigjährige Ich-Erzähler Roquentin berichtet in einer tagbuchartigen Sammlung von Beobachtungen, Erlebnissen und Reflexionen über seinen Ekel an der Welt, der ihn oft in tiefe Depressionen stürzt. Dann vermag nur der Jazztitel «Some Of These Days» ihn aus seiner lethargischen Stimmung zu befreien, aus dem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit. Sein ebenso freudloses wie einsames Dasein führt ihn in endlosen Streifzügen durch die Hafenstadt, in die immer gleichen Restaurants und Bars, in die Bibliothek vor allem. Dort trifft er den seltsamen Autodidakten, der seit vielen Jahren in alphabetischer Reihenfolge die komplette Buchsammlung liest und mit dem er zuweilen ins Gespräch kommt, ohne dass eine engere Beziehung zwischen ihnen entsteht. Die Wirtin seines Stammlokals geht ohne Bezahlung mit ihm ins Bett, die Beiden kommen sich aber nicht näher, sie bleiben unpersönlich beim Sie. Auch der Besuch seiner alten Freundin Anni endet im Frust, sie haben sich völlig entfremdet.

Sartre erweist sich als scharfer Beobachter, in einer ebenso präzisen wie eleganten Sprache erfasst er selbst kleinste Details, feinste Regungen seiner Figuren. Seine elegische Geschichte ist als Plot ereignisarm, der Lesegenuss liegt allein in der Gedankenwelt, die da vor dem Leser ausgebreitet wird, – die aber nicht immer leicht zu verstehen ist und viel Mitdenken erfordert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Kunst des Erzählens

wood-1Ein Marketing-Trick des deutschen Verlegers

Wer hat da nicht drauf gewartet als eifriger Romanleser! Es gibt jetzt endlich ein Buch, das uns die schwierige Frage beantworten will, «was unterscheidet einen guten Roman von einem schlechten», wie es im Klappentext heißt. Geschrieben von dem englischen Kritikerpapst James Wood, bisweilen tatsächlich als berühmtester Literaturkritiker der Welt apostrophiert, zugleich Professor für Literaturkritik an der Harvard-University, was reichlich vorhandene Fachkompetenz erwarten lässt, aber selbstverständlich keine Unfehlbarkeit wie bei den echten Päpsten in Rom.

In einer präzisen Sprache ohne akademische Attitüde erfahren wir viel Wissenswertes zum Thema Erzählen in Schriftform, als Prosa natürlich. Bei seinem Bemühen, die verborgenen Geheimnisse der hohen Schreibkunst offenzulegen, führt uns Wood tief hinein in die Methoden der Textanalyse. Er erklärt kenntnisreich und an vielen Beispielen alle Aspekte der Erzähltechnik: Sprachstil und Ausdruck, erlebte Rede, Dialog, deskriptive Pause, Perspektive, runde und flache Figuren, Detailauswahl, Metaphern und Konventionen. Auffallend ist, dass dabei der Plot als essentieller Bestandteil einer Geschichte nahezu unbeachtet bleibt, was in ziemlichem Gegensatz zur Erwartungshaltung, ja zum Kennzeichen der persönlichen Lesebiografie der allermeisten Romanleser stehen dürfte. Stattdessen solle der Leser sein «drittes Ohr» sensibilisieren für subtile Anspielungen und historische Bezüge des Erzählten!

Was denn auch prompt einigermaßen schwerfällt angesichts Woods einseitiger Orientierung zum literarischen Realismus hauptsächlich des 19. Jahrhunderts, womit er sicherlich viele Leser ausgrenzt bei seinen klugen Erläuterungen, was «hohe» Literatur ist. Er beschäftigt sich besonders intensiv mit Flaubert, wenn er uns erklären will, worauf es sich zu achten lohnt. Zeitgenössische Autoren hingegen werden recht stiefmütterlich behandelt bei Wood, nur David Foster Wallace wird häufiger erwähnt. Der deutsche Leser gar wird sich verwundert die Augen reiben, Goethe, Fontane, Mann führen nur ein Schattendasein in Woods literarischem Kosmos, kaum der Rede wert. Warum das so ist, kann jeder leicht nachvollziehen, der in einer Londoner Buchhandlung mal nach Büchern dieser Autoren fragt, er wird nur erstaunte Rückfragen auslösen. Goethe what? Can you spell it out, please!

Womit das ewige Problem der Fremdsprachen deutlich wird, die unsere Literaturwelt in viele Sprachinseln aufteilen. Es werden also Übersetzungen erforderlich, bei denen dann manches, wie am Beispiel eines französischen Wortklangs demonstriert wird, einfach unübersetzbar ist. Die recht einseitig hauptsächlich Woods englischer Muttersprache zugewandte Buchauswahl hat jedenfalls zur Folge, dass vieles nicht nachvollziehbar ist, weil man die Konventionen nicht kennt, die dem Text zugrunde liegen. Aber auch, weil man die Autoren und ihre Romane nicht kennt, von manchen noch nie gehört hat, manches auch gar nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Damit fehlt, mir jedenfalls, häufiger mal die Verständnisgrundlage, ein ziemliches Manko für dieses ambitionierte Werk.

Das euphorische Vorwort von Daniel Kehlmann ist ein deutliches Indiz für die eigentliche Zielgruppe dieses Buches, für Leute die schreiben nämlich, die hier dann auch einen üppig bestückten literarischen Werkzeugkasten vorfinden samt detaillierter Gebrauchsanweisung. Reine Leser hingegen ziehen ihren Nutzen en passant, indem sie den Schriftstellern über die Schulter schauen quasi. Warum wir lesen und was das Lesen bewirkt, das findet man ziemlich versteckt in einer der vielen Anmerkungen im Anhang des Buches. Was aber gut ist als Roman, das müssen wir uns selbst zusammenreimen, das kann man nämlich nicht generell und für jeden passend definieren, da ändert auch dieses interessante Buch nichts dran. Insoweit ist die im Klappentext gleich mit dem ersten Satz versprochene Aufklärung für den erwartungsvollen Leser nichts weiter als ein Marketing-Trick des deutschen Verlegers.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
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3000 Euro

melle-1Da ist ein Mensch drin

Mit seinem dritten Roman «3000 Euro» hat sich Thomas Melle auf vermintes Gebiet begeben, eine Reise in den sozialen Untergrund, zu den Verlierern der deutschen Wohlstandsgesellschaft und des Turbo-Kapitalismus im 21ten Jahrhundert. Während der Wohlstand einer elitären Oberschicht rasant wächst, vergrößert sich scheinbar ebenso unaufhaltsam die Gruppe der Bevölkerung am unteren Rande der Gesellschaft, im Prekariat, jenem modernen Nachfolger des Proletariats. Eine ungute Entwicklung, die nicht nur schreiend ungerecht ist, sondern irgendwann auch politisch brisant werden kann. Aber Politik ist kein Thema in diesem Roman, es geht ausschließlich um die Lebenssituation der Underdogs, dargestellt am Beispiel zweier symptomatischer Figuren aus dieser trost- und hoffnungslosen Gesellschaftsschicht.

«Da ist ein Mensch drin, auch wenn es nicht so scheint» heißt es im ersten Satz. «Unter den Flicken und Fetzen bewegt sich nichts. Die Passanten gehen an dem Haufen vorbei, als wäre er nicht da. Jeder sieht ihn, aber die Blicke wandern sofort weiter». Anton, ehemaliger Jurastudent, ist total abgestürzt und lebt auf der Straße, er ist der Mensch unter diesem das wohlanständige Stadtbild störenden Haufen. Er hat ganz unverantwortlich einen Berg von Schulden aufgetürmt, vegetiert dahin als Pfandflaschensammler, wird von seinen Gläubigern unerbittlich verfolgt, steht kurz vor einem Prozess, in dem es um dreitausend Euro geht, die er seiner ehemaligen Bank schuldet. Er beginnt, alle Adressen abzuklappern, bei denen er sich Hilfe erhoffen könnte, beginnend bei seiner schon etwas dementen Mutter, bei seinem Kommilitonen aus alten Uni-Tagen, der heute als Rechtsanwalt arbeitet, bei ehemaligen Freundinnen. Aber er hat keinen Erfolg, schämt sich oder hat Skrupel, zum Beispiel eine teure Armbanduhr seiner Mutter zum Pfandleiher zu bringen, obwohl die Mutter sie wohl gar nicht vermissen würde, verwirrt wie sie ist.

Denise ist alleinerziehende Mutter einer behinderten Tochter, hat einen der ziemlich mies bezahlten Jobs beim Discounter, kommt gerade mal so über die Runden, mehr schlecht als recht. Sie wartet ungeduldig auf den Lohn für einen Pornodreh, mit dem sie ihre Finanzen aufbessern wollte und für den sie sich im Nachhinein schämt, sie wartet auf dreitausend Euro immerhin, ihr großer Traum wäre eine Reise nach New York. In parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt der Autor von dem ebenso mühseligen wie freudlosen Leben der Beiden am Rande der Gesellschaft, von ihren Hoffnungen und von ihrer Resignation. Irgendwann kreuzen sich ihre Wege, und es keimt sehr zögerlich eine zarte Bindung auf zwischen den beiden so oft enttäuschten und gedemütigten Seelen. Der kitschfreie Schluss des mit Empathie erzählten Romans ist dann ziemlich überraschend, er soll deshalb mit Rücksicht auf potentielle Leser hier nicht schon vorab ausgeplaudert werden. Der Autor zeigt andererseits aber kühl und gnadenlos ebenso auch die emotionalen Schattenseiten seiner Protagonisten auf, berichtet vor allem von deren erschreckender Realitätsferne und Lebensuntüchtigkeit.

Ein Sujet wie dieses ist natürlich nicht geeignet zum Wohlfühlroman, die eigentlich unerfreuliche und betroffen machende Geschichte ist allerdings sehr berührend, und gut erzählt ist sie allemal. Thomas Melle findet stimmige Formulierungen, so wenn er zum Beispiel über die aufkeimenden Gefühle der skeptischen Denise schreibt: «Sie hat sich nicht verliebt, nein, eher verfühlt. Seit vorgestern denkt sie an Anton, aber nicht als eine Beute, sondern als etwas zu Bergendes». Man könnte den Roman einfach unter der Rubrik Kapitalismuskritik einstufen, obwohl das Wort Hartz IV nicht vorkommt, und von Westerwelle- Dekadenz kann erst recht keine Rede sein. Ich sehe in ihm eher eine durchaus lesenswerte Beschreibung des Prekariats der Jetztzeit, angereichert mit glaubwürdigen Psychogrammen von typischen Losern, scharf beobachtet und nüchtern analysiert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Ausgesperrten

jelinek-1Felix Austria

Das «glückliche Österreich», für mich unauslöschbar mit dem lateinischen Spruch «Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube» verbunden, hat es als Ergebnis geschickter Machtpolitik während der habsburgischen Zeiten gegeben, heute hingegen, vor allem wenn es um Kunst geht und besonders um Literatur, ist davon nichts mehr zu spüren, es ist eher unfrohe Zwietracht angesagt. Zu den von ihren Landsleuten heftig angefeindeten «Nestbeschmutzern» der Alpenrepublik gehört neben Thomas Bernhard insbesondere auch Elfriede Jelinek. Deren Kritikern ist mit dem Literatur-Nobelpreis von 2004 allerdings ein wenig der Wind aus den Segeln genommen worden. Ihre Werke, so das Nobelkomitee, würden nämlich «mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen». Wer den Roman «Die Ausgesperrten» liest, wird das vollinhaltlich bestätigt finden, die Autorin schreibt darin scharfzüngig gegen Missstände in der österreichischen Gesellschaft der Nachkriegszeit an, in der das Wirtschaftswunder wie ein blickdichter Schleier die böse Vergangenheit zu verstecken suchte. Ein Blick in ihre Biografie verdeutlicht und erklärt ihre kritische Perspektive, insbesondere auch ihren Hass auf das so hartnäckig verdrängte Nazi-Erbe ihres Vaterlandes.

Wohliges Behangen stellt sich jedenfalls nicht ein, wenn man diesen Roman liest, in dem Jelinek dem Leser auf Basis einer wahren Begebenheit von einer Gruppe Jugendlicher erzählt, die auf ihre sehr spezielle Art gegen die verhasste Gesellschaft opponieren. Dabei schrecken sie nämlich auch vor brutalster Gewalt nicht zurück, wobei sich aber sowohl ihre Motive als auch ihre ganz persönlichen Lebenssituationen als recht unterschiedlich erweisen.

Da sind die vor der Matura stehenden Zwillinge Rainer und Anna, die aus einer einfachen Familie stammen mit einem beinamputierten Vater, der bei der SS war und nun als Nachtportier seine Invalidenrente aufbessern muss. Er tyrannisiert seine Frau, zwingt sie sogar zu obszönen Fotos, demütigt sie auf jede erdenkliche Weise. Die Jugendlichen wissen davon, bleiben aber seltsam unbeteiligt, verhalten sich sogar krass abweisend, flüchten sich in ihre eigene Gedankenwelt. Rainer beschäftigt sich mit Camus und Sartre, fantasiert sich eine eigene Pseudo-Philosophie zurecht, die in nackter Gewalt gipfelt als Fanal gegen die verhasste Gesellschaft mit ihren verlogenen Konventionen. Seine eher unscheinbare, musikalisch begabte Schwester Anna bewundert ihn und folgt ihm blindlings, fungiert bei den gemeinsam verübten Raubüberfällen zur Aufbesserung des Taschengeldes als erotischer Lockvogel. Ihre Klassenkameradin Sophie kommt aus der Upperclass, ihr erfolgreicher Lebensweg ist deutlich vorgezeichnet, was sie aber eher langweilt, sie ist vielmehr fasziniert von Macht verleihender, krimineller Energie, vom Nervenkitzel verbrecherischer Aktionen. Vierter im Bunde ist der deutlich ältere Schlosser Hans, ein eher einfältiger Prolet, der von einer besseren Zukunft träumt und die ihm intellektuell weit überlegenen Gymnasiasten bewundert, ganz nebenbei aber auch lebhaft an beiden Mädchen interessiert ist.

Die Autorin benutzt einen provokanten, sarkastischen Stil, der stellenweise auch vulgär und obszön erscheint, so wenn sie zum Beispiel fast höhnisch über die eher unbeholfenen ersten sexuellen Kontakte der Gruppe schreibt. Der mit ihrer Thematik verfolgten Intention verleiht sie jedoch in glasklarer Sprache wirkmächtig eine Stimme, was der gequälte Aufschrei ihrer vielen konservativen Kritiker eindrucksvoll belegt. Der davon unbeirrte Leser sollte darauf gefasst sein, urplötzlich mit brutalsten Details konfrontiert zu werden, unversehens in grausige Szenarien hineinzugeraten wie dem Überfall gleich am Anfang des Romans und erst recht dem alles die Krone aufsetzenden Showdown an seinem Ende.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Der Mensch in der Revolte

camus-1Ein intellektuelles Abenteuer

In der 1951 erschienenen Essay-Sammlung «Der Mensch in der Revolte» befasst sich Albert Camus mit dem Kampf des Menschen gegen die Unterdrückung. Als Autor setzt er sich mit seiner Thematik aber nicht nur in Essayform auseinander, die Revolte wurde von ihm als Stoff auch in seinem berühmten Roman «Die Pest» und im Bühnenwerk «Die Gerechten» bearbeitet, ein Triptychon literarischer Formen. Bei seinem Thema, das man vereinfacht als klassische Herr/Knecht-Problematik bezeichnen könnte, distanziert sich Camus strikt vom autoritären Sozialismus, insbesondere dem Kommunismus stalinscher Prägung, was denn auch prompt zum Bruch mit seinem Freund Jean Paul Sartre führte. Das Nobelkomitee zeichnete Camus 1957 aus für ein «wichtiges literarisches Werk, das mit klarsichtigem Ernst die Probleme des menschlichen Bewusstseins unserer Zeit erhellt». Das vorliegende Buch leistete dafür einen nicht unerheblichen Beitrag.

«Zwei Jahrhunderte metaphysischer und historischer Revolte laden … zum Nachdenken ein» heißt es in der Einleitung. Der folgende Abschnitt beginnt mit der Frage «Was ist ein Mensch in der Revolte?» und der lapidaren Antwort: «Ein Mensch, der nein sagt». In den zwei großen Essays der Sammlung widmet sich Camus kenntnisreich zunächst der metaphysischen und dann der historischen Revolte, wobei er sich intensiv mit der Gedankenwelt vieler bedeutender Philosophen und den Werken berühmter Dichter auseinandersetzt, deren Figuren er zuweilen zur Verdeutlichung heranzieht, als Beispiel sei Iwan Karamasow aus Dostojewskis großem Roman genannt. Als Moralist ist Camus an der Frage interessiert, wie man in einer Welt ohne Gott überhaupt weiterleben kann und was den Menschen erwartet, wenn seine Revolte einen spannungslosen Endzustand erreicht hat. Aber weder die außerweltliche noch die innerweltliche Erlösung als Ergebnis der Revolte sind erreichbar, lautet sein deprimierendes Fazit.

Den Gedankengängen des Autors zu folgen setzt beim Leser volle Aufmerksamkeit voraus, macht bei nicht einschlägig vorinformierten Lesern umfangreiche Recherchen erforderlich und fordert darüber hinaus sehr viel Zeit und Muße. Alle diese Essays sind inhaltsschwere und hoch komprimierte Texte, so dass man als Leser, von philosophischen Insidern mal abgesehen, sich von Satz zu Satz vorantastet und zu verstehen sucht, welche Aussage, welche Anspielung, welcher Bezug darin enthalten ist. Wer sich dieser Mühe unterzieht, findet ein Füllhorn elegant und treffend formulierter Gedanken, an denen er sich abarbeiten kann bei einem wahnwitzigen Parforceritt durch zweihundert Jahre Geistesgeschichte. Vor allem aber wird er sich am Ende bereichert fühlen durch originelle Ideen und kluge Einsichten, denen man in diesem Buch so überaus reichhaltig begegnet.

Bleibt die Frage zu klären, ob dieser Essayband mehr als sechzig Jahre nach seinem Erscheinen nicht überholtes Gedankengut enthält. Was die metaphysische Revolte anbelangt kann man dies absolut verneinen, historisch allerdings ist der Erkenntnisstand inzwischen natürlich ein anderer, vor allem in Hinblick auf den Sozialismus, dem Camus nahe stand und dessen Niedergang er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hat voraussehen können. Hinzu kommen die Entwicklungen der neueren Geschichte, vor allem die des Terrors als aggressivster Form der Revolte, gleichwohl sind in seinen Ausführungen bereits dessen Keime zu entdecken. In diesem Buch wartet also ein intellektuelles Abenteuer auf wissbegierige Leser.

Fazit: erfreulich

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Rowohlt

Tod eines Kritikers

walser-1Zwischentöne sind eher unerwünscht

Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? so fragte Marcel Reich Ranicki 1976 in der FAZ unter dem Titel «Jenseits der Literatur» gleich zu Beginn seiner Rezension von Martin Walsers Roman «Jenseits der Liebe». Dem wollte ich natürlich auf den Grund gehen und habe den derart niedergemachten Roman nun auch noch gelesen – RR hat Recht, sei angemerkt. Im Jahre 2010 habe ich Martin Walser bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus erlebt, in der er seinen dritten Band mit Tagebüchern vorgestellt hat. Walser, das war an diesem Abend deutlich zu spüren, leidet immer noch unter dem damaligen Verriss, bei ihm schwang seinerzeit, wie er ganz unverhohlen zugab, neben seinem gekränkten Ego auch die Angst vor einem Auflagerückgang seiner Bücher mit, also vor den finanziellen Folgen. Nicht nur für diesen Verriss, sondern auch für einige andere aus gleicher Feder, ist der heftig umstrittene Roman «Tod eines Kritikers» nun Martin Walsers späte literarische Rache.

Es ist ein amüsanter Einblick in den Literaturbetrieb, unverkennbar eine Satire, geschrieben von einem Insider, einem ausgesprochenen Vielschreiber zudem, dessen literarische Qualitäten mitunter recht kontrovers diskutiert werden. Wir erleben in Walsers Buch eine Abrechnung mit einer einzigen Person, dem tückischen und damit als sadistisch entlarvten Kritiker-Papst, dessen Selbstüberschätzung grenzenlos zu sein scheint. Hat er doch durch das Medium Fernsehen eine Bühne gefunden, einen Thronsaal vielmehr, wie Walser das äußerst süffisant beschreibt, die ihn geradezu allmächtig werden lässt. Leider wird vieles in dieser opulenten Geschichte, mancher Witz, manche Anspielung, nur Insidern verständlich sein. Und auch manche seiner anschaulich und mit allen ihren Macken beschriebenen Protagonisten, realitätsnahe Karikaturen ihrer selbst, werden nur intime Kenner der Literaturszene zutreffend demaskieren können. Aber das tut dem Lesespaß des Außenstehenden keinerlei Abbruch, wenn er denn aufnahmefähig ist für eine genüsslich erzählte, einem Kriminalroman nicht unähnliche Geschichte, die mit unendlich vielen Arabesken geschmückt langsam einem, wäre man nicht vorinformiert, durchaus überraschenden Ende entgegen treibt.

Walsers konjunktivträchtige Erzählweise mit durchweg indirekter Rede ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit findet man sich aber gut damit zurecht und empfindet sie schließlich sogar als wirkungsvolles Stilmittel in einem Roman, der ja die Literatur selbst zum Inhalt hat. Flüssig geschrieben ist dieser Roman jedenfalls nicht, er erfordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers, damit er seine Wirkung entfalten kann. Dann aber schwebt der Leser in einem literarischen Universum, in dem es vieles zu bestaunen gibt. Man begegnet Nietzsche und Goethe, die mit bewundernswerter Leichtigkeit treffsicher eingebaut sind, lernt ganz nebenbei Heinrich Seuse, den deutschen Mystiker aus dem Mittelalter kennen, der Bogen spannt sich weiter bis zu Homer und mitten in die griechische Götterwelt hinein. Walsers Gedankengänge sind eine bissige Persiflage auf die Literaturszene, als ein kleines Beispiel dafür sei hier eine skurrile Idee des Kritiker-Papstes genannt, der selber gelegentlich Gedichte schreibt. In seinem Wahn, immer der Beste zu sein, plant er seine Lyrik von seiner Frau ins Französische übersetzen zu lassen und unter Pseudonym zu veröffentlichen. Niemand Geringerer als ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger würde dann diese Gedichte ins Deutsche zurück übersetzen, und er könne sich später als der wahre Autor zu erkennen geben und mit den Originalen zeigen, dass er die bessere Lyrik schreibe. Wer für Derartiges eine Antenne hat, der kommt auf seine Kosten bei diesem Roman. Er wird sich, wie ich, für einige Lesestunden vergnüglich unterhalten.

Der Medienrummel um dieses Buch war sicherlich hilfreich für Martin Walser, es kommt dem Autor letztendlich ja immer zugute, wenn sich die Kritiker mit ihm beschäftigen, jede Rezension ist besser als gar keine, sie erzeugt Aufmerksamkeit und erhöht damit die Auflage. Und dass die Meinungen diametral auseinandergingen bei den Kritikern gehört ebenfalls dazu, es ist business as usual. Womit eben auch bewiesen ist, dass es viele Reich Ranickis gibt, von denen entweder der gnadenlose Verriss oder das euphorische Hochloben von Literatur erwartet wird vom ratlosen Leser, Zwischentöne sind eher unerwünscht.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Sehr blaue Augen

morrison-2Gelungenes Debüt einer großen Autorin

Toni Morrison, Grande Dame der amerikanischen Literatur, thematisiert in ihrem 1970 erschienenen ersten Roman «Sehr blaue Augen» die Wirkung einer Schönheitsnorm, die sich am weißhäutigen Bevölkerungsteil der Vereinigten Staaten orientiert, wo blaue Augen als besonders attraktiv gelten. Dreiundzwanzig Jahre und viele Romane später befand das Nobelkomitee, die farbige Autorin verdiene den Preis «für ihre durch visionäre Kraft und poetische Prägnanz gekennzeichnete literarische Darstellung einer wichtigen Seite der US-Gesellschaft». Denn die Schriftstellerin sieht sich als selbstbewusste Hüterin einer afroamerikanischen Identität, deren Wurzeln von der afrikanischen Herkunft über die Sklavenzeit bis hin zum unermüdlichen Kampf gegen Rassendiskriminierung reichen.

Es beginnt gleich drastisch: «Wenn auch niemand darüber spricht: es gab im Herbst 1941 keine Ringelblumen. Wir glaubten damals, die Ringelblumen gingen nicht auf, weil Pecola von ihrem Vater ein Baby bekam». Mit «wir» sind die neunjährige Ich-Erzählerin Claudia und ihre ein Jahr ältere Schwester Frieda gemeint. Als die elfjährige Pecola daraufhin vom Bezirksamt vorübergehend in ihr armseliges Haus eingewiesen wird, müssen sie sich nun zu dritt das Bett teilen. Anschaulich schildert Morrison den Alltag der zwei Mädchen zwischen Schule und ärmlichem Elternhaus, ihre Händeln mit den Gassenjungen, berichtet vom Bordell in der Nachbarschaft, vom Untermieter, der Frieda unsittlich berührt. «Der Vorspruch und die Kapitelüberschriften in diesem Buch stammen aus den Leseheften Dick and Jane», wird im Nachwort erläutert, und mit eben diesen kitschig süßlichen Sätzen aus dem Alltag einer gutbürgerlichen weißen Familie verdeutlicht Morrison äußerst ironisch den Kontrast zum bedrückenden Geschehen in ihrem Roman.

In Rückblicken und häufig zwischen auktorialer und personaler Erzählweise wechselnd wird über die leidvolle Geschichte der Breedloves berichtet, Pecolas Eltern. Aus der ehemals großen Liebe zwischen Pauline und Cholly entwickelt sich mit zunehmender Trunksucht des Mannes eine Ehehölle. Bis in die frühe Kindheit zurückreichend wird die Vorgeschichte dieser tragischen Ehe erzählt, Cholly wurde als Kleinstkind von seiner Mutter brutal auf dem Müllplatz ausgesetzt. Im Wechsel erzählt Pauline aus der Ich-Perspektive über den Beginn ihrer Beziehung, über das frühe Liebesglück, über den lustvollen Sex des Paares. Ein Koitus der Beiden wird derart stimmig und realistisch beschrieben, detailliert und doch nie obszön werdend, wie ich es bisher noch nirgendwo gelesen habe.

«Es war einmal ein alter Mann» beginnt die Geschichte des ehemaligen Pastors Elihue, den seine Frau verließ, einem Inder, der Seifkopfpastor genannt wird und seine Dienste als Traumdeuter anbietet. «Lass mich Dir nun von den Brüsten kleiner Mädchen erzählen» schreibt er in einem Brief an Gott. «Ich konnte, wie Du wohl noch weißt, meine Hände, meinen Mund nicht von ihnen lassen», eine Neigung, die ihm allerdings keinerlei Schuldgefühle abnötigt. Eines Tages sucht die ungewöhnlich hässliche Pecola ihn auf, regelrecht besessen vom lebenslangen Trauma ihrer mangelnden Attraktivität. Er schreibt: «Weißt Du, weswegen sie kam? Blaue Augen. Neue blaue Augen, sagte sie. Als ob sie sich Schuhe kaufte». Es gelingt ihm durch eine suggestive List, den flehentlichen Wunsch der Wahnsinnigen zu erfüllen. Fortan erblickt Pecola strahlend blaue Augen, wenn sie in den Spiegel schaut, und Claudia lässt sie, in einem längeren Dialog am Ende des Romans, bereitwillig und mildtätig in ihrem Glauben, der sie so glücklich macht.

Dieser Erstling stellt durch seine hoch verdichtete und komplexe Erzählstruktur besondere Ansprüche an die Aufmerksamkeit des Lesers, man kann ihn wie alle folgenden Romane als eine Hommage an die starken schwarzen Frauen ansehen. Kämpferisch kritisiert Toni Morrison einen Rassenhass, der hier in Selbsthass umgeschlagen ist. Ein gelungenes Debüt einer großen Autorin.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Nemesis

roth-1Aus dem Klischee-Baukasten

Als hoch gepriesener US-amerikanischer Schriftsteller liefert Philip Roth mit «Nemesis» seinen, wie er selbst beteuert hat, letzten Roman ab. Die Idee dazu kam ihm durch eine Freundin, die Filmschauspielerin Mia Farrow, die als junges Mädchen an Kinderlähmung erkrankt war. Aber auch die Lektüre von «Die Pest», dem grandiosem Roman von Albert Camus, hat ihn wohl inspiriert. Schon lange als nobelpreiswürdig angesehen, ist ihm, wie auch vielen seiner erfolgreichen nordamerikanischer Kollegen, diese höchste Ehrung bisher versagt geblieben, und zwar wegen der Trivialität ihrer Literatur, so der pauschale Vorbehalt der Jury. Ist diese Kritik denn zutreffend, fragen wir uns.

Die Rachegöttin Nemesis dient dem Miesepeter aus New Jersey, wie der Autor wegen seiner eher trübsinnig machenden Romane mal genannt wurde, als aussagekräftiger Titel für seine düstere Geschichte einer Polio-Epidemie, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, als man der heimtückischen Krankheit also noch weitgehend hilflos gegenüberstand. Durch eine raffinierte Konstruktion in drei Kapiteln gelingt es Roth, seiner eher langweiligen Story eine gewisse Dramatik zu verleihen, die vermutlich manche Leser zu fesseln vermag. Arnie Mesnikoff, der Ich-Erzähler und überzeugte Atheist, steht dabei in krassem Gegensatz zur jüdischen Hauptfigur Bucky Cantor, einem blitzsauberen, hehren Sportmenschen, der leibhaftige Idealtypus des American Hero. Beide erkranken an Poliomyelitis, gehen aber, wie man in einer Art Showdown erst ganz am Ende der Geschichte erfährt, völlig unterschiedlich mit ihrem Schicksal um

Warum lässt Gott uns leiden, warum lässt er grausame Kriege zu, warum überzieht er uns mit solch verheerenden Epidemien? Alles Fragen, an denen sich die Theologen aller Religionen seit Jahrhunderten abarbeiten, ohne auch nur ansatzweise eine überzeugende Antwort zu finden. An genau dieser Frage scheitert auch der gläubige Romanheld, der nicht nur mit seinem Schicksal hadert, sondern, schlimmer noch, an seinen Selbstzweifeln leidet und sich eine Mitschuld an der Ausbreitung der Epidemie einredet. Was für den lebensklugen Ich-Erzähler die Tyrannei der Umstände ist, aus denen man pragmatisch das Beste machen muss, das ist für den vor lauter Moral- und Ehrgefühlen geradezu mystisch überhöhten Helden die pure Theodizee. Er steht der unheilvollen Melange von Schicksalsschlägen und nicht verifizierbaren Selbstvorwürfen jedenfalls völlig ratlos gegenüber.

Ein Abgrund des Trivialen tut sich auf in diesem Roman, Klischees im Übermaß jedenfalls, vom kriminellen Vater, im Kindbett gestorbener Mutter, wahren Gutmenschen als Großeltern, makellosem Doktor als Schwiegervater, bösen Italienern und guten Juden, idyllischem Indianercamp, selbstlosem Liebesverzicht bis hin zum göttergleichen Speerwerfer, der uns am Ende des Buches vorgeführt wird. Hollywood lässt grüßen! Schade eigentlich, denn der Stoff gäbe einiges her, erinnert in seiner Tragik ja durchaus an griechische Dramen. Erzählt ist diese holzschnittartige Geschichte von Idealen, Moral, Verantwortung, Vorurteilen, Schuld und Sühne in einer einfachen, knappen, humorlosen Sprache ohne Raffinesse und Esprit. Lesevergnügen sieht anders aus! Und was die künstlerische Qualität solcher literarischen Produkte anbelangt, hat das Nobelkomitee wohl ausgesprochen weise geurteilt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Licht im August

faulkner-1Erzählkunst auf allerhöchstem Niveau

Von den Werken des Nobelpreisträgers William Faulkners gilt «Licht im August» als der in Deutschland meistgelesene Roman, er hat ihn 1931/32 in nur wenigen Monaten geschrieben. Etwa zur selben Zeit ereignet sich auch dessen Handlung, Ort des Geschehens ist die Kleinstadt Jefferson des Bundesstaates Mississippi in den USA. Ein Südstaaten-Roman mithin, dessen spezielle Problematik bei den meisten Romanen dieses dort geborenen Autors den erzählerischen Hintergrund bildet und auch die Thematik des Plots mit beeinflusst.

Der Handlungsrahmen des in 21 Kapitel aufgeteilten schwermütigen Romans ist die im Wesentlichen im ersten und letzten Kapitel erzählte Geschichte von Lena Grove. Sie dauert nur wenige Tage im August, einer Zeit, die dem Roman seinen Titel gab und von der Faulkner schreibt: «Das Licht ist anders als sonst, es hat auf einmal eine seltsam leuchtende Eigenschaft». Lena ist von dem Taugenichts Lucas Burch geschwängert und sitzengelassen worden, kurz vor ihrer Niederkunft macht sie sich naiv zuversichtlich auf die Suche nach ihm, findet ihn schließlich und muss erleben, wie er sich wieder aus dem Staube macht. Von diesem Rahmen ausgehend schildert Faulkner in vielen Rückblenden die Vorgeschichten seiner diversen, von ihm nach und nach eingeführten Protagonisten, deren gemeinsames Merkmal entweder Schrulligkeit oder Stumpfsinn ist, der sich bei einigen aber auch als eine deutlich ausgeprägte geistige Verwirrung zeigt. Diese einzelnen Geschichten sind unglaublich kunstvoll ineinander verschachtelt, bauen aufeinander auf, ergänzen sich schrittweise in ihren Zusammenhängen und lösen sich erst nach vielen eingeschobenen Begebenheiten in einen vollständig erzählten Handlungsstrang auf.

Im Zentrum steht dabei die Geschichte des Findelkindes Joe Christmas – sie macht allein gut die Hälfte des Romans aus – der zum Mörder wird und am Ende einem Lynchmob zum Opfer fällt. Sein Kumpan ist jener Taugenichts Lucas Burch, mit dem zusammen er, der Prohibition zum Trotz, Whiskey verkauft. Der gutmütige Byron Bunch hat sich in Lena verliebt, er hilft ihr aber trotzdem, den liederlichen Kindsvater zu finden. Bei Gail Hightower, einem ehemaliger Pastor, dessen Frau unter dubiosen Umständen ihr Leben verlor und der völlig zurückgezogen lebt, sucht Byron immer wieder Rat. Auch das Mordopfer Joanna Burden, die mit Joe ein Verhältnis hat, lebt einsam in ihrem Haus, sie berät Farbige und hilft ihnen, womit sie sich aus ihrer Gemeinde ausgrenzt, für die «Nigger» trotz verlorenem Sezessionskrieg und Abschaffung der Sklaverei immer noch Menschen zweiter Klasse sind. Gegen Ende des Romans tauchen dann die Großeltern von Joe auf, es klärt sich nun, wie es dazu kam, dass er Weihnachten vor dem Waisenhaus ausgesetzt wurde, um dann mit fünf Jahren zu einem unglaublich bigotten anglikanischen Ziehvater zu kommen, dessen brutale Methoden bei der Erziehung einiges erklären in seinem späteren Verhalten.

Faulkner erzählt seine komplexe, schwermütige Geschichte in einer unglaublich dichten, kompakten Sprache, die vom Leser stets volle Aufmerksamkeit fordert. Sehr häufig setzt er dabei virtuos Bewusstseinsstrom und inneren Monolog ein, nicht selten sogar kombiniert im gleichen Satz. Seine außergewöhnliche Sprachkunst vermag mit wenigen Worten so immens viel zu transportieren, dass man geneigt ist, nach einigen Seiten eine Lesepause einzulegen, um das Gesagte zu verarbeiten, die solcherart entstandenen Bilder auf sich wirken zu lassen, die Geschehnisse gebührend einzuordnen und zu bewerten. Andererseits wird trotz der ungewöhnlich ruhigen, ebenso gemächlichen wie suggestiven Erzählweise Faulkners beim Leser eine Spannung erzeugt, die ihn immer weiter in die Geschichte hineinzieht und dann nicht mehr ruhen lässt, bis er die letzte Seite erreicht hat. Das ist Erzählkunst auf allerhöchstem Niveau.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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