Ehen in Philippsburg

walser-3So einen Freund wenn er hätte

Seinen Ruf als «Chronist des Mittelstandes» hat Martin Walser gleich mit seinem ersten Roman begründet, 1957 erschienen unter dem deskriptiven Titel «Ehen in Philippsburg», womit das literarische Terrain bereits deutlich abgesteckt ist. Mag die Ehe als Institution in unserer Zeit ihren Alleinvertretungsanspruch auch eingebüßt haben, wie Soziologen versichern und Statistiken belegen, so war sie in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders noch weitgehend «alternativlos», um ein Schlagwort von heute zu benutzen. In seinem Entwicklungsroman schildert der Autor in vier Kapiteln einen umgekehrt zum wirtschaftlichen Aufschwung verlaufenden Niedergang der Moral, das Zerbrechen von festgefügt scheinenden Bindungen.

Der aus der Provinz stammende Journalist Hans Beumann kommt in die Großstadt, um dort seine erste Anstellung zu finden. Dank seiner Studienkollegin Anne erhält er bei deren Vater, einem Fabrikanten von Rundfunk- und Fernsehgeräten, einen Job und findet dadurch schnell Aufnahme in die höheren Kreise der Stadt. Als Anne von ihm schwanger wird und abtreiben soll, wendet sie sich an den Gynäkologen Dr. Benrath, dem in diesem wie ein Reigen aufgebauten Plot das zweite Kapitel gewidmet ist, an dessen Ende der Selbstmord seiner Frau steht, die sein Verhältnis zur schönen Cecile nicht länger ertragen kann. Als der treulose Arzt seine Frau tot auffindet, schaltet er den Rechtsanwalt Dr. Alwin ein, ein Karrierist mit politischen Ambitionen und notorischer Schürzenjäger, der dann beim Flirten einen Autounfall verursacht, bei dem ein Motorradfahrer zu Tode kommt. Der Nachbar von Hans schließlich, der erfolglose Schriftsteller Klaff, von seiner Frau verlassen, begeht Selbstmord, als er auch noch seinen Job als Pförtner verliert, und hinterlässt Hans seine Manuskripte. Nach der Verlobung mit Anne wird Hans in einer grotesken Zeremonie zum «Ritter des Nachtclubs Sebastian» geschlagen, dem Treffpunkt der Prominenz, und landet später mit einer der Animierdamen im Bett, ein Fremdgänger schon vor der Ehe.

Alle diese lose miteinander verbundenen Figuren wirken irgendwie unsympathisch, besonders die Männer erscheinen in keinem guten Licht. Sie werden als rücksichtslose Erfolgsmenschen beschrieben, denen Emotionen weitgehend fehlen, die nur hinderlich scheinen auf ihrem Weg nach oben, zu Ruhm und Macht, zu Geld und Genuss. Walser stellt die Frauen als Accessoire dieser Mannsbilder dar, allenfalls schmückendes Beiwerk, ob als Ehefrau oder als Geliebte. Er beschreibt all dies aus typisch männlicher Sicht und benutzt über lange Passagen hinweg durchaus gekonnt den Bewusstseinsstrom als Stilmittel, – und überrascht dabei mit kuriosen Reflexionen. «Er war ein Ein-Mann-Theater», schreibt er zum Beispiel über die Gedankenwelt des selbstgefälligen Gynäkologen. Und über die Befindlichkeiten des Rechtsanwalts heißt es: «Bei jeder Frau, die er für sich gewann, fragte er nach seinen Vorgängern und ließ sich bestätigen, dass er sie alle bei weitem übertreffe». Hand aufs Herz, wem kommt das nicht bekannt vor?

Leider fällt der erzählerische Schwung nach den ersten beiden Kapiteln spürbar ab, die heraufbeschworenen Bilder erscheinen allmählich klischeehaft, und manche Formulierung fällt denn doch merkwürdig schwäbisch aus: «So einen Freund wenn er hätte!» Man zuckt auch zusammen, wenn man diesen Satz liest: «Alle gegen alle, sagte er, das ist Freiheit». Satirisch überzeichnet hat Martin Walser hier den Ehebruch als fast zwangsläufig und naturgegeben dargestellt, allerdings nur als männliches Fehlverhalten, die Ehefrauen des Romans scheinen allesamt dagegen gefeit zu sein, sie gehen ganz einfach nicht fremd. Wunschdenken eines machohaften Autors? Auch wenn sich in der Sache noch manches andere einwenden ließe, eine vergnügliche Lektüre ist der ironisch erzählte Roman allemal, den drei Todesfällen als überstrapaziertes dramaturgisches Mittel zum Trotz, vielleicht aber auch gerade durch solcherart Übertreibungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Wohin der Wind uns weht

Kein Klassipedro-1ker in spe

Der im portugiesischen Original 2012 erschienene Debütroman von  erhielt in der deutschen Übersetzung den deskriptiven Titel «Wohin der Wind uns weht». In einem kleinen Epos wird die Geschichte der Familie Mendes erzählt, drei Generationen umfassend bis in die Gegenwart und gespiegelt an den politischen Geschehnissen dieser Zeit. Der Autor, als Ingenieur arbeitslos geworden, hat dazu erklärt: «Ich war kein guter Ingenieur. Denn ich dachte die ganze Zeit an Literatur. Darum wurde ich wahrscheinlich auch entlassen. Aber das bot mir die Gelegenheit zu schreiben.» Die Rezeption seines Erstlings war allenthalben positiv, euphorisch wurde ihm von der portugiesischen Wochenzeitung Expresso gar ein Platz unter den Klassikern der Weltliteratur prognostiziert. Ein Wunder also, oder übertriebene Lobhudelei?

Zeitlich effektvoll startet die Geschichte am 25. April 1974, dem Beginn der Nelkenrevolution, mit der sich die Portugiesen von einer mehr als vierzigjährigen Rechtsdiktatur befreit haben. An diesem Tage «schnallte sich Celestino weit vor sieben Uhr den Patronengürtel um, schulterte die Browning, prüfte, ob er noch Tabak und Blättchen hatte, vergaß die Uhr an dem Nagel, wo außerdem ein Kalender hing, und verließ das Haus.» Vierzig Jahre zuvor hatte Großvater Augusto Mendes, auf der Suche nach dem einfachen Leben, seinem Freund Policarpio dessen verfallenes Haus in einem abgelegenen Gebirgsdorf Zentralportugals abgekauft und sich dort als Arzt niedergelassen. Er hatte damals dem Freiheitskämpfer Celestino bei sich Unterschlupf gewährt, ihm mit einem Glasauge neuen Lebensmut gegeben, aber jetzt hat ihn das Schicksal doch noch erreicht, er wird ermordet aufgefunden. Es gehört zu den Eigenarten dieses fragmentarisch erzählten Romans, dass auch diese nur unvollständig skizzierte Episode gleich zu Beginn erst ganz am Ende noch mal kurz erwähnt wird, Näheres erfährt man auch dort nicht. Von Policarpio wiederum bekommt Augusto jedes Jahr einen Brief, lückenlos vierzig Jahre lang, er schreibt aus aller Herren Länder, von allen Kontinenten, und führt offensichtlich ein abenteuerliches Leben.

Diese Briefe bilden eine lose Klammer im Plot und spielen auch am Ende eine Rolle, tragen ein wenig bei zu Klärung offener Fragen, von denen es viele gibt in diesem Roman. Zentrale Figur darin ist Duarte, Enkel von Augusto Mendes, ein lebensuntüchtiger Außenseiter, gleichzeitig aber auch musikalisches Wunderkind. Sehr bald aber wendet er sich von Mozart ab, mag irgendwann dann auch Beethoven nicht mehr, zuletzt sogar Bach. Er hasst plötzlich die Musik, hasst sein pianistisches Talent, kann dem dadurch entstandenen Erwartungsdruck nicht standhalten und beendet abrupt seine Karriere. «Nicht ich habe angefangen, Klavier zu spielen. Das waren meine Hände» erklärt er lapidar seinen Sinneswandel. Sein Vater Antonio wiederum kehrt als psychisches Wrack aus dem Kolonialkrieg in Afrika zurück und ist erstaunt, dass seine Frau ihn mit dem kleinen Duarte am Kai erwartet.

Episodenhaft präsentiert Pedro uns ein wahres Labyrinth an Erinnerungsspuren in wunderbar poetischen Bildern, jedes Kapitel hat bei ihm seinen eigenen Stil. Ein schönes Beispiel dafür ist die berührende Episode der beinamputierten Malerin mit dem blauen Kopftuch, die sich in dem Ölgemälde «Der Kampf zwischen Karneval und Fasten» von Pieter Bruegel wiedererkennt. Eine spezifisch portugiesische Melancholie, erklärt der fabulierfreudige Autor, «die wir Saudade nennen und welche die Menschen prägt», kennzeichne seine Prosa. Zuweilen aber fällt sie auch dezent ironisch aus und ist dann amüsant zu lesen, auch wenn sie mir sprachlich nicht immer wirklich gelungen erscheint. Durch eine extrem fragmentarische Erzählweise, kryptische Anspielungen und komplizierte Verschachtelungen des Plots entstehen störende Verständnislücken, die auch mit viel Phantasie und Intuition kaum zu füllen sind. Zum Klassiker dürfte dieses eigenwillige Werk wohl kaum taugen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der dritte Zustand

oz-2Licht von droben

Im Werk des hochgeehrten israelischen Schriftstellers Amos Oz greift auch «Der dritte Zustand» von 1992 Themen auf, die typisch sind für ihn sind, – im selben Jahr wurde ihm prompt der «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» verliehen. Da sind zunächst die permanenten politischen Spannungen in Israel als objektiver Faktor zu nennen, dem die zutiefst menschlichen Eigenschaften seiner Figuren als subjektive Faktoren gegenüber gestellt sind. Aus diesen existenziellen Urtrieben und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erwachsen permanent Konflikte, ein Dilemma konträrer Einflüsse also, das den Nährboden bildet für seine stets mit ironischem Unterton erzählten Geschichten. In denen dieser alltäglich zu bewältigende Balanceakt zwar nicht immer gelingt, die aber gleichwohl auf ein hoffnungsvolles, tröstliches Ende hinauslaufen, so auch im vorliegenden Roman.

In dreißig Kapiteln wird die Geschichte von Efraim Nissan erzählt, einem vierundfünfzig Jahre alten Intellektuellen, von seinen Freunden zuweilen Effi, meistens aber Fima genannt. Er ist geschieden und kinderlos, lebt allein in einer vom wohlhabenden Vater finanzierten Wohnung in Jerusalem, arbeitet weit unter seinen geistigen Fähigkeiten am Empfang einer gynäkologischen Gemeinschaftspraxis. Ein liebeswerter, blitzgescheiter Wirrkopf, weltfremd und lebensuntüchtig, «… das Abbild eines Schlemihls, der mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen war und niemals lernen würde, einen tropfenden Hahn zu reparieren oder einen Knopf anzunähen», wie es im Roman lapidar heißt. Der von diversen Rückblenden ergänzte, linear erzählte Plot ist im Jahre 1989 angesiedelt und greift in seinen gesellschaftlichen Aspekten die damalige Situation in Staate Israel auf, zeigt die seinerzeit agierenden Politiker und maßgeblichen Wissenschaftler in ihren politischen Auseinandersetzungen. Fima nun führt mit seinen Freunden erbitterte Diskussionen über strittige politische Fragen und über vielerlei andere Probleme. Er erweist sich dabei einerseits als äußerst intelligenter Kopf mit unorthodoxen Ideen, ist andererseits aber auch sehr gefürchtet als lästiger, Ort und Zeit ignorierender Disputant, den man kaum noch loswird, hat er sich erstmal in ein Thema verbissen.

Mit Chamissos Märchenfigur Schlemihl hat Amos Oz die Tragik seines Helden treffend umschrieben. Er leidet unter dem Identitätsverlust eines einst hoffnungsvollen Wissenschaftlers, dessen Karriere nicht stattgefunden hat, dessen geistige Fähigkeiten sich nur noch in gelegentlichen Zeitungsartikeln artikulieren oder in hitzigen Debatten im privaten Kreis. Ein hoch gebildeter, gutmütiger Spinner, immer hilfsbereit, bei den Frauen erfolgreich auch ohne männliche Ausstrahlung, attraktiv allein durch seine Bereitschaft, zuzuhören, mitfühlend auf Probleme einzugehen. Ein ewiger Grübler, im Roman sprachlich in Form häufiger innerer Monologe dargestellt, deren Sätze sehr oft mit Fragezeichen enden. Den titelgebenden «dritten Zustand» schließlich verortet Fima kontemplativ zwischen Wachsein und Schlaf: «Nur wenn ein Wintermorgen wie dieser in einem durchscheinenden Lichtschleier aufzieht, den vielleicht der archaische Ausdruck nehora ma-alja, Licht von droben, umschreibt, nur dann kehrt die Wonne der ersten Berührung auf die Erde und in deine sehenden Augen zurück».

Mit ausgedehnten philosophischen Exkursionen, aber auch mit einer unverkennbar versöhnlichen, dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Situationsanalyse dieser Krisenregion im Nahen Osten, bereichert dieser Roman seine Leser immer aufs Neue. Störend fand ich die als Chaot maßlos überzeichnete Figur des Protagonisten Fima, den sein Autor in alle denkbaren Fettnäpfchen treten lässt, was anfangs noch zu amüsieren vermag, irgendwann aber als klischeehaft überladen nur noch lästig ist. Amos Oz nutzt seinen Protagonisten – mit gutem Recht – als Sprachrohr für eigene Auffassungen und Erkenntnisse, es lohnt sich deshalb, diesen Roman aufmerksam zu lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Stiller

frisch-1Tonnerwetter

Mit dem Roman «Stiller» gelang dem Schriftsteller Max Frisch 1954 der literarische Durchbruch. Im Prosawerk des Schweizer Autors ist die Identitätssuche des selbstentfremdeten modernen Menschen das zentrale Thema, es findet sich auch in den späteren Romanen «Homo faber» und «Mein Name sei Gantenbein» wieder, die ebenfalls seinem epischen Hauptwerk zuzuordnen sind. Und so wird denn der vorliegende Roman von dem Versuch seines Protagonisten Stiller beherrscht, der Determiniertheit seiner Handlungsweise zu entkommen, die Triebkräfte seines Inneren zu verstehen. Schon Georg Büchner hat in «Dantons Tod» seinem Helden ja die Frage in den Mund gelegt: »Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet»? Hier nun geht der Held den Weg der Selbstverleugnung, indem er einfach seine Identität wechselt, aus dem Schweizer Anatol Ludwig Stiller wird James Larkin White, ein US-Amerikaner.

«Ich bin nicht Stiller!» lautet denn auch der erste Satz, der laut Edgar Allen Poe ja oft schon die ganze Geschichte enthalte. Der bei seiner Einreise Festgenommne leugnet beharrlich, der jahrelang spurlos verschwundene Bildhauer Stiller zu sein, und er setzt auch alles daran, diese Identität nicht annehmen zu müssen, allen Fakten zum Trotz. Seine zunächst ziemlich kafkaesk anmutende Untersuchungshaft bildet den Hauptteil des Romans, in sieben Heften unter dem Titel «Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis» protokolliert er, auf Wunsch seines Verteidigers, das Geschehen aus persönlicher Sicht und kommentiert es. «Die Beziehung zwischen der schönen Julika und dem verschollenen Stiller begann mit der Nussknacker-Suite von Tschaikowsky» schreibt er, eine Musik, die Stiller verächtlich als «virtuose Impotenz» bezeichnete. Er heiratete die grazile Balletteuse ein Jahr später, ihre Ehe aber machte Beide nicht glücklich, ihre Probleme miteinander sind ein zweites Hauptthema des Romans. Und so kommt es zu einer Affäre mit Sibylle, einer verheirateten Frau, die ihren Mann Rolf sehr selbstbewusst darüber informiert. Stiller flieht aus dieser Beziehung und lässt auch seine kranke Frau im Stich, er fährt auf einem Frachter als blinder Passagier in die USA. Der Staatsanwalt, der sich mehr als sechs Jahre später mit seinem Fall zu beschäftigen hat, ist jener Rolf, der nun wieder mit seiner Sibylle zusammenlebt. Er ist es auch, der nach Stillers Verurteilung sein Freund wurde und ein «Nachwort des Staatsanwaltes» schreibt zu den sieben Heften, die er von ihm erhalten hat, wodurch wir Leser den Helden nun noch eine Weile lang begleiten in seiner wahren Identität.

Es ist eine äußerst komplexe Geschichte, in der Max Frisch seine philosophische Thematik, das zu hinterfragende «Ich» also, aufarbeitet. Mit dem Kunstgriff des fingierten «Ichs» in Person von White, aus dessen Perspektive über den Versager Stiller distanziert berichtet werden kann, obwohl die Beiden ja identisch sind, gelingt es ihm, aus einer singulärer Identität auszubrechen und ein zweites, verdecktes «Ich» zu etablieren. Der Ich-Erzähler White berichtet also in der Er-Form über Stiller, aus dieser Position nachdrücklich eine Einheit Stiller/White ausschließend, was dem Text einen gewissen Verfremdungseffekt verleiht und darüber hinaus auch seine Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Trotz dieser komplizierten Erzählsituation ist die Geschichte flüssig zu lesen, häufig sogar wird es auch amüsant, so zum Beispiel in den drei gleichnishaften Geschichten, die der Inhaftierte seinem naiven Wärter erzählt, von diesem immer wieder mit einem erstaunten «Tonnerwetter» begleitet. Zum Schmunzeln fand ich ferner die Beschreibungen des Volkscharakters seiner Schweizer Landsleute wie auch der Amerikaner, ebenso köstlich sind die bissigen Anmerkungen zur Architektur in seiner Heimat. Max Frisch erweist sich als ein großartiger, detailversessener Beobachter, seine sprachliche Könnerschaft liegt in der absoluten Treffsicherheit bei der Wortwahl.

«Ohne Mitwirkung des Lesers ist der Stiller weder zu lesen noch zu begreifen» hat Friedrich Dürrenmatt resümiert. Dem kann ich nur zustimmen, möchte aber ergänzen: Der Mühe wert ist es allemal!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Malina

bachmann-1Es darf gedeutet werden

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, bekannt vor allem durch ihre Lyrik, hat mit «Malina» 1971 einen einzigen Roman veröffentlicht, gedacht als erster Teil der geplanten Trilogie «Todesarten», deren Verwirklichung ihr früher, rätselhafter Tod in Rom jedoch verhindert hat. Sein Thema ist die Liebe, aus weiblicher Sicht geschildert von einer namenlosen Ich-Erzählerin, ein wahres Psychodrama, Zeugnis der extremen Not einer an ihrer Verletzlichkeit zerbrechenden Frau, deren geradezu unterwürfiger Kampf um Liebe immer wieder mit dem Intellekt einer erfolgreichen Schriftstellerin kollidiert.

Wie in einem Drama beginnt der Roman mit einer Aufzählung der auftretenden Personen, zu denen neben Ivan und Malina auch «Ich» gehört, Augen br., Haare bl., geboren in Klagenfurt, Wohnadresse Wien III, Ungargasse 6. Wir haben es mit einer Autobiografie zu tun, «Eine geistige, imaginäre Autobiographie» schränkte sie später ein: «Diese monologische oder Nachtexistenz hat nichts mit der gewöhnlichen Autobiographie zu tun, mit der ein Lebenslauf und Geschichten von irgendwelchen Leuten erzählt werden.» In drei Kapitel gegliedert erzählt der Roman im ersten Kapitel «Glücklich mit Ivan» von ihrem Verhältnis zu einem Ungarn mit zwei Söhnen, der in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Ihrem Glück steht entgegen, dass Ivan geschäftlich häufig auf Reisen ist, sich wenig um ihre emotionalen Wallungen kümmert, sehr dominant auftritt. Ganz anders Malina, ihr Mitbewohner, ein braver Beamter, der immer für sie da ist, ausgeglichen, geduldig, fürsorglich. Im zweiten Kapitel «Der dritte Mann» behandelt Ingeborg Bachmann die Auslöser ihrer psychischen Probleme, die unsäglichen Schrecken des Zweiten Weltkrieges, an die sie sich in Alpträumen erinnert, wobei der Vater, als dritter Mann sozusagen, symbolhaft den Horror personifiziert bei all den tranceartigen Zuständen, in denen sie ihr inneres Inferno beschreibt. «Von letzten Dingen» ist dann das dritte Kapitel überschrieben, in dem sie erkennt, dass die drohende Eskalation ihrer persönlichen Existenz auch mit Malinas Hilfe nicht zu überwinden sein wird, sie vielmehr an einer Männerwelt scheitern müsse, der sie nichts entgegenhalten kann. «Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina» heißt es im Roman, und zu ihrem Tod, dem Verschwinden in einem Riss in der Mauer, lautet dann der letzte Satz: «Es war Mord.»

Man hat den Roman als Aufarbeitung ihrer Beziehung zu Max Frisch gedeutet, deren Scheitern sie schwer verkraftet hat, Frisch hatte das seinerseits ja schon in «Mein Name sei Gantenbein» thematisiert, – insoweit kann man «Malina« durchaus als Schlüsselroman bezeichnen. Der damals prompt eine «feuilletonistische Hetzjagd» ausgelöst hatte, wie Elfriede Jelinek in ihrer vom «Spiegel» bestellten, dann aber nicht veröffentlichten Buchbesprechung geschrieben hat, die nun dem Roman als Anhang beigefügt ist. Gleichzeitig aber ist der Roman eine bittere Abrechnung mit der Rolle der Frau in einer männerdominierten Gesellschaft, die Ingeborg Bachmann mit ihren poetischen Mitteln eindringlich beschreibt.

Wirklich noch nie ist es mir allerdings derart schwer gefallen, einen Roman zu Ende zu lesen! Das liegt keineswegs an dessen Thematik, es liegt einzig und allein an der sprachlichen Umsetzung. Gekonnt formuliert zwar in makelloser Syntax, sprachverliebt, geradezu wortgewaltig, ist dies ein Prosatext, der inhaltlich und gedanklich nur als wüstes Geseiere zu bezeichnen ist, bestehend aus einem Sammelsurium von Phantasmagorien, Alpträumen, irrealen Reflexionen, schierem Nonsens. All das ist oft zusammenhanglos erzählt in textlichen Sequenzen, denen ich partout nichts abgewinnen konnte, die einfach nur quälend zu lesen sind. Und in denen mir die Suchtproblematik der lebensuntüchtigen Autorin denn doch einiges zu erklären scheint. Genau das aber öffnet naturgemäß ein Füllhorn für Deutungen, was die vielfach beschworene Innerlichkeit dieser Autorin anbelangt.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Ein anderer Ort

oz-1Im Mikrokosmos des Kibbuz

Der 1939 als Amos Klausner geborene Schriftsteller nahm 15jährig beim Eintritt in einen Kibbuz den Namen Amos Oz an, als meistübersetzter israelischer Autor und Professor für hebräische Literatur wurde er zeitlebens mit vielen Preisen geehrt. In seinem 1966 erschienenen ersten Roman «Ein anderer Ort» thematisiert er die israelische Utopie einer basisdemokratisch geführten, sozialistischen Siedlungsgemeinschaft, dem Kibbuz, der im heutigen Israel wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Der Gegensatz einer streng rationalen, disziplinierten Gesellschaftsordnung des idealistischen Kollektivs zu den individuell vorhandenen, existentiellen Trieben und Prägungen der einzelnen Mitglieder bildet den Stoff, besser Zündstoff, für eine Geschichte, die zeitlich Anfang der sechziger Jahre – noch vor dem Sechstagekrieg – angesiedelt ist.

In einer Fülle von anschaulich beschriebenen, oft kantigen Figuren bilden zwei Paare die alles dominierenden Protagonisten. Ihre als Amour fou den beschaulichen Frieden im Kibbuz störenden sexuellen Beziehungen bilden im Wesentlichen den losen erzählerischen Leitfaden einer ansonsten handlungsarmen Geschichte. Der von seiner Frau verlassene Lehrer des Wehrdorfs im Norden Israels hat ein Verhältnis mit der Frau des LKW-Fahrers, welcher sich wiederum von dessen 15jähriger Tochter verführen lässt, was nicht ohne Folgen bleibt, sie wird schwanger. Die in dieser unheilvollen Melange begründeten individuellen Konflikte münden gleichwohl in ein versöhnliches Ende, das Menschliche obsiegt über das rein Rationale.

Um die hier kurz skizzierte Handlung herum wird ein etwa einjähriger Abschnitt aus dem Kibbuzleben erzählt. Amos Oz beschreibt in einzelnen Szenen wunderbar stimmig und mit Liebe zum Detail eine ganz eigene Welt, die für den ausländischen Leser unwirklich, fast exotisch erscheinen muss mit ihrem streng befolgten Regelwerk. Dessen religiöse Komponente wird verkörpert durch den LKW-Fahrer, ein ebenso tatkräftiger wie ernster, wortkarger Mann, der häufig in Bibelzitaten sprechend seine Gesprächspartner immer wieder verblüfft mit seiner unbeirrten Geradlinigkeit. Überhaupt ist die selbstverständliche Bereitschaft der Siedler, sich den strengen Regeln und der harten Arbeit zu unterwerfen, ihre fast mönchische Genügsamkeit wirklich staunenswert. Weit ins Familienleben eingreifend wachsen Kinder hier räumlich getrennt von den Eltern auf, jedes Privateigentum wird strikt ablehnt, die Gleichheit aller postuliert, ein Irrtum, an dem auch der Kommunismus gescheitert ist. Der von den Älteren verinnerlichte Gründungsmythos der Kibbuzniks wird von den jungen Leuten zunehmend in Frage gestellt, sie sperren sich gegen die sozialistische Idee, verlassen ihr Wehrdorf, ziehen in die Städte oder gehen ins Ausland. Die Nähe der arabischen Feinde und deren ständig drohenden Angriffe fördern unter den jungen Israelis einen aggressiven Militarismus, der dem Friedenswillen der Alten entgegensteht: «Ein Jude, der zur Waffe greift, ist kein Jude», glauben jene. Und so endet denn auch dieser Roman mit einem von den Kibbuzniks durch eine Landnahme provozierten Scharmützel mit den Arabern, dem der Traktorfahrer zum Opfer fällt und das viel Sachschaden anrichtet.

Unübersehbar nostalgisch und wehmütig verklärend beschreibt Amos Oz hier eine bieder anmutende Pionierzeit, die schon damals ihren Zenith überschritten hatte. Er erzählt sie aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der anonym bleibt, aber im Dorf lebt und den Leser schon im ersten Satz direkt anspricht: «Vor euch liegt der Kibbuz Mezudat Ram». Zuweilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, häufig aber durch direkte Rede, breitet der Autor das Bild eines fremdartigen Mikrokosmos vor dem Leser aus. Immer wieder lässt er ihn auch teilhaben an seinen Gedanken, würzt all dies mit feiner Ironie und schafft damit elegant eine Atmosphäre der Vertrautheit, die den Leser fest an sein Buch zu fesseln vermag.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Andernorts

rabinovici-1Auschwitz als Gottesbeweis

Mit seinem zweiten Roman «Andernorts» schaffte der in Tel Aviv geborene Schriftsteller Doron Rabinovici den Sprung auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2010. Der politisch gegen Antisemitismus und Rechtspopulismus á la Jörg Haider engagierte Autor lebt in Wien, wo er über ein historisches Thema promoviert hat, das eng mit den Schicksalen seiner Eltern verbunden ist. Der rumänische Vater war 1944 nach Palästina geflüchtet, die litauische Mutter ist Überlebende eines Vernichtungslagers. Dementsprechend ist das zentrale Thema seiner Geschichte die Suche nach Identität, stehen für ihn die Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit innerhalb einer jüdischen Familie im Blickpunkt, der Titel «Andernorts» weist darüber hinaus auf eine gewisse Zerrissenheit hin, was die Heimat anbelangt.

Und so jettet einer der Protagonisten, Ethan Rosen, hochangesehener Kulturwissenschaftler mit Aussicht auf eine Professur an der Wiener Universität, hektisch rund um den Erdball zu Vorträgen und Konferenzen. Er pendelt zwischendurch der Familie wegen zwischen Tel Aviv und Wien, ist bemerkenswert weltläufig, scheinbar auch überall heimisch und doch nirgends richtig zu Hause. Im Flugzeug lernt er Noa kennen, die sich zwischen den Beiden anbahnende Beziehung jedoch wird seltsam unterkühlt geschildert, Noa bleibt eine farblose Figur. Ethans Gegenspieler und Konkurrent um die Professur ist der Österreicher Rudi Klausinger, mit dem er sich kampfeslustig in Zeitungsartikeln einen verbalen Krieg um Auswüchse der Erinnerungskultur in Auschwitz liefert. Er trifft den Kontrahenten, der als uneheliches Kind in Tel Aviv auf der Suche nach seinem Vater ist, ausgerechnet am Krankenbett des eigenen Vaters wieder. Und der bestätigt denn auch prompt, dessen Erzeuger zu sein, die Zwei sind also Halbbrüder. Nicht genug der irrwitzigen Einfälle in bester Woody-Allen-Manier, stellt sich beim Gentest später heraus, dass die frisch gekürten Halbbrüder weder miteinander noch mit dem Vater verwandt sind, der Vater ist zeugungsunfähig, wie er daraufhin kleinlaut zugibt. Und vollends abstrus wird diese hanebüchene Geschichte, als ein obskurer Rabbi den Messias, der nach seinen unwiderlegbaren Forschungen 1942 als Embryo zusammen mit seiner Mutter in der Gaskammer umkam, mit der DNA direkter männlicher Nachkommen in der Retorte neu entstehen lassen will. Damit bewegt sich Rabinovicis Plot auf Jurassic-Park-Niveau, wenn nun aber zu allem Überfluss ausgerechnet Felix Rosen, der Nicht-Vater unserer beiden Wiener Koryphäen, genetisch als potentieller Spender in Frage kommt, dann ist dieser aberwitzige Plot nur noch peinlich.

Positiv muss man anmerken, dass die Erzählung viele Einblicke liefert in die Mentalität seiner jüdischen Figuren, anschaulich Sitten und Gebräuche schildert und eine Fülle von Begriffen liefert, die Religiöses ebenso beleuchten wie den Alltag jüdischer Familien, und Vieles davon stammt natürlich aus dem Jiddischen. So kann man zum Beispiel über die «Vereinigten Schtetl von Amerika» schmunzeln, als amüsant aber ist die Lektüre trotzdem eher nicht einzustufen. Oder sollte das Alles doch nur ein ironisch gemeinter Bluff sein?

Wohl kaum! Es ist der missglückte Versuch, Vieles auf einmal zu bieten, todernste Themen mit grell Bizarrem zu vermischen wie in dem Disput mit dem Rabbiner, der Auschwitz als Gottesbeweis anführt. Die sprachliche Umsetzung bleibt nüchtern und ist wenig originell. Dabei hätte die Idee mit den vermeintlichen Halbbrüdern oder die Liebesgeschichte einiges an erzählerischem Potential geboten, stattdessen wird der an sich ja interessante akademische Teil fast schon peinlich prätentiös ausgebreitet. Die Identitätssuche der Hauptfiguren wie auch die Darstellung der inneren Zerrissenheit heutiger Israelis zwischen unseliger Vergangenheit und unsicherer Gegenwart lässt den Roman trotz aller Schwächen insoweit als lesenswert erscheinen, – man muss dann allerdings auch bereit sein, öfter mal ein Auge zuzudrücken.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Allerseelen

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Ein sinnierender Flaneur

Der Prophet gilt wenig im eigenen Land, dem Schriftsteller geht es zuweilen ebenso. Cees Nooteboom ist so einer, auf den dies zutrifft, die Rezeption seines erzählerischen Werkes ist in Deutschland intensiver als in seiner holländischen Heimat. Neben dem Feuilleton ist dies vermutlich dem Engagement Siegfried Unselds für seinen Autor zu danken, «Allerseelen» hatte den berühmten Verleger, wie er schrieb, beim Lesen an die großen Flaneure des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert. Der Handlungsort Berlin kurz nach der Wiedervereinigung erklärt zudem die besondere Beachtung dieses 1999 veröffentlichten Romans in Deutschland, er gilt als der beste Berlin-Roman der jüngeren Zeit.

Arthur Daane, unverkennbar das Alter Ego des Autors, ist geradezu der Prototyp eines Flaneurs, ein 44jähriger niederländischer Filmemacher, der vor zehn Jahren bei einem Flugzeugunglück Frau und Kind verloren hat und inzwischen zum Einzelgänger geworden ist. Sein Beruf zwingt ihm eine unstetige Lebensweise auf, er ist viel auf Reisen und nirgendwo richtig zu Hause, es zieht ihn aber immer wieder nach Berlin, wo er gute Freunde hat. Da ist der deutsche Philosoph Arno Tieck, eine Romanfigur, die an Rüdiger Safranski erinnert, mit dem der Autor befreundet ist, ferner der holländische Bildhauer Victor und die russische Physikerin und Galeristin Zenobia, ein debattierfreudiges Dreigestirn, das sich regelmäßig in einem Pfälzer Weinlokal trifft. Seine älteste Freundin, die in Amsterdam lebende Erna, mit der er fast täglich telefoniert, stellt mit ihrer lebensklugen Art einen Anker für ihn dar, sie erdet ihn regelmäßig, wenn er mal wieder in höheren Sphären schwebt. Denn Arthur, der durch Berlin streift in den Wartezeiten zwischen seinen Filmprojekten, der nicht jeden Auftrag annimmt und nur soviel arbeitet, wie unbedingt sein muss, der Galerien, Ausstellungen, Museen, Bibliotheken besucht, regelmäßig in bestimmten Cafés und Restaurants anzutreffen ist, er betätigt sich auf seinen Streifzügen nicht nur physisch als Flaneur, er ist es auch psychisch. Permanent auf der Suche, ohne genau definieren zu können, was er denn sucht, hat er seine Kamera meistens dabei und filmt für seine private «Sammlung» speziell das, was kommerziell nicht verwertbar ist, unbedeutende Details und Fragmente zumeist, die er irgendwann zu einem großen Ganzen fügen will.

In einem Café trifft er auf eine junge Frau, die extrem verschlossen ist und seltsam abweisend bleibt auch dann, als sie sich näher kommen. Sie arbeitet verbissen an einer Dissertation über eine nahezu vergessene spanische Königin, diskutiert lebhaft mit seinen Freunden, verschwindet aber immer wieder ganz abrupt und ohne Abschied. Als Arthur nach einem mehrwöchigen Filmauftrag aus Japan zurückkommt, ist sie wieder verschwunden, mühsam spürt er sie im Nationalarchiv in Madrid auf. Sie sei schwanger geworden, habe abtreiben lassen, – beide trennen sich im Streit. Als Arthur nach einem Raubüberfall aus dem Krankenhaus entlassen wird und erfährt, sie sei nach Santiago abgereist, widersteht er dem Impuls, ihr nachzureisen.

Der Roman hat abgesehen von der kurzen eingelagerten Beziehungsgeschichte kaum Handlung, er stellt eine Kollage von Episoden, Reflexionen, Theorien über Geschichte, Nationen, Politik, städtische Kultur und vor allem über Kunst dar, von einem auktorialen Erzähler aus Arthurs Perspektive erzählt und von einem der Antike nachempfundenen «Chor» in kurzen Intermezzi kommentiert. Es ist der Kampf gegen das Vergessen, an «Allerseelen» als Gedenken an die Toten zelebriert, der Arthur umtreibt, ihn ausufernde philosophische Diskussionen führen lässt, der Chor aber resümiert am Ende: «Und wir? Ach wir …» Mit seiner Themenfülle und den vielen Bezügen und Querverweisen ist dieser ebenso kopflastige wie blutleere Roman eine Fundgrube für den philosophisch interessierten Leser, permanent zu einem Weiterdenken anregend, welches man kaum als kontemplativ bezeichnen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Holzfällen

bernhard-1Von Künstlerattrappen und geistlosen Poltermimen

«Eine Erregung» heißt der Untertitel dieses avantgardistischen Werkes von Thomas Bernhard, der damit einst seinen Ruf als Enfant terrible der Kunstszene Österreichs nachhaltig unterstrichen hat. Im Stil des inneren Monologs angelegt, dessen Gedankenfluss der Autor sprachlich durch einen absatzlos dahin fließenden Textstrom ohne jedwede Gliederung von der ersten bis zur letzten Seite abbildet, erlebt der Leser das Geschehen eines Tages aus der Sicht des Ich-Erzählers, mit unübersehbar autobiografischen Elementen allerdings, und zwar nicht nur, weil er ebenfalls Schriftsteller ist. Denn ob der Begriff Schlüsselroman hier berechtigt ist, mag man daran ermessen, dass kurze Zeit nach seinem Erscheinen der Verkauf des Buches gerichtlich gestoppt wurde von Leuten, die sich darin wiedererkannt hatten – und sich verunglimpft fühlten.

Dieser Text ist eine einzige, breit angelegte Suada, polemisch, sarkastisch, geradezu gallig, die vor niemandem halt macht, auch vor ihrem Urheber selbst nicht, dem «auf seinem Ohrensessel» sinnierenden, misanthropischen Schriftsteller. Er nimmt im Geist die kulturelle Schickeria Wiens aufs Korn, zu der auch die zu einem späten «künstlerischen Abendessen» im Hause des Komponisten Auersberger geladenen Gäste zählen, die nun geduldig auf einen Burgschauspieler warten, der nach seinem Auftritt in Ibsens «Die Wildente» sein Erscheinen zugesagt hat. Vormittags hatte der Schriftsteller noch am Begräbnis einer alten Freundin teilgenommen, seine Gedanken kreisen deshalb anfangs immer wieder um die «Bewegungskünstlerin» Joana, die sich erhängt hat. Mit ihr wie auch mit den Gastgebern hatte er schon vor Jahrzehnten den Kontakt abgebrochen, er war jetzt von London aus nur zu einem Besuch nach Wien gekommen und hatte ohne richtig nachzudenken diese Einladung angenommen, worüber er im Nachhinein entsetzt ist.

Denn ihn regt alles auf, er demaskiert geradezu niederträchtig den Kunstbetrieb Österreichs im Allgemeinen und Wiens im Besonderen, und ihm ist nichts heilig dabei, insbesondere die Burgschauspieler nicht. «Geistlose Poltermimen» und «kleinbürgerliche Popanze» seien sie allesamt, die denn auch «aus dem Burgtheater längst ein Siechenhaus ihres dramatischen Dilettantismus gemacht haben». Dieses Abbild der Künstlerszene und der durch die Auersbergers repräsentierten «Guten Gesellschaft» ist für Thomas Bernhard wahrhaft jämmerlich. Bei aller bitterbösen Kritik ist aber immer auch ein subtiler Humor nicht zu übersehen, mit dem er sein Kultur-Szenario vor dem Leser ausbreitet und dann gnadenlos demaskiert, ich musste jedenfalls öfter schmunzeln bei seinen «Erregungen». Detailliert beschäftigt sich der Ich-Erzähler mit den anwesenden Künstlern, allesamt gescheiterte Existenzen, denen nie der Durchbruch gelungen ist, deren Kunst er jedenfalls vehement in Frage stellt, die er recht uncharmant als «Künstlerattrappen» bezeichnet.

Was das handlungsarme Buch lesenswert macht ist vor allem die kreative Sprache, der in vielen Wendungen steckende Wortwitz, aber auch der raffinierte dramaturgische Aufbau mit seinen geradezu suggestiv eingesetzten Wiederholungen, von denen «dachte ich auf dem Ohrensessel» wohl das häufigste Element ist, man sitzt irgendwann buchstäblich selbst dort! Dieses literarische Ostinato wird auch musikalisch verdeutlicht durch Ravels «Bolero», der zu später Stunde vom Plattenspieler ertönt. In einem ziemlich langen letzten Satz erkennt der Schriftsteller selbstkritisch, dass er sich kaum unterscheidet von den Menschen um ihn herum mit ihren Lügen und Halbwahrheiten, und er beschließt spontan, über das «künstlerische Abendessen» zu schreiben, «sofort und gleich, bevor es zu spät ist». Das war gut so!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Die Baugrube

platonow-1Für Hedonisten ungeeignet

«Сволочь» hatte Stalin an den Rand einer Erzählung von Andrej Platonow geschrieben, er hielt den russischen Schriftsteller schlicht für einen «Lump» wegen seiner Kritik an den Zwangsmaßnahmen zur Kollektivierung. Der zu seinen Hauptwerken gerechnete Roman «Die Baugrube» von 1930, den er in wenigen Monaten geschrieben hat, zur Zeit des ersten Fünfjahresplans also, durfte wie alle seine Arbeiten zu Lebzeiten des 1951 gestorbenen Autors nicht erscheinen. Zukunftspessimismus, in Form solch dystopischer Romane auch noch, war einfach nicht erwünscht.

«Am dreißigsten Jahrestag seines persönlichen Lebens gab man Woschtschew die Abrechnung von der kleinen Maschinenfabrik, wo er die Mittel für seine Existenz beschaffte. Im Entlassungsdokument schrieb man ihm, er werde von der Produktion entfernt infolge der wachsenden Kraftschwäche in ihm und seiner Nachdenklichkeit im allgemeinen Tempo der Arbeit». Was wie eine holprige Übersetzung klingt in diesem Romananfang ist der ganz spezielle Duktus seines Verfassers, ein verballhornender Neusprech aus ländlicher Sprache durchmischt mit ideologischen Begriffen des Totalitarismus. Zumeist also Versatzstücke aus heroisierenden Reden und verlogenen Slogans der bolschewistischen Revolutionäre, deren Bildungsniveau mit dieser abstrusen Grammatik verdeutlicht werden soll. Typisch für dieses sprachliche Unvermögen und hierzulande aus der DDR noch gut in Erinnerung sind übrigens auch die langen Genitivreihungen in den absurden Bezeichnungen von Institutionen und Ereignissen durch die sozialistische Apparatschicks.

Mit Schaufel und Spitzhacke arbeiten die Protagonisten des Romans an der Verwirklichung des sozialistischen Traums, sie graben die Baugrube für das «gemeinproletarische Haus», ein riesiges Projekt auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Die Arbeiter in der Grube sind enteignete Bauern, die wie Tiere gehalten werden, unbehaust und unzureichend ernährt, allesamt einsame Figuren ohne familiäre Bindung, untergebracht in einer ungeheizten Baracke, in der sie zum Schlafen auf dem Boden gedrängt nebeneinander liegen wie Sardinen in der Dose. Trostlos ist auch die Umgebung, eine flache, endlos weite Ebene unter einem stets grauen, dämmrigen Himmel, die Menschen führen ein ereignisloses Leben wie im Halbschlaf, nur an wenigen Tagen kann man in weiter Ferne mal das Blinzeln der Lichter einer kleinen Stadt erkennen. Im revolutionären Wahn werden alle Kulaken, die zaristischen Großbauern, auf ein riesiges Floß verfrachtet, man lässt sie einfach den Fluss hinunter ins offene Meer treiben, als Klassenfeind werden sie nicht mehr gebraucht im neuen Russland. Und immer wieder muss die Baugrube vergrößert werden, denn täglich werden ja neue Proletarier geboren, vermehren sich die Massen, fertig wird die Grube also nie!

In dieser apokalypseartigen Erzählung  symbolisiert die Baugrube eine antagonistische Welt, sie ist zugleich Sinnbild des Scheiterns einer Utopie. Hinter jeder der Romanfiguren lauert ein Verhängnis, der Leser wird regelrecht mit hinab gezogen in einen Sumpf aus Qualen, die ihnen gewiss sind. Der überzeugte Kommunist Platonow geißelt hier auf der Suche nach Wahrheit die stalinistischen Methoden der politischen Umsetzung seiner eigenen Überzeugungen ohne jede Ironie, auch wenn er seine Protagonisten noch so tölpelhaft agieren lässt. Eine schwierige Lektüre wartet auf den Leser, niederschmetternd geradezu, ohne literarische Distanz erzählt. «Gefährliche Lektüre» hat Sibylle Lewitscharoff deshalb ihren im Anhang abgedruckten Essay über dieses Buch betitelt, nur in keinen Häppchen verdaulich jedenfalls. Hilfreich und wirklich unverzichtbar für eine bereichernde Lektüre sind außerdem das kenntnisreiche Nachwort sowie 34 Seiten mit ergänzenden Anmerkungen der Übersetzerin. Ein literarisch hoch stehender, schwierig zu lesender, anspruchsvoller, aber auch grausamer, verstörender Roman, – für Hedonisten wahrlich nicht geeignet, das dürfte nach alledem klar sein.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Panischer Frühling

leutenegger-1Die Frau ohne Eigenschaften

Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger hat es mit ihrem Roman «Panischer Frühling» auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft, die bis dato bedeutendste Ehrung für sie. Als Autorin einem breiteren Lesepublikum bisher zumeist unbekannt, wirkt die Platzierung im Finale des Buchpreises wie ein Ritterschlag, der für sie als literarisch längst Anerkannte hauptsächlich finanzielle, sprich Auflage erhöhende Wirkung zeitigen dürfte. Der kurze Roman, mit verschwenderisch bemessenem Blattspiegel, üppiger Schriftgröße und satter Papierstärke vom Suhrkamp-Verlag trickreich zum knapp über 200 Seiten starken, ansehnlichen Buch aufgepeppt, wirkt von seinem Inhalt her ganz im Gegenteil eher bescheiden zurückhaltend mit seinen stillen Tönen.

Nach dem Ausbruch des Gletschervulkans auf Island mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull musste Mitte April 2010 der Flugverkehr in weiten Teilen Nord- und Mitteleuropas eingestellt werden. Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin hält sich während dieser Zeit vorübergehend in London auf, man erfährt im Übrigen nichts von ihren sonstigen Lebensumständen, «Die Frau ohne Eigenschaften» gewissermaßen. Dauernd unterwegs auf ziellosen Streifzügen durch die Stadt, trifft sie auf der London Bridge einen Mann, der dort eine Obdachlosenzeitung verkauft. Dieser zufälligen Begegnung folgen weitere, sie kehrt seltsam zwanghaft immer wieder dorthin zurück. Aus der anfangs kurzen Unterhaltung mit dem Zeitungsverkäufer, dessen halbes Gesicht von einem schlimmen Feuermal entstellt ist, werden mit der Zeit längere Gespräche, beide, deren Gemeinsamkeit der frühe Tod des Vaters ist, erzählen sich Geschichten aus ihrer Kindheit. Ihr Kontakt bleibt aber distanziert, es gibt keine weiteren Verbindungen zwischen ihnen außer den – lediglich durch das unangekündigte Erscheinen der Frau auf der Brücke – initiierten Begegnungen, lange kennt sie nicht mal seinen Namen. Bis Jonathan eines Tages spurlos verschwunden ist, sie trifft ihn mit seinem Zeitungsbündel nie mehr an auf seinem abgestammten Platze. Geradezu als kryptisch zu bezeichnen ist auch ihre Beziehung zur mutmaßlichen Tochter, über die es lapidar heißt: «Nachrichten vom Amazonas waren eingetroffen. Ich bin wirklich auf der anderen Seite der Welt, schrieb die junge Frau, das Kind von einst, immer mehr wird mir die Distanz bewusst, aber ich mag sie»! Mehr erfährt der Leser nicht, es gibt zusätzlich nur ein paar wenige und zudem noch deutlich kürzere Textstellen hierzu.

Gertrud Leutenegger benutzt für ihre assoziative Prosa einen sehr spezifischen Stil, der vermutlich zurückzuführen ist auf ihre Arbeit am Theater, findet sich doch auffallend häufig die Form des dramatischen Poems in ihrem Werkverzeichnis. Ihr meditativer Roman erinnert, nicht nur topografisch, an ein Kammerspiel durch seinen äußerst reduzierten erzählerischen Blickwinkel und seine lyrisch wirkende Sprache, die sehr bildhaft ist und zugleich durch große Sensibilität gekennzeichnet. Einen weiten Raum nehmen liebevolle Beschreibungen der großstädtischen Flora ein, ihre Protagonistin, in der manche die Autorin selbst zu erkennen glauben, besucht immerfort die Parks von London auf ihren Streifzügen durch die Stadt.

Ein nahezu handlungsloser Roman wie dieser ist von vornherein nicht jedermanns Sache, er wirft zudem durch seine nicht zu einem Ende hin führende, fragmentarische Erzählweise so viele Fragen auf, dass vielschichtiger Deutung und kühner Spekulation Tür und Tor geöffnet sind. Von dieser wahrscheinlich bewusst herbeigeführten Verwirrung der Leser zeugen offensichtliche Fehler in etlichen Inhaltsangaben bei deren Kritiken, ja sogar in solchen des Feuilletons. Wer Rätsel mag, wird hier also fündig, und wer gerne spintisiert, wer Anspielungen liebt, um selbst weiter zu fabulieren, kommt erst recht auf seine Kosten. Wer aber stringente Handlung sucht, der wird zutiefst enttäuscht sein. Fazit also: Wer’s mag!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Die Sonnenposition

poschmann-1Die Sonne bröckelt.

Der Literaturwissenschafter Edgar Allen Poe hat die These aufgestellt, der erste Satz eines Romans umreiße oft schon die ganze Geschichte. So mancher Leser von Monika Poschmanns Roman «Die Sonnenposition» mit seinem einleitenden Dreiwortsatz «Die Sonne bröckelt» wird ihm möglicherweise recht geben. Das Bröckeln jedenfalls zieht sich als verfallträchtiger Hintergrund durch den ganzen Roman, die vielfach mit Literaturpreisen bedachte Autorin lenkt den Fokus in ihren bisher drei Romanen immer wieder, scheinbar deterministisch, auf die Schattenseiten unseres Lebens. Scheitern, Pessimismus, Sprachlosigkeit, Lieblosigkeit, soziale Kälte allenthalben, was sich sowohl in einer düsteren Thematik, aber noch deutlicher in der metapherträchtigen, lyrikartigen sprachlichen Umsetzung und in den eigenartigen, eher ungewöhnlichen Figuren ihrer Geschichte widerspiegelt.

Ich-Erzähler ist ein farblos bleibender Psychiater mit dem bezeichnenden Namen Altfried, der in einem heruntergekommenen Barockschloss in der ehemaligen DDR lebt und arbeitet, welches notdürftig zur psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt umgebaut wurde. Sein Freud Odilo, verklemmtes Muttersöhnchen und auf Biolumineszenz spezialisierter, genialer Biologe, ist äußerst menschenscheu, geradezu unnahbar und kalt. Er stirbt als schlafwandelnder Autofahrer gleich zu Beginn der Geschichte, und bei der Beerdigung taucht überraschend auch Mila auf, Altfrieds Schwester. In Rückblenden erfahren wir, dass zwischen Odilo und Mila mehr war als nur Freundschaft, was auch Altfried nicht wusste. Die Beziehungen zwischen den drei Protagonisten sind merkwürdig distanziert, man weiß wenig voneinander, sieht sich eher selten, hat sich kaum etwas zu sagen, glaubhaft portraitiert erscheinen sie mir nicht. Altfried hat die Sonnenposition inne in seiner kafkaesken Anstalt, er beleuchtet die seelische Düsternis um ihn herum, gibt sein Bestes, um zu helfen. Orientierung und Trost aber könnte er selbst brauchen, sein eigens Leben ist beklemmend eintönig und inhaltsleer, nur in seinem grotesken Hobby, seiner stets erfolglos bleibenden Jagd nach automobilen Erlkönigen, zeigt er so etwas wie menschliches Empfinden, weit entfernt jedoch von echter Leidenschaft für sein fotografisches Steckenpferd.

Erzählt ist dieser handlungsarme Roman in einer auf reichlich Metaphern, Symbolik und gewagten Wortschöpfungen basierenden Sprache, die nicht jedem gefallen dürfte, weil sie viel Phantasie voraussetzt, oft auch wohlwollende Nachsichtigkeit bei den wahrlich nicht immer gelungenen Assoziationen, die sie bewirken soll. Sie kommt ohne direkte Rede aus, ist wohltuend klar, flüssig lesbar und unkompliziert, Leser mit Hang zur Symbolik werden jubeln dabei, das Feuilleton hat mit geradezu hymnischen Rezensionen ja die Richtung vorgegeben. Wer reine Prosa mag ohne lyrische Höhenflüge, der wird zumindest in den zahlreichen, anschaulich beschriebenen Fallgeschichten von Altfrieds Patienten auf seine Kosten kommen, aber auch die Reise in die ehemalige polnische Heimat ist eine erfreulich geerdet erscheinende Prosainsel inmitten einer metaphysischen Abgehobenheit, wie sie allein schon in kreativen Kapitelüberschriften wie Glühbirnengleichnis, Rückenfiguren, Gedächtnispaläste oder Schlafversager deutlich wird.

Tristesse und Depression scheint 2013 Schwerpunktthema gewesen zu sein beim Deutschen Buchpreis. Neben der Gewinnerin Terézia Mora haben mit Mirko Bonné und Marion Poschmann gleich drei Finalisten ihren literarischen Beitrag geleistet zu den dunklen Seiten der menschlichen Existenz, nur Monika Zeiner war da ein literarischer Lichtblick für mich. «Die Sonnenposition» ist jedenfalls einer der wenigen Romane nach langer Zeit, bei dem ich froh war, ihn endlich beiseite legen zu können nach der Lektüre, aber vielleicht lag es ja auch nur an mir!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Bronsteins Kinder

becker-1Fast ein kleines Wunder

Manchem Roman ist es beschieden, immer im Schatten eines erfolgreicheren vom gleichen Autor zu stehen, bei Jurek Becker ist es der 1986 erschienene Band «Bronsteins Kinder», dem übermächtig «Jakob der Lügner» gegenübersteht, sein 1969 veröffentlichter, berühmtester Roman. Beide sind verfilmt worden, wen wundert’s, wenn der Verfasser zugleich auch ein bekannter Drehbuchautor war, die erfolgreiche TV-Serie «Liebling Kreuzberg» stammt aus seiner Feder. Seine polnische Herkunft und die jüdischen Eltern, von denen nur der Vater Ghetto und KZ überlebt hat, haben ihn in seiner literarischen Thematik stark geprägt, hinzu kommen noch seine Jahre in der DDR, der er nach mancherlei Querelen und Schikanen 1977 schließlich den Rücken gekehrt hat. Man tut sich als Wessi heute etwas schwer, den politischen Hintergrund der vorliegenden Geschichte richtig zu würdigen, – für deren Problematik allerdings ist er unbedeutend.

Denn es geht um fundamentale Fragen von Schuld und Sühne, um das Gegenüber von Täter und Opfer lange nach der Tat, hier im Roman eines SS-Aufsehers des KZs Neuengamme mit dreien seiner einstigen Insassen. Hans Bronstein wird zufällig Zeuge, dass sein Vater und zwei andere Männer einen ihrer früheren Peiniger in der Datscha seines Vaters gefangen halten und foltern, ihm drei Jahrzehnte nach der Tat ein Schuldgeständnis abpressen wollen. «Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wurde, mit sechzig zurückschlagen?» ist eine der Fragen, mit denen sich Hans plötzlich konfrontiert sieht. Er wird ungewollt in einen schweren Loyalitätskonflikt mit seinem Vater hineingezogen, der niemals wird überwinden können, was ihm als polnischem Juden an Unrecht widerfahren ist. Den Justizorganen jedenfalls trauen die drei ehemaligen Opfer nicht; eine angemessene Bestrafung ist von diesem deutschen Staat keinesfalls zu erwarten, davon sind sie überzeugt.

Jurek Becker erzählt diese Geschichte in zwei Zeitebenen, und er beginnt: «Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb. Das Ereignis fand am vierten August 73 statt, oder sagen wir ruhig das Unglück, an einem Sonnabend. Ich habe es kommen sehen.» Mit lakonischem Duktus, in einer einfach zu lesenden, kristallklaren Sprache, entwickelt Becker seine spannende Geschichte, wobei er in der zweiten Zeitebene rückblickend von den Geschehnissen im Zusammenhang mit der Selbstjustiz berichtet und von den Nöten, die seinen Protagonisten als einzigen Zeugen und Mitwisser umgetrieben haben. Durch die Entführung war eine zwickmühlenartige Situation entstanden, denn nicht nur die rachedürstenden ehemaligen KZ-Insassen mussten eine Entdeckung fürchten, das Opfer hatte gleichermaßen Angst vor Entdeckung und einem unvermeidlich folgenden Strafverfahren. In seiner Gewissensnot sucht Abiturient Hans Rat bei seiner in einer psychiatrischen Anstalt weggeschlossenen, deutlich älteren Schwester, die schubartig zu unkontrollierten tätlichen Angriffen gegen fremde Menschen neigt, mit der er jedoch ein inniges Verhältnis hat, – er besucht sie oft, sie schreibt ihm rührende Briefe in einer kuriosen Orthografie. Seine Freundin Martha einzuweihen traut er sich nicht, die Beiden hatten die jetzt als Gefängnis dienende Waldhütte bisher als Liebesnest genutzt.

Nach dem überraschenden Schluss bleiben Fragen offen. Das ahnt man vorab schon, wenn nämlich gegen Ende des Buches nur noch ein paar Seiten übrig bleiben zur Klärung. Ist das nun ein Manko? Keineswegs! Der klug konstruierte Plot mit den stimmig beschriebenen, originellen Figuren schneidet wichtige Themen an, hält sich aber mit wohlfeilen Erklärungen, mit Wertungen gar, weise zurück. Die vorwärtsdrängende, leichtfüßige Erzählweise mit ihren amüsanten Wendungen macht diesen Roman zu einer ausgesprochen kurzweiligen Lektüre, was bei der komplizierten Vater/Sohn-Konstellation, die er so virtuos behandelt, und seiner schwierigen Schuld/Sühne-Thematik fast an ein kleines Wunder grenzt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Indigo

setz-1Ein müder Abklatsch

«Irgendwann gewöhnt man sich gegen alles». Bastian Sick, Autor von «Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod», hätte seine helle Freude an diesem Wortspiel von Clemens J. Setz, das sich in seinem Roman findet und auch den Rückumschlag ziert. Ich glaube, irgendwann gewöhnt man sich an allem, auch am Dativ, woran ich mich aber partout nicht gewöhnen kann, das sind solche Romane! Großangelegte Experimente mit Wörtern, die keinen Sinn ergeben, Nonsens pur in Buchform, dem nur unbeirrbare Esoteriker eine tiefere Bedeutung andichten können.

Judith Schalansky, selbst Autorin bei Suhrkamp (Der Hals der Giraffe), zeichnet für Typografie und Einband verantwortlich. Mit lila Vorsatzpapier, handgeschriebenem Inhaltsverzeichnis, wechselnden Schriftfonds, eingestreuten Bildchen und Notizen im Faksimile hebt sich das Buch schon vom rein Handwerklichen her deutlich ab, vom Inhaltlichen her aber ist es gegen alle Konventionen. «So böse wie Nabokov, so virtuos wie David Foster Wallace» steht auf dem Rückumschlag, das hatte mich neugierig gemacht, und natürlich auch die Platzierung auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Clemens J. Setz erweist sich als außerordentlich kreativer Kopf mit ausgeprägtem Sinn für schwarzen Humor, dem es gelingt, eine beklemmende, unheilschwangere Atmosphäre zu erzeugen, die bei manchen Lesern, glaubt man den diversen Rezensionen, sogar körperliche Wirkungen wie Kopfschmerzen zeitigt. Macht das ein «Meisterwerk» aus diesem Roman? Eine interpretierende Analyse dieser verwickelten, schwindelerregenden (sic!), manchmal sogar brutalen Textcollage erspare ich mir, der Autor gefällt sich nämlich in der Rolle des Nerds, der seine tumben Leser in einem ausgangslosen Labyrinth von Andeutungen, Rätseln und Geheimnissen umherirren lässt. Vieles ist abgründig und beiläufig gleichermaßen, nichts klärt sich auf. All das ist geschrieben in einer angenehm zu lesenden, klaren Sprache, die in einem auffallenden Gegensatz zu den sämtlich wirre erscheinenden Protagonisten steht, zu denen man, wie auch zum Plot, keinen rechten Zugang findet (ich jedenfalls). Kein Vergleich übrigens mit D.F.Wallace, der ist der wahre Meister der Postmoderne, Setz ist nur ein müder Abklatsch davon!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Blumenberg

lewitscharoff-1Verwirrung in der Gelehrtenstube

Literatur und Philosophie existieren ja nicht selten in symbiotischer Form, meist in Person eines geistigen Schöpfers, als Dichter und Denker bezeichnet, der alle beiden Kulturgattungen bedient, Nietzsche sei als Beispiel genannt. Eng verbunden sind diese Disziplinen aber auch dadurch, dass alle Denkergebnisse irgendwie fixiert werden müssen, sollen sie für die Nachwelt erhalten bleiben, und damit werden sie zwangsläufig zu Literatur. Im vorliegenden Roman bildet die philosophische Wissenschaft den reizvollen Hintergrund für eine raffiniert aufgebaute, komplexe Geschichte, die schon durch ihren Titel als Hommage an den Professor gleichen Namens gedeutet werden darf.

Die Autorin bindet einen Löwen in ihre Handlung ein, den der Gelehrte zunächst als Hirngespinst oder Studentenulk ansieht, der sich in seiner Symbolträchtigkeit jedoch immer mehr als Trostspender und gedanklicher Ruhepol erweist. Mit viel Komik und gekonntem Sprachwitz wird munter fabuliert in diesem ungewöhnlichen Roman mit seinem gewagten Titel, der ja suggeriert, hier stehe der gleichnamige Philosoph und sein Denksystem im Mittelpunkt, was manche Leser mutlos machen könnte. Keine Sorge! Äußerst elegant und schwungvoll führt Lewitscharoff durch ihre originelle Geschichte, und auch wenn man, wie ich, nicht jeden Hintersinn, jede Andeutung versteht als blutiger Laie in Sachen Philosophie, liest man dieses Buch gleichwohl mit geistigem Gewinn, vom geradezu königlichen Lesespaß ganz abgesehen.

Im Milieu professoraler Gelehrsamkeit erleben wir Blumenberg in seinem Arbeitszimmer und in der Vorlesung, einer, der fleißig seine Wissenschaft betreibt und hohe Anerkennung genießt bei seinen ehrfürchtigen, von ihm aber kaum wahrgenommenen Studenten. Vier von ihnen, ergänzt um eine wundersame Nonne, sind die anderen Protagonisten, die ihn in einer Collage von kunstvoll verschachtelten Geschichten umkreisen. Alle Figuren sind liebevoll und eindringlich beschrieben, sie stehen dem Leser beinahe plastisch gegenüber, sind greifbar nahe in dieser zweiten Erzählebene. Ergänzend sind zwei köstliche Kapitel eingeschoben, in denen der Erzähler auf sehr unterhaltsame Weise über Inhalte und Konstruktion seines Textes nachdenkt. «Ob der Erzähler wirklich wissen kann, was einem Selbstmörder zuletzt in den Sinn kommt, ist fraglich» heißt es da. Das Buchstabenleben des Romans und seine Gedankenwelt wird hier verschmitzt hinterfragt. Aber dass man einen Selbstmord so absolut unpathetisch schildern kann hat mir denn doch den Atem verschlagen.

Nach dem Tode aller Protagonisten treffen sie im Jenseits wieder zusammen, auch der Löwe ist zur Stelle. Mit ihrem rätselhaften Bericht aus einer Höhle (wem dämmert da was?) eröffnet die Autorin reichlich Raum für Interpretationen, mit denen man noch beschäftigt ist, lange nachdem man das Buch zu Ende gelesen hat. Was dem Atheisten Blumenberg und den anderen Figuren widerfährt, das langsame Verlöschen ihrer Existenzen, deutet für mich jedenfalls darauf hin, dass dieser Ort eine Vorstufe zum Nirwana ist, Himmel und Hölle existieren ja nicht. Dieses Buch ist ein meisterhaft geschriebener, wunderbar geistreicher Roman, der im wahrsten Sinne des Wortes bereichernd ist, ein selten zu findendes, intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen obendrein.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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