Die Jahre der wahren Empfindung

Vom Scheintod der Literatur

Helmut Böttiger hat mit «Die Jahre der wahren Empfindung» und dem ergänzenden Untertitel «Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur» ein grandioses neues Sachbuch vorgelegt. Es dürfte für all Jene eine ergiebige Informationsquelle sein, die sich über den Deckelrand ihres Buches hinaus auch für Literatur als Kunstgattung interessieren. Für Leser also, die Näheres wissen wollen über die Schöpfer jener fiktiven Welten, die sie als Lektüre bereichern und im günstigsten Fall auch erfreuen. Und die schließlich sogar noch wissen wollen, unter welchen äußeren Bedingungen und in welchem kreativen Prozess diese Kunstwerke entstehen, – wenn es denn welche sind!

Es beginnt mit einem «Vorspiel», in dem darlegt wird, dass Enzensberger, Johnson und Grass Ende der 1960er Jahre drei «sehr unterschiedliche politisch-literarische Kraftfelder» vermessen hätten, die vieles enthielten, was sich dann nach 1968 entladen sollte. Politisch gehörte dazu auch die «Kommune 1» in Berlin, die damals in der Wohnung von Uwe Johnson ihr «Pudding-Attentat» plante. Das von Enzensberger herausgegebene «Kursbuch» habe mit seiner berühmt gewordenen Nummer 15 in der allgemeinen Wahrnehmung den «Tod der Literatur» apostrophiert. Im nächsten der 27 Kapitel widmet sich der Autor anschließend der Erzählung «Lenz» von Peter Schneider und deutet sie als Fanal: «Der auf sich selbst zurückgeworfene Einzelne – das wurde zum großen Thema der siebziger Jahre». Vom Tod konnte da nun wirklich keine Rede mehr sein, im Gegenteil, es folgte eine «wilde Blütezeit» mit neuen Autoren, Verlagen, Buchhandlungen und Literatur-Zeitschriften. Kreativ, wagemutig und unkonventionell wurden die literarischen Prozesse dem veränderten Bewusstsein angepasst, wurden neue Themenfelder besetzt. Eine radikale Politisierung vor allem, aber auch die Abrechnung mit den Nazi-Vätern, das Eindringen von Beat-Elementen, der lauter werdende Feminismus, die vorbehaltlose Einbeziehung der Subkultur, eine Durchmischung von Tragik und Komik setzten ganz neue Akzente in der Literatur dieses Jahrzehnts. Und sogar in der DDR gab es damals Lockerungen, die dann allerdings 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann ein jähes Ende fanden.

In großartigen Porträts erzählt Helmut Böttiger von der Neuen Innerlichkeit als beherrschende Literatur-Strömung der siebziger Jahre, die sich bei allen diese Epoche prägenden Schriftstellern in verschiedenen Spielarten artikuliert. Unter anderen werden Karin Struck und Ingeborg Bachmann als typische Vertreterinnen der schreibenden Frauen gewürdigt, es folgt der junge Peter Handke. Sodann stehen Bernward Vesper und Christoph Meckel exemplarisch für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, und die Trennung der Verlage Klaus Wagenbach und Rotbuch wird unter dem Stichwort «Linke Verwerfungen» behandelt. Ein Kapitel ist Wolf Biermann gewidmet, es folgt das «Nicht Druckbare» in der DDR, sodann wird Christa Wolf als Lichtgestalt der DDR-Literatur gewürdigt. Weiter geht es mit Heiner Müller, gefolgt von dem aufmüpfigen Fritz Rudolf Fries. Als «heraus gemeißeltes Jahrhundertwerk» feiert Helmut Böttiger «Die Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss, dessen zentrale Aussage die «Mehrdeutigkeit der Kunst» sei. Nicht ohne Spott werden schließlich die schwierigen Beziehungen zwischen Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser sowie die desaströsen zwischen  Siegfried Unselt und Thomas Bernhard geschildert. Es folgen Uwe Johnson mit »Jahrestage» und die Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günter Grass mit ihren Werken aus diesem Zeitraum, und auch Arno Schmidt mit «Zettels Traum» wird ausführlich gewürdigt.

Diese anekdotenreichen Porträts sind als lehrhafte Chronik für ambitionierte Leser äußerst nützlich. Zudem vermittelt die oft amüsante Lektüre en passant eine Fülle von Interna der Branche und verdeutlicht Prozeduren zum besseren Verständnis einer Kunstgattung, die den Intellekt fordert wie keine zweite, und all das wird dann auch noch sehr unterhaltsam erzählt!

Fazit: erstklassig

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Genre: Sachbuch
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Der versperrte Weg

Im Räderwerk der Verfolgung

Mit dem Roman «Der versperrte Weg» hat der deutsch-französische Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt dem in seinem autobiografischen Œuvre bisher sträflich vernachlässigten Bruder Erich ein berührendes literarisches Denkmal gesetzt. Der 1928 geborene Autor und sein vier Jahre älterer Bruder waren Söhne eines Juristen aus Reinbek in Holstein. Von jüdischer Herkunft, waren die Goldbergs schon im neunzehnten Jahrhundert zum christlichen Glauben konvertiert. Gleichwohl wurden sie als «nichtarische Christen» von den Nazis verfolgt, mit verheerenden Konsequenzen für den Lebensweg des eigensinnigen Bruders, wovon bereits der Buchtitel kündet.

Als spätgeborenes Kind wurde der Autor von den Eltern besonders verhätschelt. Der große Bruder fühlte sich abrupt zurück gesetzt und hat ihn derart gehasst, dass er, in einem unbewachten Moment, eine Stricknadel in der Hand, «schon mit gehobenem Arm» an der Wiege des Babys stand, um ihm die Augen auszustechen. Goldschmidt erklärt im Roman: «Durch meine Erscheinung auf dieser Welt habe ich sein Leben zerstört». Rivalität prägte auch das spätere Verhältnis des ungleichen Brüderpaares, ein Ordnungs-Fanatiker der ältere, ein wankelmütiger, quirliger Typ der jüngere, der alles durcheinander brachte und vieles verdarb. Erich blieb immer auf Distanz, auch wenn er sich als der Ältere später im Exil zwangsläufig auch um ihn zu kümmern hatte. Denn nachdem die Gefährdung durch die Nazis immer bedrohlicher wird, schicken die Eltern die Söhne 1938 vorsorglich zu jüdischen Bekannten nach Italien. Als die Gastgeber im Jahr darauf nach Neuseeland auswandern, – nur weit genug weg, kommen die Jungen zu einer Verwandten nach Frankreich, die sie in einem Internat unterbringt. Dort sind sie auch noch in Sicherheit, als Frankreich schließlich den Krieg verliert, denn es sind die Italiener, die das Gebiet besetzen. Bis dann 1943 doch noch die deutsche Wehrmacht dort einrückt und Georges-Arthur bei Bauern untertaucht, während sich Erich der Résistance anschließt. Sie sehen sich erst vier Jahre später wieder und sind sich ziemlich fremd geworden. Als nach dem Abitur in Paris Erichs Einbürgerung als Franzose zu scheitern scheint, ist er, unglücklicher Weise nur einen Tag vor dem Eintreffen der ersehnten Urkunde, in die Fremdenlegion eingetreten. Er hat dann in Dien Bien Phu mitgekämpft und später, als nunmehr französischer Staatsbürger, eine Offiziers-Laufbahn in der Armee eingeschlagen.

Die tragischen Umstände, die diesen Lebensweg des Bruders herbeigeführt haben, fasst der Autor im Buch mit den Worten zusammen: «Er war alles zugleich, was man lieber nicht sein sollte: evangelischer Jude deutscher Herkunft im kaum von der Okkupation befreiten Frankreich». Nach ihrem letzten Treffen 1947 haben sich die ungleichen Brüder, inzwischen völlig entfremdet, erst mehr als zwanzig Jahre später wieder gesehen. Für Goldschmidt ist diese Hommage an seinen Bruder eine späte Wiedergutmachung, wie er bekennt, in seinen autobiografischen Schriften gab es dazu bisher immer nur eine auffallende Leerstelle.

Nach fast achtzig Jahren sind die eigenen Erinnerungen und das Wenige, das er von seinem Bruder selbst erfahren hat, als faktenbasierte Grundlage seines Romans heute eher dürftig, er verkörpert also unfreiwillig den narrativen Typ des unzuverlässigen Erzählers. Stilistisch etwas holperig wird auffallend sachlich und chronologisch erzählt, wie zwei Brüdern die Jugend gestohlen wurde, sie ihre Eltern nie wieder gesehen haben und sich total fremd geworden sind. Man taucht tief ein in die Verstrickungen jener unsäglichen Epoche, von denen man doch schon so oft gelesen hat, von denen man hier aber in einer so noch nicht dagewesenen, eindringlichen Klarheit liest. «Seine autobiographische Prosa lässt die Dimension der inneren Gefährdung dessen, der ins Räderwerk der Verfolgung gerät, auf erschütternde Weise erkennen», hat die Uni Osnabrück zu Verleihung ihrer Ehrendoktorwürde geschrieben. Wie wahr!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Applaus für Bronikowski

Finale als Klamauk

Der zweite Roman «Applaus für Bronikowski» von Kai Weyand ist für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert worden, der bislang größte Erfolg für den Schriftsteller aus Freiburg. Durchaus ungewöhnlich ist das Milieu, in dem seine Geschichte angesiedelt ist und von der schon das Buchcover kündet, das Gewerbe der Bestattungsunternehmen. Eine sensible Thematik, die hier mit großem Einfühlungsvermögen als Geschichte eines liebenswerten Außenseiters erzählt wird, ein Balanceakt zwischen Pietät und Komik.

Protagonist des Romans ist der 31jährige Nies, dessen Eltern den Halbwüchsigen nach ihrem Lottogewinn in die Obhut seines fünf Jahre älteren, gerade volljährig gewordenen Bruders gegeben haben und nach Kanada ausgewandert sind. NC, wie er sich seitdem trotzig nennt, Abkürzung für No Canadian, seinen Protest bekräftigend, findet nach Irr- und Umwegen in anderen Berufen durch puren Zufall einen Job als Bestatter. Zum Entsetzen seines Bruders, der inzwischen als Banker in London Karriere gemacht hat. Und auch seine Eltern sind ebenso entsetzt, er hat sie seit langem nicht gesehen und nur noch losen Briefkontakt mit ihnen. Seine Ex-Freundin ist ebenfalls ohne jedes Verständnis für diese in ihren Augen makabre Tätigkeit und bricht den sporadischen E-Mail-Kontakt mit ihm endgültig ab. Der Inhaber seiner neuen Firma erweist sich als netter, verständnisvoller Chef, wie übrigens auch dessen kleinwüchsige Frau, die auf jeden Kalauer über ihre Körpergröße eine schlagfertige Replik parat hat. Mit der molligen Frau März in der Bäckerei verbindet ihn ein absonderlicher Einkaufsritus, bei dem er ihr die Auswahl seiner täglichen ‹Süßen Stückchen› überlässt. Auf dem Weg zur Arbeit hilft er in der Straßenbahn einem Schüler, der von seinen Kameraden ständig gehänselt und gemobbt wird, indem er dem Rädelsführer die Nase blutig schlägt. Er begegnet auch häufig einem alten Mann, der mit seinem dreibeinigen Hund spazieren geht.

Wunderbar stimmig ist sein bärtiger Chef als Abraham Lincoln-Typ umschrieben, ein kluger, nachdenklicher Mann, für den die Würde der Toten allerhöchste Priorität hat bei der Arbeit. NC findet sich schnell zurecht in seiner neuen Tätigkeit, erlernt die thanatopraktischen Arbeiten, – er arbeitet nicht nur zur Zufriedenheit seines Chefs, sondern auch der Hinterbliebenen. Die erkennen dankbar an, mit welch tiefem Respekt und Einfühlungsvermögen er äußerst pietätvoll seinen Aufgaben nachkommt. In seinem ereignislosen Privatleben hingegen baut der lebensuntüchtige, verschrobene junge Mann Wut oder Frust durch kindliche Streiche ab, indem er zum Beispiel in dunkler Nacht die Fassade des gegenüberliegenden Hauses mit Eiern oder Tomaten bewirft. Er ist ein genauer Beobachter, zerlegt und hinterfragt sprachsensibel Wörter wie Bäckerei-fach-verkäuferin, nimmt scheinbar naiv Diskrepanzen wahr zwischen den Dingen und den Wörtern, die sie bezeichnen. So wundert er sich auch über den Namen Frühlingsstraße, denn die besteht nur aus hässlichen, trostlosen grauen Häusern.

In einer bildhaften, leicht lesbaren Sprache erzählt Kai Weyand amüsant, oft in grotesken Szenen, von der schwierigen Selbstverwirklichung seines Antihelden. Erstaunlich ist, wie poetisch hier die Verlorenheit eines melancholischen jungen Mannes beschrieben wird und wie selbstverständlich der Autor mit einem so sensiblen Thema wie dem Tod umgeht. Stärkste Momente waren für mich die kontemplativen Gedankengänge des sinnierenden Helden, der permanent die Welt hinterfragt, was dem Roman letztendlich einiges an Tiefgang verleiht. Diese tragikkomische Geschichte verliert sich aber leider zum Ende hin in eindeutig überzeichneter Absurdität. Beim Erfüllen eines mutmaßlich letzten Wunsches nach Seebestattung und beim desaströsen Abgang des titelgebenden Schauspielers Bronikowski, der von Applaus gekrönt wird, gerät der Plot im Finale zum puren Klamauk, mit dem wenig überzeugend die partielle Unzurechnungsfähigkeit des Helden verdeutlicht werden soll. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Johnny und Jean

Phantasiekompetenz gefragt

In ihrem zweiten Roman «Johnny und Jean» thematisiert die österreichische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Teresa Präauer auf satirische Art die zeitgenössische Kunstszene. Der Buchtitel erinnert an berühmte chaotische Paare wie ‹Jules und Jim›, nur dass hier die Dramatik fehlt, Johnny und Jean sind harmlose Kunststudenten auf dem Weg zum Ruhm. «Mach gute Kunst» ist das Motto, aber genau das ist bekanntlich leichter gesagt als getan und wirft in der bildenden Kunst, wie der Klappentext aufzählt, nebenbei viele urkomische Fragen auf, mit denen niemand gerechnet hat.

Bei Studienbeginn an der Kunsthochschule trifft Ich-Erzähler Johnny seinen Schulkameraden Jean wieder, der ihm durch einen Salto vom Dreimeterbrett schon als Schüler imponiert hat. Auch im Studienbetrieb wird Jean schnell zu einer Führungsfigur, er wird von allen bewundert, ist den Kommilitonen immer voraus, ein selbstbewusster, kreativer Machertyp. Johnny hingegen ist Außenseiter, ein Zauderer und Tagträumer, der ideenlos stundenlang vor dem leeren Blatt sitzt. Er beschäftigt sich lieber mit Max Doerners Materialkunde, fertigt sechs Rahmen, zieht Leinwand auf, grundiert sie, – und dann kommt Jean und nimmt sie einfach alle mit. Während Jean am Kunstmarkt reüssiert, verrückte Kunstaktionen inszeniert, eigene Ausstellungen hat und seine Werke auch verkaufen kann, arbeitet Johnny immer mit dem gleichen Motiv. Schon an der Kunsthochschule hatte er sich mit seinen realistisch gemalten Fischen beworben und wurde auch erst im zweiten Anlauf angenommen, seither ist ihm nichts anderes mehr eingefallen. Sinniger Weise ist es dann ein Abfüller von Mineralwasser, der schließlich drei seiner sonst unverkäuflichen, «zart getuschten» Fischbilder erwirbt.

«Ich stelle mir vor, wie ich als junger Bub auf dem Land lebe» heißt es im ersten Satz, eine latent vorhandene Fantasie überdeckt das Wenige, was Realität sein könnte in diesem Künstler-Roman, der narrativ typische Stil des unzuverlässigen Erzählens. Die erforderliche Vorstellungskraft wird hier auf die Spitze getrieben, in vielen Szenen und Gesprächen bleibt der Wahrheitsgehalt fraglich, alles könnte auch irreal sein, und meist ist es für den Leser auch nicht möglich, eindeutig zu erkennen, was nur satirisch gemeint ist. Teresa Präauer dürfte als Autorin eigene Erfahrungen und Interna aus dem Kunstbetrieb in ihre Geschichte eingebaut haben, was den Text durchaus authentisch erscheinen lässt. Wenn der Held plötzlich mit Salvador Dalì spricht, wird allerdings klar, dass er fantasiert. Auch Marcel Duchamp mischt sich dann ein, und als Johnny ihn aufklärt, dass nach der Definition von Joseph Beuys jeder ein Künstler sei, fragt der zurück: «Beuys, wer ist der Kerl?» Alles was passiert in diesem surrealen Roman ohne erkennbare Handlung basiert allein, um ein wunderbar passendes Kompositum der Autorin zu benutzen, auf der «Phantasiekompetenz» seiner Leser. So findet die Initiation des Helden zum Beispiel in einen Museum von Kopenhagen statt, in einer Video-Blackbox mit Werken von Pipilotti Rist, wo Johnny von einer unbekannten Frau, die dort als einzige plötzlich neben ihm sitzt, völlig überraschend rittlings vernascht wird. Es lebe die Fantasie!

Erzählt werden die teils abstrusen Begebenheiten und wirren Dialoge der Kunstjünger, mit netten Anekdoten angereichert, in knappen Sätzen, oft im Jargon der Kunstwelt. Es gibt allerdings keinerlei Steigerung, keine überraschenden Wendungen, alles plätschert gleichförmig dahin und führt letztendlich auch zu nichts. Die farblosen Figuren sind eher emblematisch angelegt, sie bleiben unverbunden Solitäre der Kunstszene. Das permanente «Namedropping» in den Dialogen der Figuren kennzeichnet, durchaus selbstironisch, auch diesen verspielten Roman selbst, wirkt aber allmählich dann doch arg aufgesetzt. So winkt als Lesefrucht allenfalls eine Bereicherung des eigenen Kunstwissens, das im Plot angelegte psychische Konfliktpotential bleibt ungenutzt.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Gelenke des Lichts

L’art pour l’art

Immer wieder gibt es ja Romane, die polarisierend auf die Leserschaft wirken, so auch das Romandebüt mit dem kryptischen Titel «Gelenke des Lichts» von Emanuel Maeß. Ein Hybrid, was die Gattung anbelangt, aus «Bildungs-, Schelmen- und Campusroman», wie die Jury für den Deutschen Buchpreis 2018 schrieb, die ihn immerhin auf die Longlist gesetzt hatte. Mit Anklängen an Goethes «Wilhelm Meister» wird hier, mit vielen eingeschobenen Reflexionen angereichert, die Entwicklung eines jungen Mannes von der Adoleszenz bis zum Studienabschluss in Cambridge anschaulich beschrieben, allerdings an keiner Stelle «schelmisch»! Andererseits ist man auch an Petrarcas Minne-Dichtung «Conzoniere» erinnert, dessen Laura heißt hier Angelica und ist ebenfalls die ferne, idealisierte Angebetete, die aber als eine Art Leitmotiv sehr lose in den Plot eingewoben ist, ohne dass man deshalb gleich von einem Liebesroman sprechen könnte.

Der Ich-Erzähler ist Sohn eines Pfarrers und einer Ärztin in Urspring an der Werra, dem fiktiven geografischen Mittelpunkt Deutschlands, die Erzählzeit reicht von 1980 bis zum Beginn des neuen Jahrtausends. Zu DDR-Zeiten besucht der 11Jährige in dem kleinen Ort die Schule und sieht bei einem feuchtfröhlichen Neptunfest fasziniert ein neunjähriges Mädchen selbstvergessen am Strand tanzen. Sie begegnet ihm später zufällig noch einige Male, ein loser Kontakt entsteht und bleibt über viele Jahre hinweg erhalten, schließlich besucht sie ihn sogar einmal während seines Studiums in Cambridge. Es kommt zum One-Night-Stand, ihre Wege trennen sich aber sofort wieder, bis sie sich schließlich völlig aus den Augen verlieren und Angelika nur noch gelegentlich leitmotivisch als idealisiertes, das Bewusstsein erweiternde Sinnbild in seinen Gedanken herumspukt.

Die in der angedeuteten Form eines Briefromans an die Angebetete verfasste Erzählung hat die Suche des sich unverstandenen fühlenden, sensiblen Ich-Erzählers nach Selbsterkenntnis zum Inhalt. Er studiert breitgefächert Geisteswissenschaften, zunächst in Heidelberg und später, mittels Stipendium, in Cambridge. Mit dem Studienabschluss endet dieser Roman der Innerlichkeit. Dessen Thematik, die geistige Entwicklung seines wissbegierigen Helden, – hier eingebettet in eine überbordende, an Bildungshuberei grenzende Gelehrsamkeit -, wird in wohlgesetzten Worten erzählt. Diese grandiose Erzählkunst aber ist Stärke und Schwäche des Romans zugleich. Positiv zu nennen sind überaus poetische Landschaftsbeschreibungen, interessante Schilderungen des Studienbetriebs in beiden Ländern, stimmig hervorgerufene Assoziationen, tiefschürfende Reflexionen über Musik, Literatur, Religion, Philosophie, – und immer wieder dient ihm die Natur als Phänomen und Kulisse zugleich. Lästig, irgendwann sogar nervig aber wird die gestelzte, hochgestochene Sprache mit sehr speziellem Fachvokabular, abseitigen Fremdwörtern und vielen, nur akademischen Insidern verständlichen Anspielungen und Verweisen, die zum vollen Verständnis einen humanistischen Bildungshintergrund bedingen. Diese unzähligen, selbstgefälligen Belege für die sichtlich vorhandene Gelehrsamkeit und umfassende philologische Bildung des Autors stören erheblich, weil sie so feierlich, so penetrant aufgesetzt wirken. Denn für die Fachwelt dürfte dieses Buch ja nun wirklich nicht geschrieben sein, der «Normalleser» aber, und eine solche Spezies scheint es zu geben, wird heillos überfordert!

Je nachdem also, ob man die überschäumende Formulierungsseligkeit von Emanuel Maeß goutiert oder nicht, ist dieser Roman, in dem so gut wie nichts geschieht, literarisch als heutzutage selten anzutreffendes Sprachkunstwerk anzusehen – oder aber als altkluges, aus der Zeit gefallenes, pseudowissenschaftlich aufgemotztes Geschwafel um seiner selbst willen. Sprachliche Perfektion als Selbstzweck mithin, L’art pour l’art! Ob das aber reicht als Anreiz zur Lektüre, muss jeder potentielle Leser ganz individuell für sich selbst entscheiden.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Die zweite Frau

Wo Realität die Fantasie übertrifft

Der dieser Tage neunzig Jahre alt gewordene Schriftsteller Günter Kunert hat ein vielseitiges Werk geschaffen. Die schier endlose Liste allein seiner über 150 Buchveröffentlichungen endet aktuell mit einem Roman, dessen Manuskript er vor kurzem zufällig wiederentdeckt habe und der nun erstmalig unter dem Titel «Die zweite Frau» erschienen ist. Mit fast 45 Jahren Verspätung, in seiner Lebensmitte also – aus heutiger Sicht. Denn an eine Veröffentlichung war damals nicht zu denken, der satirische Roman nimmt nämlich mit beißender Ironie die DDR auf die Schippe, den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, sichtbarer Beweis für die Überlegenheit des real existierenden Sozialismus. Keine Angst, es geht nicht um trockene Dialektik in diesem Band, den übrigens eine Zeichnung von Hand des Autors ziert, denn bereits sein Titel deutet stimmig eine andere Thematik an: Die zweite Frau hat Probleme mit der ersten.

Margarete Helene, Faustsches Gretchen und schöne Helena zugleich, die wenige Tage vor ihrem 40ten Geburtstag steht, findet beim Abriss eines Schuppens in ihrem Garten einen halb verrotteten Büstenhalter, – mit beeindruckender Körbchengröße. Barthold, ihr Mann, der im Liegestuhl döst und aus einem wüsten Traum mit Walter Ulbricht erwacht, kann die misstrauische Frage seiner Liebsten nach der vormaligen Trägerin des BHs nicht beantworten, der Schuppen stehe ja schon seit Jahrzehnten. Anders als seine tatkräftige Frau ist Barthold ein introvertierter Archäologe, elf Jahre älter als seine Frau, die beiden leben in einem bescheidenen Häuschen und sind glücklich miteinander, beide wissen sehr genau, was sie aneinander haben. Während Margarete Helene nun eifersüchtig weiter nach der Besitzerin des BHs forscht, eine vergilbte Postkarte von einer gewissen Elfi findet und eine erste Ehe vermutet, die er ihr verschwiegen habe, macht sich ihr Ehegespons auf die schwierige Suche nach einem passenden Geschenk für sie. Und landet schließlich angesichts deprimierend leerer Regale im Intershop, wo er mit illegal beschafftem Westgeld einen Goldring mit Rubin ersteht. In der langen Warteschlange dort kommt er mit einem Mann ins Gespräch, zitiert dabei Montaigne und erklärt auf Nachfrage, es handele sich um die Worte eines Franzosen. Derweil findet seine Holde im Erdreich unter dem Schuppen Knochen, die menschlich sein könnten, – sofort denkt sie an Elfi. Das Ganze gerät vollends zu Farce, als tags darauf ein tumber Stasi-Mitarbeiter auftaucht und gottlob nicht nach den vermeintlichen Knochen von Elfi fragt, sondern von Barthold Auskünfte über diesen Franzosen namens «Mohnteine» haben will, Kontakte ins feindliche Ausland seien ja schließlich meldepflichtig.

Der systemkritische Autor spricht Klartext, er rechnet in seinem derben Roman geradezu zynisch mit dem Staat ab, in dem er damals lebte. Seine scharfe Kritik ist jedoch nicht nur umwerfend witzig in eine wohldurchdachte, peinlich entlarvende Handlung verpackt, sie wird auch in zum Brüllen komischen Satzgebilden und Wortschöpfungen erzählt, die besonders in den Dialogen geradezu funkeln. Der Leser kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus, vor allem dann nicht, wenn ihm das Zeitkolorit einigermaßen vertraut ist. Nebenbei lässt Günter Kunert in seinem, damals todsicher als staatszersetzend angesehenen und in Ost und West gleichermaßen undruckbaren Roman seiner überquellenden Lust am Reflektieren freien Lauf, – wobei ihm Michel de Montaigne stets hilfreich zur Seite steht.

Diese Trouvaille, die man nun so schenkelklopfend liest, ist sicherlich keine große Literatur, aber eine herrliche Persiflage mit hohem Unterhaltungswert. Es ist außerdem, das sei besonders den DDR-Nostalgikern ins Stammbuch geschrieben, auch das beklemmende Zeugnis einer menschenverachtenden Diktatur. Also etwas, das der Autor sich damals wohl von der Seele schreiben musste, denn die Realität, sagt er altersweise, übertrifft die Fantasie bei weitem.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Hargard

Symptom der Schwellenzeit

Als jüngstes der fünf Prosawerke des Schweizer Dramatikers und Schriftstellers Lukas Bärfuss erschien 2017 der Roman «Hagard», dessen kryptischer Titel auf die Falknerei verweist und einen schwer abzurichtenden Beizvogel bezeichnet. Erzählt wird die Geschichte eines urplötzlich zum Stalker mutierten Immobilienmaklers, der Zeit und Raum vergessend einer fremden jungen Frau in pflaumenblauen Ballerinas folgt und damit unentrinnbar in eine zunehmend bedrohlicher werdende Spirale des existentiellen Verfalls gerät. Als Szenario des Untergangs ein rätselhaftes Phänomen, dem Bärfuss in wechselnder Konstellation auch in anderen seiner Werke nachspürt.

Dramaturgisch geschickt steigert der Autor die Spannung seines Plots, indem er den zunächst harmlos scheinenden, männlichen Jagdinstinkt seines Helden immer mehr in Richtung eines beängstigenden Verfolgungszwangs fortentwickelt. Im Gedrängel einer Schweizer Großstadt folgt der Endvierziger aus einer erotisch inspirierten Laune heraus besagter junger Frau, nachdem er in einem Café vergeblich auf einen Kunden gewartet hatte. Was als Spiel mit dem Zufall beginnt, bei dem jederzeit ein vorschnelles Ende möglich bleibt, entwickelt sich hier allmählich zu einer Flucht aus dem Terminkalender, zu einer Obsession, in die sich Philip zunehmend rigoroser hineinsteigert. Immer absurder, immer surrealer reihen sich die Stationen dieser Verfolgungsjagd aneinander, gerät der manisch getriebene Held in groteskere Nöte. Er verwahrlost zusehends, irrt als Schwarzfahrer ohne Geld schmutzig und hungrig, zuletzt mit nur noch einem Schuh, seiner namenlosen Lichtgestalt hinterher. Er hat sie nicht angesprochen, und trotz aller Bemühungen hat er bisher noch nicht einmal ihr Gesicht gesehen, immer wieder sieht er sie nur von hinten oder aus weiter Ferne, – eine deutlich allegorische Anspielung.

Diese für den Helden ruinöse Hatz spiegelt in ihrer Sinn- und Ziellosigkeit treffend unsere gesellschaftliche Realität wieder. Dem Zeitkolorit dienend sind beiläufig diverse aktuelle Ereignisse in die Geschichte eingebaut, die Vogelgrippe zum Beispiel oder die Krimkrise. Geradezu leitmotivisch wird häufig auch das ungeklärte Verschwinden der Boeing der Malaysia Airlines am 8. März 2014 im Pazifik erwähnt. Der ebenso spannende wie bedrückende Roman stellt eine scharfsinnige Zivilisationskritik dar, in der aufgezeigt wird, wie durch einen fragwürdigen Impuls ein den gesellschaftlichen Notwendigkeiten perfekt angepasstes Leben unversehens total aus der Bahn geworfen werden kann, womit auf beängstigende Weise auch viele unserer fragwürdigen Gewissheiten zerstört werden. Die anderthalb Tage dauernde Story jedenfalls endet, wie nicht anders zu erwarten nach der erzählerischen Tonlage, tragisch für den Antihelden.

«Seit viel zu langer Zeit versuche ich, Philips Geschichte zu verstehen» lautet der erste Satz des Romans, – so manchem Leser wird es ähnlich ergehen! Verstörend fand ich die wechselnde Erzählhaltung, die leicht durchschaubar mit der scheinbaren Ahnungslosigkeit eines voyeuristischen Autors kokettiert. Einerseits nämlich schwadroniert da ein kulturkritischer Ich-Erzähler mit allerlei fragwürdigen Einlassungen, – recht betroffen scheinend -, über soziale Wirklichkeit, andererseits wird mit kritischer Distanz im Er-Modus von der fixen Idee eines vermeintlich Unbekannten erzählt, von dessen Geschick dann eher satirisch gefärbt berichtet wird. Die Abfolge der geisterbahnartigen Szenen jedenfalls erscheint slapstickartig aneinander gereiht, eine unpassende Leichtfüßigkeit, mit der das durchaus ernste Anliegen des Romans immer wieder störend konterkariert wird. Stilistisch zweifellos auf hohem Niveau, gelingt es Lukas Bärfuss leider nicht, seine literarische Intention halbwegs plausibel mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, wenn er über die Brüchigkeit des modernen Lebens schreibt, – Symptom einer typischen Schwellenzeit übrigens, nach Einschätzung des streitbaren Autors.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Soutines letzte Fahrt

dutli-1Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Nicht jeder Bücherfreund wird mit dem Namen Chaim Soutine etwas anfangen können, es sei denn, er kennt sich gut aus in der Welt der Malerei. Spätestens mit der Lektüre des Romans «Soutines letzte Fahrt» von Ralph Dutli, dem Erstling dieses als Lyriker bekannten Schweizer Autors, dürfte sich das entscheidend ändern. Schon das vollformatige, bunte Titelbild wirkt ja erhellend, zeigt es doch des Malers wohl berühmtestes und in seiner speziellen Malweise für ihn typisches Gemälde, «Der Konditorjunge von Céret». In einer geschickt zwischen historischen Fakten und phantasievoller Fiktion hin und her pendelnden Erzählung schildert der Autor das turbulente Leben dieses weißrussischen Malers jüdischer Konfession in seinen Höhen und Tiefen, und sein Ende natürlich auch, auf das ja der Romantitel schon hinweist, seine «letzte Fahrt» nämlich.

«Die Welthauptstadt der Malerei» ist in dieser Biografie der eigentliche Schauplatz des Geschehens, das Paris der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Metropole des Expressionismus und Surrealismus. In den Cafés von Montmartre tummelt sich eine illustre Gesellschaft von Schriftstellern und Malern, viele bekannt Namen sind darunter, und Soutine ist einer von ihnen, erlebt in seinem Atelier die Höhen und Tiefen des Künstlertums jener Zeit. Bis dann der zweite Weltkrieg und die Besetzung der Stadt durch die Deutschen ihn als Juden in die Illegalität zwingt, er muss sich verstecken, schließlich aufs Land fliehen. Ein Magengeschwür, an dem er schon jahrelang leidet, zwingt ihn zur heimlichen Rückkehr, nur eine sofortige Operation in Paris könnte ihn eventuell noch retten. Und so wird er auf Nebenwegen, ständig den allgegenwärtigen Kontrollen der Besatzer ausweichend, in einem Leichenwagen versteckt nach Paris gebracht, begleitet von Marie-Berthe Aurenche, von ihm «Ma-Be» genannt, die ehemalige Frau von Max Ernst, die sich seiner wie ein Schutzengel angenommen hat.

Im Delirium ziehen während dieser beschwerlichen Fahrt die Stationen seines Lebens an dem unter Morphium stehende Maler vorbei, ein endloser innerer Monolog, von der frühesten Jugend in Smilowitschi bei Minsk über Wilna bis ins Mekka der Malerei, in die Stadt an der Seine. Halluzinierend durchlebt er noch mal die bitteren Hungerjahre seiner erbärmlichen Existenz, er erinnert sich an seine enge Freundschaft mit Amedeo Modigliani, an seinen langjährigen Kunsthändler Zborowski, an die glückhafte Entdeckung schließlich durch den amerikanischen Kunstsammler Barnes, der Dutzende seiner Werke kauft und ihm damit erstmals ein weniger bedrückendes Leben ermöglicht. In dieser an bizarren Details reichen Biografie kommt sogar das wegen der Gurlitt-Affäre hochaktuelle Thema Raubkunst zur Sprache, auch in Paris werden natürlich viele Kunstwerke für Görings «Carinhall» und für das geplante Linzer Führermuseum konfisziert. Bei Soutines Beisetzung schließlich auf dem Montparnasse stehen Max Jakob, Jean Cocteau und Pablo Picasso an seinem Grabe, und auch seine beiden letzten Frauen, «Mademoiselle Garde», mit der er eine uneheliche Tochter hat, und «Ma-Be» natürlich.

Ralph Dutli ist es gelungen, den Schreibstil seines Romans perfekt dem Sujet anzupassen, der expressiven Malkunst von Chaim Soutine. Beides jedoch dürfte nicht jedermanns Sache sein, die Malkunst wie die Sprachkunst. Letztere, und nur davon soll hier die Rede sein, leistet sich viele Längen, nervt zuweilen sogar mit den ausufernden Morphium-Fantasien. Und so ist denn auch das letzte Kapitel des Romans für mich das erfreulichste, denn überraschend tritt da plötzlich der Autor als Ich-Erzähler auf und erläutert seine Motive, seine Faszination für diesen Stoff, trifft dann auch noch auf einen mysteriösen, ehemaligen Geheimagenten, der einst bei der Beerdigung Soutines anwesend war und ihm einiges Denkwürdige sagt, sogar zum Thema innerer Monolog übrigens. Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Bugatti taucht auf

loher-1Lektüre mit Bonus

Wer je die herrlichen Oldtimer der Collection Schlumpf in Mühlhausen gesehen hat, dürfte die Erregung nachvollziehen können, die der Name Bugatti bei mir auslöst als geradezu idealtypische Verkörperung anekdotenreicher Automobilgeschichte. Die aufsehenerregende Bergung des mysteriösen Autowracks im Lago Maggiore vor Ascona, die diesem Buch seinen Titel gab, ging seinerzeit durch alle Medien. Nachdem die erfolgreiche Dramatikerin Dea Loher mit ihrem Debütroman gleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises aufgetaucht ist, ähnlich spektakulär wie das 75 Jahre alte Bugattiwrack auf dem Umschlagbild, war die Lektüre vollends unaufschiebbar geworden für mich.

Realer Hintergrund des Romans ist neben der Bergung der sinnlose Totschlag eines jungen Mannes während der Fasnacht in Ascona. Die Autorin erzählt ihre klar gegliederte Geschichte chronologisch korrekt in drei Abschnitten, die sich sowohl vom Umfang als auch vom Schreibstil her deutlich unterscheiden. In dem für mich schwächsten und Gott sei Dank kurzen ersten Abschnitt gewährt sie in tagebuchartiger Form einen Einblick in die depressiven Nöte des Bruders von Ettore Bugatti, die im Selbstmord enden. Dem Roman würde nichts fehlen, hätte die Autorin diese 25 Buchseiten einfach weggelassen, sie tragen rein gar nichts bei zu ihrer ansonsten klug geformten Geschichte.

Der zweite Abschnitt ist mit „Der Mord“ betitelt. In neun Kapiteln sauber gegliedert ist der Autorin die minutiöse Schilderung der Vorgeschichte und der unfassbaren Umstände einer verhängnisvollen tödlichen Prügelei meisterhaft gelungen, das ist spannend zu lesen wie ein Krimi. Besonders die im Futur abgefassten, die Gerichtsverhandlung vorwegnehmenden Aussagen der reuelosen Schläger sind beklemmend, man ist entsetzt und völlig sprachlos. Nicht minder gut gelungen ist der dritte Abschnitt über die Bergung des Bugatti, und hier nun laufen die Fäden zusammen, die Hebung des Wracks erfolgt zum Gedenken an das Opfer. Jordi, der unerschütterliche Protagonist dieses mehr als die Hälfte des Romans umfassenden Abschnittes, will mit seiner zunächst aussichtslos erscheinenden Aktion dem geschehenen Bösen das Gute entgegensetzen als Signal, will der Tragödie wenigstens nachträglich etwas nehmen von ihrer Sinnlosigkeit.

Auch wenn ich meinen ganz persönlichen Bugatti-Bonus abziehe ist der klug aufgebaute Roman eine lesenswerte, anschaulich geschriebene und mit ihren vielen sorgfältig recherchierten Details durchaus bereichernde Lektüre, die seine Leser angenehm unterhält.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Adieu Atlantis

Valentina Freimane führte ein Leben, in dem es keinen Mangel an historischen Katastrophen gab. Die Theater-,Film- und Kunstwissenschaftlerin wurde 1922 in Riga in eine lettisch-jüdische Familie hineingeboren und ist heute eine der letzten Überlebenden des Holocaust im Baltikum.
Adieu Atlantis  
 Ihre Familie war eine der Kunst und Kultur zugeneigte kosmopolitische, wie es sie heute kaum mehr gibt. In ihrer frühen Kindheit pendelte sie mit ihren Eltern zwischen Riga, Paris und Berlin, in der über ganz Europa verteilten Großfamilie werden die verschiedensten Sprachen gesprochen. In Berlin bekleidete ihr Vater die exponierte Stelle des Rechtsberaters der UFA, man residierte nahe des Kurfürstendamms, frühe Stars der erwachenden Leinwandkunst, Regisseure und Schriftsteller waren ständige Gäste der Familie. Das große Vorbild der damals kleinen Valentina war der Filmstar Anny Ondra.

Mit diesen unbeschwerten Erinnerungen beginnen ihre Memoiren. In Adieu Atlantis blickt Valentina Freimane zurück auf den ersten Teil ihres Lebens. Auf die unbeschwerten, von kultureller Großzügigkeit geprägten Jahre folgten Jugendjahre in Riga, in denen sie die dreifache Okkupation des Baltikums – zunächst durch die noch junge Sowjetunion, dann durch den Einzug der deutschen Wehrmacht und schließlich wieder durch die Rückkehr der Sowjets – durchlitt. Sie verlor ihre Eltern, ihren Ehemann und fast alle weiteren Verwandten. Valentina Freimane selbst fand an verschiedenen Orten Unterschlupf, unter anderem beim Minderheitenpolitiker und Journalisten Paul Schiemann, der im Gegensatz zu den meisten Deutschbalten nicht umgesiedelt war und der ihr während dieser Zeit seine Memoiren diktierte.

Zunächst aus der Perspektive des unbeschwerten, von allen Seiten geliebten Kindes, später dann aus der Sicht der jungen Frau läßt sie für den Leser in Adieu Atlantis ein spannendes Zeitgemälde entstehen. Ihre Erinnerungen sind ein Zeugnis einer untergegangen Welt, eines versunkenen Atlantis, das bisher in den Geschichtsbüchern wenig Würdigung erfuhr und gerade in unseren Breiten weitgehend unbekannt ist. Daneben sind es auch die Erinnerungen an die ihr Schutz gewährenden Menschen, die einen breiten Raum in ihren Erinnerungen einnehmen und denen sie damit eindrucksvoll Reminiszenz erweist.

Die Lebensgeschichte Valent?na Freimanes ist eng mit der Geschichte nicht nur Europas, sondern vor allem auch mit der Lettlands verknüpft und eröffnet einen vielschichtigen Blick auf diese Zeit. In der Tat ist es ja so, dass nicht nur immer weniger Zeitzeugen unter uns leben, die noch authentisch von dieser Zeit erzählen können, sondern gerade auch die damaligen Lebenswirklichkeiten im Baltikum und vor allem die der dort lebenden Juden hierzulande weitgehend unerzählt sind. Valentina Freimane schließt eine Lücke und macht nicht zuletzt dadurch Adieu Atlantis so lesenswert.

Zu Beginn ihrer Erzählungen meint man, ein osteuropäisches Pendant zu den Buddenbrooks vor Augen zu haben. Lebhaft und bildgewaltig erzählt sie vom Glanz vergangener Zeiten, von einem der klassischen Bildung verpflichteten Haushalt. Später dann ändert sich das Bild, wenn sie von der sich unerwartet schnell verändernden Lebenswelt der baltischen Juden, von ihrem lange gehegten Irrtum, durch die lettische Staatsbürgerschaft geschützt zu sein und schließlich vom Untergang einer Hochkultur erzählt. Darüber hinaus aber zeigt das Buch auch – losgelöst vom historischen Kontext – die Wichtigkeit einer Erziehung, in der Kindern Selbstvertrauen und Möglichkeiten zur freien Entfaltung gegeben wird.

Ihr Buch ist wie ein direktes Gespräch mit einem Zeitzeugen. Freimane ist nicht die größte Schriftstellerin, das gibt sie selbst unumwunden zu. Manchmal strengen ihre Erinnerungen arg an, es fehlt ein wenig an Stringenz und Struktur. Andererseits ist es gerade dies, was ihre Erzählungen so authentisch und wertvoll macht. Es ist, als höre man einer alten Dame zu, die in ihrem Sessel sitzend plaudernd vom Einen zum Nächsten kommt. Es ist wahrhaftig, auch charmant, aber es ist auch streckenweise schwer zu lesen.

Ihre Erinnerungen sind geprägt von Selbstvertrauen, dazu bemüht sie sich sichtlich, ohne Bitterkeit zurückzuschauen. Auch wenn sie aus der Perspektive des Kindes erzählt, Sachlichkeit, dem Leser die Möglichkeit eigener Urteilsfindung zu geben, ist ihr wichtig. Dabei ist ihr allerdings auch jederzeit bewußt, dass sie ihr Leben sehr privilegiert begonnen hat und ihr das auch so anerzogen wurde. Bei allem durchlebten Leid hat sie diese Attitude bis heute nicht abstreifen können. Sie weiß, dass sie kein Durchschnittsleben gelebt hat und ist stolz darauf. Ab und an kommt es dem Leser so vor, dass sie diese Besonderheit einmal zu oft und zu gerne herausstellt. Aber sei es drum. Es wurde Zeit, dass auch dieser Teil des Holocaust einmal erzählt wurde. Er ist es ebenso wie alle anderen, wesentlich besser dokumentierten Teilbereiche, wert erzählt zu werden. Freimanes Memoiren sind spät erschienen, aber sicher nicht zu spät.

Man kommt während der Lektüre nicht umhin zu denken, wie traurig es ist, dass diese Welt versunken ist. Was könnte Lettland heute für ein einzigartiges Land sein, wie sehr war es damals multikulturell geprägt! Auf ihre Art nimmt Valentina Freimanes Buch eine Art Vermittlerposition ein. Zu oft werden die Erinnungen an diese Zeit von strikter antifaschistischer Erinnungskultur auf der einen und antibolschewistischer auf der anderer Seite geprägt. Adieu Atlantis ist auch ein Aufruf für Toleranz und Demokratie auf allen Seiten. In der gegenwärtigen Zeit wiederaufkeimender Verfeindung der Ideologien, namentlich in der Debatte über die Ukraine-Krise, könnten ihre Erinnerungen, so sie denn gehört werden, eine Brücke zwischen gegensätzlichen Weltanschauungen bauen. Und schon alleine deshalb sei dem Buch seine kleinen Schwächen verziehen und das Fazit gezogen: lesenswert und aller Ehren wert.

Adieu Atlantis endet 1945. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Valentina Freimane es als überlebende Jüdin großbürgerlicher Herkunft nicht leicht in der Sowjetunion. Dennoch machte sie eine bemerkenswerte Karriere. Als promovierte Kunstgeschichtlerin arbeitete sie an der Lettischen Akadiemie der Wissenschaften. Ihre Verbindungen und Beziehungen ermöglichten es ihr, eine ihrer großen Leidenschaften, das Kino, mit ihren Studenten zu teilen und Filme aus den Teilen der Welt zu beschaffen, die sonst in der Sowjetunion nicht gezeigt wurden. Viele verehren sie bis heute für das von ihr so geschaffene Fenster zu einer ansonsten abgeschnittenen Welt. Bis heute lebt sie sowohl in Riga als auch immer wieder in Berlin.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.de 


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
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Anarchie in Ruhrstadt

Anarchie in Ruhrstadt Man sagt es schnell so dahin: “Ruhrstadt” – wenn man nach seiner Herkunft gefragt wird. Eine Zeitlang galt das als schick, doch dann liest man wieder vom ewigen Gezänk um das Ruhrparlament und fragt sich, ob das mit der Ruhrstadt wirklich so eine gute Idee ist und ob es nicht hauptsächlich um die Sicherung eigener Pfründe geht. Der Autor Jörg Albrecht hat die Sache mit der Ruhrstadt und der vielbeschworenen Kreativwirtschaft jetzt zu Ende gedacht. In seinem Buch “Anarchie in Ruhrstadt” entwirft er eine Utopie, die ganz schnell zur Dystopie wird und die Rahmenhandlung für das Theatertour-Projekt “Die 54.Stadt – Das Ende der Zukunft” bildet.

September 2044: Rick und Julieta wollen aus der Ruhrstadt fliehen, aber das ist in der streng reglementierten und lückenlos überwachten “Mega-Urbanität” gar nicht so einfach. Sie starten an zwei entgegengesetzten Punkten der Metropole und erleben jeweils eine eigene Odyssee, die einer Albtraumreise durch eine gelebte Freak-Show gleicht. Dass so manches darin “nur” virtuell ist, macht es auch nicht besser, eher noch erschreckender.

Begonnen hatte alles im August 2015. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verkündet den Rückzug ihrer Regierung aus der Mitte NRW’s, der aus dem Exil zurückgekehrte Schriftsteller György Albertz (Cameo-Auftritt des Autors?) übernimmt mit alten Freunden. Ab da gibt es nur noch RoW – Rest of World und die aus ehemals 53 Städten zusammengesetzte Ruhrstadt. Der Ausweg aus der im Ruhrgebiet nach wie vor herrschenden Ratlosigkeit kann nur die Kunst, die Kultur, eben die Kreativwirtschaft sein. Fortan klotzen nun Designer, Autoren, Musiker, Programmierer dort ran, wo einst Kohle gehauen und Stahl gekocht wurde.

Jedem Bezirk wird eine andere Sparte zugeordnet. Im ehemaligen Recklinghausen toben sich nun die Werber aus, die Zeche Zollverein wird zur auch in RoW bewunderten Filmfabrik Whizzo Frizzo, in Mülheim regieren die Videogamer und Programmierer, Dortmund wird zum Zentrum der Modeschöpfer, die Schriftsteller sind am niederrheinischen Rande des Ruhrgebiets in seliger Klausur, Duisburg wird ganz der Natur zurückgegeben und heißt fortan Duschungelburg. Wohl besser so, wachsen hier doch ob der kontaminierten Böden wundersame Pflanzen, um die auch RoW die Ruhrstadt beneidet. Doch was als idealistisches Projekt begann, wird schon bald zu einem alles bestimmenden totalitären System. So wird aus der gewünschten Utopie im Buch eine bittere Satire über ein Gebiet, dass so gerne Metropole wäre und oft genug doch nur belächelt wird, vor allem, weil es sich immer im eigenen “klein klein” verliert.

Etliches aus dem Buch mutet unangenehm bekannt an. Ist es nicht schon jetzt so, im Jahr vier nach der Kulturhauptstadt, dass Dienstleistung und Kultur zum heilsbringenden Strukturwandel aufgeblasen werden? Ist es nicht schon so, dass die Menschen im Ruhrgebiet eine bemerkenswerte Mobilität beweisen, die der der Städteplaner um einiges voraus ist? Jörg Albrecht treibt diese Mobilitätsbereitschaft nur auf die Spitze, indem die Menschen nun nicht nur den Konzerten und Events hinterherreisen, sondern dorthin geschickt werden, wo man ihre Arbeit verortet hat. Oder nehmen wir sein “Dschungelburg”, ehemals Duisburg. Ein gezielter Griff ins private Fotoalbum reicht und Bilder aus dem Duisburger Landschaftspark Nord illustrieren prima, dass diese Utopie längst auf dem Weg in die Wirklichkeit ist.

Dschungelburg

Jörg Albrecht hat eine Zeitlang in Dortmund gelebt und weiß genau, worüber er schreibt, was er kritisiert und was er möchte. Sein Buch steckt voller bitterer Wahrheiten, aber die Verbundenheit zu seiner alten Heimat und die Sorge um diese ist aus seinem Buch deutlich herauszulesen. Es ist nicht so, dass Albrecht die aufblühende Kreativwirtschaft im Ruhrgebiet nicht begrüßt. Ganz im Gegenteil, es ist gerade mal 10 Jahre her, dass er selbst (vergeblich) in einem Theaterkollektiv versuchte, Subkultur im Ruhrgebiet zu vernetzen. Aber was er sich wünscht und dem Ruhrgebiet empfiehlt, wäre “mehr Heterogenität. Mehr Vielfalt und das auch gerne im Speziellen. Nicht eine Mall nach der anderen, nicht eine Philharmonie nach der nächsten.” *

Das spektakuläre, überspitzte Scheitern seiner Utopie im Buch ist eine klare Mahnung, dass die Konzentration auf die Kreativwirtschaft zum Scheitern verurteilt ist. All die großartigen Industriekultur-Projekte werden die Montanindustrie und den Bergbau nie ersetzen können und der Blick über den Tellerrand der eigenen Stadt, ja mancherorts sogar des eigenen Dorfes tut mehr denn je not. “Anarchie in Ruhrstadt” ist Bestandsaufnahme plus Vision plus Desillusionierung minus Resignation, in Rahmenhandlung gepackt. Auf eine Art ist es das Buch, dass das Ruhrgebiet dringend braucht, auf eine andere Art jedoch ist es nicht massenkompatibel. Das Buch ist schwierig zu lesen, schon alleine, weil die Dramaturgie der Handlung nicht klar aufgebaut ist und durchweg in einem unterkühlten Präsens erzählt wird. Schwierig, sich auf einen Inhalt zu konzentrieren, wenn man fortwährend überlegt, in welcher Zeitzone man sich nun gerade wieder befindet.

Der Stilmix ist gewagt, von Science Fiction über Regieanweisungen bis zu dokumentarischen Bestandsaufnahme geht alles wild durcheinander. Genau wie die Sprache, die sich manchmal noch mitten in einem Absatz von der abgehobenen Sprache der ideologisch Getriebenen hin zur Umgangssprache des kleinen Mannes auf der Straße wandelt. Es ist anzunehmen, dass Albrecht dies bewusst war und er es genau so gewollt hat. Vielleicht ist es eher nicht seine Intention, den “kleinen Mann auf der Straße” zu erreichen oder die Verantwortlichen in den Rathäusern, vielleicht will Albrecht mit diesem Buch und dem Projekt ganz gezielt die bei diesem Thema auffallend unambitioniert wirkende künstlerische Avantgarde ansprechen und aufrütteln, um diese mal in die Diskussion zu zwingen.

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift 

Zitat Jörg Albrecht in einem Studiogespräch mit WDR 5
D
iese Rezension erschien zunächst in den Revierpassagen.de


Genre: Theater
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Bugatti taucht auf

Bugatti Es ist ein eher unbekannter Bugatti, der zu Beginn auf den Seiten dieses erstaunlichen Romans auftaucht: Rembrandt Bugatti, jüngerer Bruder des legendären Erfinders und Konstrukteurs Ettore. Dieser Rembrandt lebt zurückgezogen und unglücklich als Bildhauer, Aus seinen Tagebüchern aus den Jahren 1914/15 erfährt der Leser einiges über die stilprägende italienische Dynastie, aber auch aus dem tragischen, unglücklichen Leben des Rembrandt Bugatti, eines Menschen, für den “die Routine des Wiederkehrenden” nicht tröstlich ist, sondern “der Beweis, dass es kein Entkommen gibt.”

Szenenwechsel: Gegenwart. Februar 2008. Im schweizerischen Locarno wird die “Stranociada”, der Tessiner Karneval gefeiert. Ein junger Mann, Luca, gerät unbeabsichtigt in eine alkoholisierte Auseinandersetzung, wird kaltblütig zu Tode geprügelt und getreten. Aus nüchternen Protokoll-Aufzeichnungen ergibt sich die Chronik eines beiläufigen und völlig sinnlosen Todes, das unfassbare, weil “triste Bild von jungen Leuten zwischen Langeweile und Überforderung, die nicht wissen, was sie tun und deren Lebensgefühl man vermutlich so zusammenfassen könnte: Was soll der ganze Scheiß?”

Szenenwechsel: Wir lernen Jordi kennen, einen Freund der Familie des getöteten Jungen. Jordi aus dem Nachbarort Ascona, der dort eine Unterwasserfirma besitzt und sich “ungeheuerlich schämte, ohne zu wissen, wofür. Einfach für das, was passiert war.” Jordi ist ein durch und durch integrer, moralischer Mensch. Er will es nicht hinnehmen, dass diese Tat ungesühnt bleibt, er will der im Tessin schwelenden, zuweilen hysterischen Aufregung etwas entgegenhalten, den Tätern keine größere Bühne bieten als unbedingt nötig. Er will der Sinnlosigkeit, dem Unfassbaren “eine andere Handlung entgegensetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte, etwas gutartig Schönes [….] etwas, was dem Schrecken [….] trotzen konnte [….] eine Geschichte, die von irgendwo her kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes.”
Jordi erinnert sich an einen alten Asconeser Mythos. Es geht die Legende, dass auf dem tiefsten Grund des Lago Maggiore ein alter Bugatti ruht. Bewiesen wurde diese Legende nie, mehr denn ein vage als Radnabe zu interpretierendes Etwas hat kein Taucher je gesichtet. Jordi versucht mit Hilfe von Freunden und Familie, das Unmögliche möglich zu machen und nach einigen Rück- und Schicksalsschlägen gelingt es ihnen in der Tat. Sie bergen den erstaunlich gut erhaltenen Bugatti, lassen Piazza und Promenade sperren und den Bugatti aus dem See öffentlichkeitswirksam auftauchen. “Sie machten es für Luca, der am 1. Februar ermordet wurde. Und dann organisierten sie ein großes Fest. An einem Sonntagmorgen. Und es kamen viele Leute, viel mehr Leute, als sie erwartet hatten.”

Die Geschichten, die Dea Loher in ihrem Romandebüt erzählt, fußen allesamt auf realen Ereignissen. Im Roman wird er Luca genannt, in der ebenso unfassbaren Realität war es der junge Student Damiano, der in einer Februarnacht beim Locarneser Karneval jenen grundlosen und brutalen Tod starb. Seine Familie und seine Freunde gründeten zur Trauerbewältigung die Fondazione Damiano Tamagni und kamen auf die Idee, dem Mythos des Bugatti-Wracks im Wortsinne auf den Grund zu gehen. Beide Ereignisse haben im Tessin hohe Wellen geschlagen. Als der Bugatti auftauchte, war es ein Riesen-Ereignis im kleinen Ascona und auch ein kollektives Aufatmen. Der Bugatti wurde für 230.000 Euro versteigert, dieses Kapital bildete den Grundstock für die bis heute bestehende Stiftung.

Auf nur etwas mehr als 200 Seiten hat die Autorin ein Werk von beeindruckender Komplexität geschaffen. Für jeden Erzählstrang der miteinander verwobenen Geschichten findet sie eine eigene, authentische Sprache. Die schreckliche Tat beschreibt sie dokumentarisch, nicht die ihrer Schuld ausweichenden Täter macht sie zu Romanfiguren, sondern Jordi, seine Freunde und seine weisen Ratgeber. Nicht die Gewalttat ist das Thema des Romans, sondern der Versuch, dem Verlust von Lebensträumen eine Aktion gegen Sinn- und Hilflosigkeit entgegenzusetzen. So wie Asconas berühmter Berg, der Monte Verita, nie sein Versprechen auf Wahrheit einlöst, so kommen auch die Freunde des Ermordeten der Wahrheit oder dem Sinn hinter der schrecklichen Tat nicht näher.

Der Bugatti im See war lange nicht mehr als eine Legende der Moderne, die Fondazione ist eine Sühne, ein Versuch der Wiedergutmachung. Beidem setzt Lea Doher nun ein bewegendes literarisches Denkmal. Die vorgeschaltete Geschichte der Familie Bugatti sowie die später von einem Ratgeber Jordis enthüllten Geschehnisse rund um den Bugatti und dessen unvergessenem Fahrer Rene Dreyfus dienen der Gegenwartsgeschichte dabei als Reflektor. Der radikal kühlen Sprache in den Protokollen zur Tatnacht setzt die Autorin bei der Erzählung von Jordis Geschichte eine vorsichtige, rücksichtsvolle, poetische Sprache entgegen, die das filigrane Gewebe von Schuld und Sühne, Trauer, Verlust und Aufarbeitung schützt. Manche Sätze entfalten eine ungeheure Leuchtkraft, leuchtend wie das berühmte Tessiner Licht in seinen besten Momenten.

Bugatti taucht auf wurde von der Kritik bisher einhellig gelobt und gefeiert. Ich stimme diesen Pressestimmen uneingeschränkt zu, möchte aber aus persönlichen Gründen noch einen Aspekt zufügen, der bisher wenig bis kaum Erwähnung fand.
Auch für meine Familie spielt Ascona seit Jahrzehnten eine große Rolle, genau wie Jordi stehe auch ich manchmal auf der Piazza und gerate ins Fantasieren, wie es in Ascona früher gewesen sein mochte, seit ich –wie Jordi – bei den Großeltern ein Foto von früher fand:
 Ascona
Wie Jordi sind viele, die Ascona kennen, dem Ort in einer Art ambivalenter Hassliebe verbunden. Ascona war ungeachtet seiner pittoresken Fassade noch nie eine leichte Adresse. Es war sicher nicht Dea Lohers Hauptanliegen, Ascona und seine Bewohner zu charakterisieren, aber dennoch ist ihr dies ausgezeichnet und bei aller spürbaren und berechtigten Kritik an Ascona doch liebevoll und wahrhaftig gelungen. Es ist auch der Ort und das über ihm schwebende Flair eines bedauernden “Tempi passati”, die eine Geschichte wie die des Bugatti erst möglich machten. Die unterschwelligen Schwingungen und Befindlichkeiten des Ortes, der seit Jahren zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, erfasst sie ebenso genau wie das Entsetzen über die unfassbare Tat, welches das gesamte Locarnese lange gefangen hielt. Sätze wie die über den sich esoterisch spreizenden, schlussendlich aber traurigen Monte Verita formulieren eine Wahrheit, wie ich sie besser formuliert noch nicht gelesen habe. Sätze, die ich am liebsten auswendig lernen würde, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzubringen.

Fazit: Gut möglich, dass ich mein Buch des Jahres bereits gefunden habe, Bugatti taucht auf ist eins der beeindruckendsten Romandebüts, die ich bisher gelesen habe. Prädikat: Sehr empfehlenswert.

Die Autorin: Dea Loher ist eine der bekanntesten Theater-Dramatikerinnen unserer Zeit. Sie studierte u.a. bei Heiner Müller und erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen. Ihre Werke beschäftigen sich oft mit den Themen Schuld, Trauer und Vergebung.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift 

Links zu den Hintergründen der real existierenden Geschehnisse: 
Die Bergung des Bugatti und 
Die Geschichte der Fondazione Damiano Tamagni


Genre: Romane
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