100 Jahre Alice Miller

100 Jahre Alice Miller. Die 1923 in Lwiw als Alicja Englard geborene Psychologin wäre Anfang diesen Jahres 100 Jahre alt geworden. Ein guter Anlass auf das schriftstellerische Werk der aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgetretenen „Kindheitsforscherin“ zurückzublicken. Zeit ihres Lebens hatte sie sich gegen autoritäre Machtstrukturen und für wahre Kommunikation eingesetzt und war dafür von vielen missverstanden worden. Dabei war sie immer auf Seiten der Schwächsten: den Kindern.

Christiane F. und Adolf H.: zwei deutsche Schicksale

Das Drama des begabten Kindes (1979)

Nicht nur in Psycholog:innenkreisen waren ihre Werke wie “Das Drama des begabten Kindes” (1979), “Am Anfang war Erziehung“(1980) oder “Du sollst nicht merken” (1981) Pflichtlektüre und quasi Kult. Denn Alice Miller war eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen schlimmer Kindheit und späterer Grausamkeit (etwa bei Diktatoren) untersuchte. Legende ist etwa ihre Abhandlung über Adolf Hitler in “Am Anfang war Erziehung” in der sie auf den Narzissmus und den Größenwahnsinn des Gröfaz eingeht und ihn anhand seiner Kindheitserfahrungen erklärt. Natürlich nicht um ihn zu entlasten, sondern herauszufinden, was ihn auch mit anderen Diktatoren verband, die die Welt seit jeher heimsuchten. Das war damals – Anfang der Achtziger – noch vollkommenes (psychologisches) Neuland und Miller wurde von ihren Kollegen anfangs nicht ernst genommen. Aber was sie bei ihren Untersuchungen zu Tage förderte, war ein durchwegs logisches Gedankengebäude, das nachvollziehbar erklärte, wie Hitler ein ganzes Volk für seine unaufgearbeiteten Kindheitstraumen in Geiselhaft nahm. Auch einem anderen damals sehr breit diskutierten deutschen Schicksal widmete sie sich in ihrem Erziehungsbestseller: Christian F. Die weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Berlin hinaus bekannte Drogensüchtige (“Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) litt unter einem ebenso gewalttätigen Vater wie AH, aber ihr Trauma führte nicht zur Destruktivität, sondern zur Autodestruktivität durch die Droge Heroin. Christiane hätte früh lernen müssen, dass Liebe und Anerkennung nur mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Regungen und Gefühle (wie Haß, Ekel, Widerwille) zu erkaufen seien, also um den Preis der Selbstaufgabe, schreibt Miller. Ihr ganzes Bestreben sei deswegen dahingegangen, diese Selbstaufgabe zu erreichen, d.h. “cool zu sein“. Wie die Eltern früher mit Hilfe des Schlagens die Gefühle des Kindes nach ihren Bedürfnissen erfolgreich unter Kontrolle bekommen hätten, so versuchte jetzt das zwölfjährige Mädchen, Christiane, ihre Stimmungen mit Hilfe von Drogen zu manipulieren und ihre jugendliche Lebendigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Damit sei die “Tötung des Lebendigen“, das eigentlich, was das Leben eines gesunden Kindes ausmache, erfolgreich abgeschlossen worden, was AM in einer Kapitelüberschrift treffend als “Vernichtungskrieg gegen das eigene Selbst” auf den Punkt bringt. Christiane F. selbst beschreibt es als Triumph “normal” zu sein: nämlich ohne Gefühle. Unser Erziehungssystem sei eben auf Anpassung, Hörigkeit und Unterwürfigkeit ausgerichtet, wie das Leben in Gefängnissen: Hausarrest als Erziehungsmethode oder eben Freiheitsentzug. Die “Ideologie der Unterdrückung und Manipulierung des Lebendigen” habe in unserer Gesellschaft den höchsten Wert. Schreber-Erziehung nannte man das damals.

Die Sprache des Körpers: Krankheit

Die Revolte des Körpers (2005)

Alice Miller machte sich im Laufe ihres späteren Lebenswerkes vor allem daran, den Grund für diese Ideologie herauszufiltern und widmete sich fortan dem Kampf gegen das IV. Gebot. Die “Ehr-Furcht” vor den Eltern, die darin – im IV. Gebot – ausgedrückt werde, sei die Grundlage für die Unterdrückung und Deformation unserer Kinder und damit mitverantwortlich für die Verheerungen unserer Gesellschaft durch Diktatoren wie Hitler oder Krankheiten wie Drogensucht u.ä. Natürlich war dies provokantes Material, das Alice Miller da servierte und das stieß naturgemäß auf sehr viel Widerstand – vor allem von Eltern. Aber ihr Ideengebäude ist durchaus schlüssig. So schrieb sie etwa in “Die Revolte des Körpers” (2005), dass das Vierte Gebot durchaus als Lebensversicherung für alte Menschen gesehen werden könne. Die destruktive Macht des Vierten Gebotes bestehe nämlich gerade darin, Kinder im Namen der bedingungslosen Liebe zu angepassten, unterwürfigen und hörigen Wesen zu machen, die niemals die Autorität der Eltern in Frage stellen dürften. Die Idealisierung von Vater und Mutter würden zur Unterdrückung des wahren Selbst führen und dies wiederum zu Krankheiten. Da authentische Gefühle nicht ausgelebt werden dürften (siehe oben Christiane F.), sondern Schein, Zwang, Fassade, Maske und Selbstbetrug verlangt würden. Aber der Körper merke sich all das und speichere das. Sein Verlangen nach Wahrheit kann niemals betrogen werden, Miller nennt es das “Körperbewusstein“, die Sprache des Körpers ist die Artikulation einer Krankheit. So kann Krankheit aber auch als Chance begriffen werden. Anhand einiger weiterer Celebrities wie etwa Dostojevski, Tschechow, Kafka, Proust oder Nietzsche exerziert Miller ihre Vorstellungen durch und beweist mit diesen “Fallbeispielen” die Richtigkeit ihrer Thesen. Über Arthur Rimbaud schreibt sie etwa: “So verbringt er sein Leben mit der ständigen Suche nach seiner eigenen Wahrheit, die ihm verborgen bliebt, weil er sehr früh gelernt hat, sich selbst für das zu hassen, was seine Mutter ihm angetan hat.” Seine Suche nach der Liebe endete im Gefängnis der Kindheit. Das “Karussell der Gefühle” bestehe für viele darin, ihr Leben lang so zu sein wie ihre Eltern es von ihnen verlangten, um jene “Illusion der Liebe” nicht zu verlieren, die die Kindheit prägte. Mit weiteren weniger prominenten Fallbeispielen untermauert Miller dann ihre Theorie, dass auch die Vergebung nicht zur Heilung führen könne. Rimbauds Flucht- und Befreiungsversuche seien gescheitert, weil er keinem Menschen begegnet sei, der ihm die destruktive Wirkung seiner Mutter vollständig zu erkennen gab. Auch er habe “das Loch, das die Mutter hinterließ” mit Drogen zu füllen versucht, nur um später immer wieder zu ihr zurückzukehren. “Weshalb aber fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern? Warum bleiben wir an Beziehungen kleben, die uns an alte Qualen erinnern?” Fragen, die sich nicht nur Alice Miller stellte und wohl jeder für sich beantworten wird lernen müssen.

Wider das Vergessen – wider das Verzeihen?

Abbruch der Schweigemauer (2003)

In “Abbruch der Schweigemauer” (2003) spricht sie sich selbst und anderen Mut zu, auch ihre Eltern in Frage stellen zu dürfen. Denn jeder von uns sei “Opfer von verborgenen oder manifesten Misshandlungen, die häufig harmlos Èrziehung´ genannt werden“. Miller tritt auch ihren Kampf gegen eine Psychoanalyse an, die ihre Klient:innen bevormundet und mit Medikamenten das Gedächtnis zerstört. Denn man müsse erinnern, was man verdrängt habe, um sich zu befreien, auch von Krankheiten. Man müsse die Türen zur Vergangenheit öffnen, statt sie verriegelt zu halten, schreibt sie und nicht, wie viele Psychoanalytiker:innen, vor der “eigenen schmerzhaften Kindheitsgeschichte auf Kosten des Patienten” ausweichen. Gerade der Faschismus habe gezeigt, dass der unbewusste Zwang, verdrängte Verletzungen zu rächen, stärker sei als jede Vernunft. Es liege deswegen im Interesse der gesamten Gesellschaft, die “verborgene Geschichte der Zerstörung” nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten, denn an die Oberfläche käme sie ohnehin eines Tages, nur dann eben pervertiert. Hitler habe die Allüren einer bedrohlichen Vaterfigur trefflich geschauspielert und seinen eigenen Judenhass einer ganzen Gesellschaft als Ventil für die eigenen Frustrationen der Kindheit und Erziehung, zur Verfügung gestellt. Deswegen seien ihm die Massen nachgelaufen, weil jeder einzelne sich so von den Schlägen seiner Eltern an den Juden rächen konnte. An Nicolae Ceausescu macht Miller in “Abbruch der Schweigemauer” nochmals alles das deutlich, was Schläge in der Kindheit anrichten können und welche verheerenden Konsequenzen daraus erwachsen: Das rumänische Grauen war entsetzlich, besonders gerade für Kinder. “Wege des Lebens” (2007) zeigt anhand einiger Fallbeispiele von Lebensschicksalen normaler Menschen in Briefen und Selbstzeugnissen, wie die Wege des Wiederholungszwangs verlassen werden können und was getan werden kann, um die innere Freiheit wiederzuerlangen. “Was meine Seele nicht wissen wollte, hat sich mein Körper gut gemerkt“, scheint der rote Faden zu sein, den Alice Millers “Geschichten” in diesem Band verbindet. In ihrer Zusammenfassung am Ende ihrer Ausführungen bringt sie nochmals ihre wichtigsten Thesen auf den Punkt. So erzählt sie etwa von der Feeling-Sekte und erklärt wie Führungsstrukturen mit Gurus funktionieren und wie man Menschen dank der Regression beherrschen kann. Genau wie ein Führer bietet sich auch der Guru als väterliche Rettungsfigur an, der die Frustrationen der Kindheit wieder gut machen könne. Miller erklärt es auch mit Hilfe des sog. Wiederholungszwangs: Unbewusste Erinnerungen würden Menschen dazu treiben, “die verdrängten Szenen immer wieder aufs neue zu reproduzieren, um sich so von Ängsten zu befreien, welche die frühen Misshandlung zurückgelassen haben“. Der Betreffende schaffe mit Vorliebe immer wieder solche Situationen, in denen er den aktiven Teil übernehme, “um der Ohnmacht des Kindes Herr zu werden und den unbewussten Ängsten zu entfliehen“.

Nur die Wahrheit kann uns retten

Past behavior predicts future behavior, wie es in der Kriminalpsychologie heißt. Wer in seiner Kindheit aber das Glück habe, von wissenden oder helfenden Zeugen begleitet zu werden, würde später seine Frustrationen tendenziell weniger an anderen auslassen, als Menschen die keine solchen Zeugen gehabt haben. So sei es Christiane F. immerhin gelungen, niemand anderen in ihr Elend zu ziehen, während Adolf Hitler gleich mehrere Millionen in seinen eigenen persönlichen Abgrund zog. Bestenfalls hätte aber Kommunikation und ehrliche Zuwendung beide Schicksale – jenes der Autodestruktivität und jenes der Destruktivität – verhindern können: “Indem wir auf die Suche nach der Wahrheit verzichten, retten wir die Liebe nicht, auch nicht die Liebe zu unseren Eltern. Der Akt der Verzeihung hilft uns nicht, solange er das Geschehene verschleiert. Denn Liebe und Selbstbetrug schließen einander aus. Aus der Unwahrheit, der Leugnung des Leidens in der eigenen Vergangenheit, ist der auf Unschuldige verschobene Haß geboren. Er ist eine Bindung an den Selbstbetrug und eine Sackgasse. Echte Liebe erträgt die Wahrheit.”

Alle Zitate stammen aus den bei Suhrkamp erschienenen Werken von Alice Miller.

100 Jahre Charles Bukowski

Am 16. August 2020 würde der amerikanische Schriftsteller Charles Bukowski (eigentlich: Henry Charles Bukowski, Jr.) seinen 100. Geburtstag feiern. Der Sohn eines US-Besatzungssoldaten und einer Deutschen veröffentlichte ab 1960 Prosa und bis zu seinem Tod am 9. März 1994 mehr als vierzig Bücher (Romane, Gedichte, Prosa).

Im rheinischen Andernach geboren wurde Bukowski bald zum US-Amerikaner, da die Familie nach Los Angeles umzog. Seine Wanderjahre als Jugendlicher und junger Erwachsener brachten ihn aber auch in Städte wie New Orleans, Miami Beach, New York, Atlanta, Chicago und Philadelphia. Als physisch und mental untauglich für den Militärdienst eingestuft und nach Psychiatrie- und Gefängnisaufenthalten fing Bukowski im Alter von 34 Jahren an zu schreiben. Er arbeitete als Briefsortierer bei der Post von Los Angeles und lebte in East Hollywood deren Bewohnerinnen und Bewohner er in seinen Kolumnen für The Outsider oder Open City liebevoll porträtierte. Im deutschen Sprachraum erschienen diese gesammelten Kurzgeschichten unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Außenseiters“ (Notes of a Dirty Old Man) erstmals bei Fischer 1970.

Bukowski “Mädchen für alles”

Aus seinem umfangreichen Werk habe ich mir drei Romane ausgesucht, die sich jeweils einem bestimmten Jahrzehnt seines doch etwas kurzen Lebens widmen. Der 1975 im amerikanischen Original und 1977 bei dtv auf Deutsch erschienene Roman „Faktotum“ zeigt den Gossendichter als „weißen Penner im Negerviertel“ in seiner Jugend, in der er sich mit „Studentenjobs“ abplagt, da er gerade von zuhause rausgeworfen wurde. Voller Ironie beschreibt er das Verhältnis zu seinen Eltern, wenn er über den Rauswurf schreibt: „Ich konnte mir die Preise im Elternhaus nicht leisten“. Sein Vater verrechnete ihm alle Ausgaben extra. Sein alter ego Henry Chinaski veröffentlicht aber bald seine erste Kurzgeschichte und die Weichen für sein künftiges Leben werden gelegt: „Trinken und ins Bett steigen, das war wirklich alles, was wir tun konnten“. Mit lakonischem Humor arbeitet sich Chinaski durch diverse frustrierende Jobs, aber er erzählt auch von Solidarität, als ihm ein paar Mitarbeiter bei einer Jalousienwette zum Sieg gegen den ausbeuterischen Barbesitzer verhelfen. Bukowski schreibt also durchaus auch von Hoffnung und Menschlichkeit in düsteren, aussichtslosen Zeiten. „Faktotum“ bedeute im Amerikanischen übrigens so viel wie „Mädchen für alles“.

Dilemma: Trinken oder Frauen

In „Das Liebesleben der Hyäne“, 1978 im Original und 1989 bei dtv, ist Henry Chinaski bereits in seiner zweiten Lebenshälfte angelangt und hat schon einige schriftstellerische Erfolge hinter sich, sodass er nicht mehr bei der Post (beschrieben in: Der Mann mit der Ledertasche) arbeiten muss und sein Hobby zum Beruf machen kann.

Als roter Faden zieht sich seine Beziehung zu Lydia Vance durch den Roman, die sich aber bald über seine mangelnden „Steherqualitäten“ beschwert. Der Alkoholismus, dem er seit seinem 40. Geburtstag frönt, fordert seinen Tribut. „Wäre ich als Frau zur Welt gekommen, wäre ich mit Sicherheit Prostituierte geworden“, schreibt er an einer Stelle, denn sein Seelenleben war ihm wichtiger als eine Beziehung. „Frauen, die etwas taugten, machten mir angst, weil sie irgendwann etwas von meiner Seele wollten. Und was mir davon noch geblieben war, wollte ich selbst behalten. Also hielt ich mich an Flittchen und Prostituierte.“ Also widmet sich Chinaski lieber doch dem Alkohol. „Wenn etwas Schlimmes passiert, trinkt man, um es zu vergessen. Wenn etwas Gutes passiert, trinkt man, um zu feiern. Und wenn nichts los ist, trinkt man, damit etwas passiert.“ Wenn man an 300 Tagen im Jahr verkatert aufwacht, werde man eben paranoid, so Bukowski über Chinaski. Seine US-Lesetourneen – von denen dieser Roman hauptsächlich handelt – sorgen jedenfalls immer für Nachschub seines Lebensinhalts: Frauen und Alkohol.

Von Andernach nach Hollywood

Sein Roman „Hollywood“ ist Barbet Schroeder gewidmet und man weiß gleich, dass es hier um sein Drehbuch zu „Barfly“ (1987) mit Mickey Rourke in der Hauptrolle gehen wird. Bukowski ist inzwischen um die 60 Jahre alt und kann sich endlich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Er kann sich mit seiner Frau sogar ein Haus kaufen und bewegt sich im Umkreis von reichen Franzosen, die in den Slums von L.A. leben. „Das Leben beginnt mit 65“, schreibt er 1985. 10 Jahre später, im Alter von 73 Jahren starb der “deutsche Dichter“  Charles Bukowski an Leukämie in einem Krankenhaus in L.A..

Eine “zeitgenössische” Interpretation seiner Werke findet sich auch in Form von Musik und Text bei Steinbach auf der CD “Charles Bukowski. Ein Maulwurf im Karton. Songs und Gedichte” mit Gerd Wameling/Steffen Weßbecher-Newman (62 Min., Juli 2010, ISBN: 978-3-86974-055-3, 17,99 €)

Die Korrespondenzen Rimbauds erstmals auf Deutsch

Enid-Starkie+Das-Leben-des-Arthur-RimbaudIm Oktober erscheinen bei Matthes & Seitz die Korrespondenzen des Dichters und Weltreisenden Arthur Rimbaud erstmals auf Deutsch. Rimbauds vollständige Korrespondenz, sämtliche zu Lebzeiten gedruckten Werke (auf Grundlage der Handschriften neu übersetzt) sowie alle zeitgenössischen Rezensionen liegen mit Jean-Jacques Lefrère (Hg.) monumentaler Rimbaud-Edition (2500 Seiten!) nun erstmals auch in der deutschen Übersetzung vor. Zeit, auf sein Leben, Leiden und Sterben zurückzublicken. Eine Vorschau.

Korrespondenz: Ich=Anderer

Car Je est un autre“ (deutsch: „Denn: Ich ist ein anderer“). Auf der Höhe seiner dichterischen Fähigkeiten entsagte Rimbaud der Literatur und begab sich auf eine wilde Reise, erst durch Europa, dann nach Afrika. Auf das Schreiben seiner Hauptwerke „Illuminations“ und „Une saison en enfer“ (Eine Zeit in der Hölle) folgten einige Jahre der Ausschweifung mit Paul Verlaine in Paris, London und Brüssel, wo dieser ihn sogar anschoß. Danach begab sich Rimbaud beinahe in die vollkommene Askese, bereiste als Landstreicher Europa (in Wien wurde im Rausch von einem Fiakerfahrer beraubt), um schließlich als Kaffeeexporteur, Waffenhändler und Sklaventreiber an der Somaliküste und in Äthiopien zu enden. Zurück kam er nur mehr mit einem Fuß und starb zuletzt doch in der Stadt, die er am meisten hasste: seiner Heimatstadt Charleville-Mézières. Er hatte es geschafft: er war wirklich ein anderer geworden.

Entregelung aller Sinne

L’homme aux semelles de vent“ (Der Mensch mit den Sohlen aus Wind), wie ihn Verlaine nannte, hatte ein „warmes und leidenschaftliches Herz, das schließlich in der eigenen Glut ausbrannte“, so Enid Starkie, die 30 Jahre lang an ihrer Biographie zu Rimbaud gearbeitet hat. Rimbaud floh von seinem engen Elternhaus nach Paris, wo gerade die Commune versuchte, ein neues Gesellschaftsmodell zu verwirklichen, aber mit Hilfe der Deutschen niedergewalzt wurde. 20.000 deutsche Soldaten hatten Paris damals, 1871, besetzt. Das zweite Kaiserreich war geprägt von der Rekonstruktion und auch die Künstler waren nach wie vor von Baudelaire und den Parnassiens beeinflusst, die das traditionelle Schönheitsidel pflegten. „Man kann sich denken, dass Rimbauds Vénus Anadyomène `belle hideusement d’un ulcère à l’anus nicht gerade nach ihrem Geschmack war“, bemerkt Starkie sarkastisch. Bei öffentlichen Lesungen soll Rimbaud seine Aufmerksamkeit mit Grunzlauten kundgetan haben und auch sonst durch rüpelhaftes Benehmen aufgefallen sein. Die Abneigung der Pariser Bohème gegen ihn ging sogar noch weiter: Auf dem berühmten Bild von Fantin-Latours „Le Coin de Table“ auf dem auch Rimbaud zu sehen ist, verweigerte sich einer der Vertreter der literarischen Bohème abgebildet zu werden, weil er nicht mit dem Strolch Rimbaud auf einem Bild sein wollte. Statt dem Dichter Albert Mérat steht dort nun eine Vase mit Blumen. Später hatten Verlaine und Rimbaud sogar eine Persiflage auf Mérat veröffentlicht die sich „Le Sonnet du Trou du Cul“ nannte. Statt sich in den Pariser literarischen Zirkel zu integrieren, machte sich Rimbaud nun an die „long et raisonné dérèglement de tous les sens“: die Entregelung aller Sinne.

Leben bis zum letzten Blutstropfen

rimbaud1Enid Starkie zeichnet akribisch die unterschiedlichen Lebensstationen des enfant terrible Arthur Rimbaud nach. Sie zitiert seine wichtigsten Gedichte – die vom Verlag dankenswerterweise zweisprachig abgedruckt wurden – und beschreibt die zentralen Lebensstationen Rimbauds, dessen Gedichte nach seinem Ableben als die eines Thaumaturgen bezeichnet werden könnten. Denn viele nachgeborene Dichter fühlten sich in der Tradition dieses „Wundertäters“ und Alchemisten der Worte und wären ohne seine Leuchtkraft wohl nie „geboren“ worden. „Rimbaud verdanke ich, menschlich gesprochen, die Rückkehr zu meinem Glauben“ soll Paul Claudel über ihn gesagt haben. Arthur Rimbaud lebte sein Leben bis zum letzten Blutstropfen und schaffte es seine eigenen Ansprüche zu erfüllen, auch wenn er letztlich als Mensch scheiterte. „Nous savons donner notre vie tout entière tous le jours“ (Wir müssen uns dem Leben jeden Tag voll und ganz hingeben). Vielleicht musste er an sich selbst verglühen, wie Starkie in obigem Zitat andeutet, da er die Fackel einem Prometheus gleich für uns Nachgeborene vom Himmel geholt hat. Besonders beeindruckend sind auch die Passagen von Enid Starkie in denen sie seine Zeit in Abessinien beschreibt. Man darf also gespannt sein, was die nun vom Matthes & Seitz auf Deutsch herausgegebenen Korrespondenzen für den Forschungsstand bedeuten werden.

 

Enid Starkie
Das Leben des Arthur Rimbaud
Neu heraugegeben von Susanne Wäckerle
Matthes & Seitz
1990, 571 Seiten
Deutsch, teilweise Französisch
ISBN-13: 978-3882217650
15,3 x 4,5 x 22,8 cm

Arthur RimbaudJean-Jacques Lefrère (Hg.)
Korrespondenz
Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Tim Trzaskalik
2500 Seiten, Gebunden
Originaltitel: Correspondance de Rimbaud (Französisch)
Übersetzung: Tim Trzaskalik
ISBN: 978-3-95757-013-0
Preis: 98,00 €

Zum 150. Todestag von Charles Baudelaire

baudelaire

Charles Baudelaire in Neuübersetzung bei dtv

Charles Baudelaire (1821-1867), der dieses Jahr am 31. August seinen 150. Todestag hatte, gehört mit seinen „Fleur du Mal“ (1857/1868) zu den herausragendsten Lyrikern der Moderne und war nicht nur einem Arthur Rimbaud, sondern auch vielen anderen Dichtern aufgrund seiner poetischen Formensprache ein großes Vorbild. Jean-Paul Sartre widmete ihm im Jahre `78, – quasi 100 Jahre nach Baudelaires Tod – einen beachtenswerten Essay, der allerdings auch viel über Sartres Existenzphilosophie verrät: „Die freie Wahl seiner selbst, die ein Mensch trifft, ist absolut identisch mit dem, was man sein Schicksal nennt.“ Ist dem wirklich so?

Ödipäische Mutterliebe

Eine in Mauritius abgebrochene Seereise nach Indien, sein Ehe mit der Mulattin Jeanne Duval und die Tatsache, dass er das Vermögen seines verstorbenen Vaters verprasste, sind einige der Stationen seines Lebensweges, die ihn unter die Vormundschaft des Notars Ancelle brachten. Natürlich trug auch sein liederlicher Lebenswandel, der Umgang mit Prostituierten und die Feindschaft zu seinem Stiefvater General J. Aupick sowie die Infizierung mit Syphilis zu seinem Leiden bei, von dem ihn einzig seine Poesie retten konnte. „Er war ein ewig Minderjähriger, ein gealterter Jüngling, und lebte in Wut und Hass, aber unter der wachsamen und beruhigenden Aufsicht anderer“, schreibt Sartre über Baudelaire. Der poète maudit habe zwar Zeit seines Lebens die Einsamkeit gesucht, die anderen aber gebraucht um seine Alterität unter Beweis zu stellen. „Dieser Einsame“, schreibt Sartre, „hatte Angst vor der Einsamkeit: nie geht er ohne Begleitung aus. Er sehnt sich nach einem Heim. Nach Familienleben“ und dennoch wollte er ein Genie sein. Genie war für ihn, die absichtlich wiedergefundene Kindheit, „und er brauchte die Anderen, um seine Alterität immer wieder aufs neue zu beweisen, denn er konnte nicht einsam sein, nicht wirklich“, so Sartre. Baudelaire habe stets „in Anbetung seiner Mutter“ gelebt und von ihm stammt auch der Satz: „Ich lebte immer in Dir. Du gehörtest mir ganz allein. Du warst Idol und Kamerad in einem.“, der aus einem Brief an seine Mutter stammt. Auch wenn er die zweite Heirat seiner Mutter nie verwinden konnte – denn wer einen Sohn wie ihn habe, brauche nie mehr zu heiraten. Die Vorwürfe an seine Mutter könnten einer Krankheit, die von Pierre Janet als Psychasthenie bezeichnet wird, verschuldet sein, denn Baudelaire sah die Welt wie durch ein Lorgnon, wie Sartre spitz bemerkt. „Unsereinem genügt es, einen Baum oder ein Haus zu sehen: in ihre Betrachtung versunken, vergessen wir uns selbst. Baudelaire ist ein Mensch, der sich nie vergisst. Er beobachtet sich beim Sehen. Er beobachtet sich, wie er sich beim Sehen beobachtet.“ Die Gegenstände selbst hätten für ihn keinen Wert, sie waren nur ein Vorwand, ein Abglanz oder eine Projektionsfläche und hatten nur die eine Aufgabe, ihm, während er sie sah, Gelegenheit zur Selbstbetrachtung zu geben, so Sartre. Zwischen den Gegenständen und ihm herrschte Transluzenz, „vergleichbar dem Zittern der heißen Luft im Sommer“.

Der existentialistische Mensch

978-3-499-14225-3

Bei Rowohlt: 1978 erschienen

Der von Sartre auch als Heautontimorumenos (=jemand, der sich selbst bestraft) bezeichnete Baudelaire wollte seiner eigenen Luzidität stets ein Schnippchen schlagen, damit ihn dies dann überhaupt zum Handeln befähige, denn die härteste und längste Strafe Baudelaires sei zweifellos die Luzidität seines Geistes gewesen, da er seinen fast krankhaften Reflexionszwang stets als Peitsche benutzt habe, so Sartre. Baudelaire sei nicht Zustand, „er ist Interferenz zweier konträrer Bewegungen, die beide zentrifugal sind und von denen die eine in die Höhe, die andere in die Tiefe strebt. (…) Er beugt sich über diese Freiheit und es schwindelt ihm vor diesem Abgrund. (…) Baudelaire: der Mensch, der sich als Abgrund empfindet.“ Baudelaire ist der Mensch, der sich sehen wollte, als sei er ein anderer. Sein Leben sei aber nichts anderes, als „die Geschichte dieses Scheiterns“. Und so wird Baudelaires Leben zum Vehikel für Sartres Existenzphilosophie: „Er begriff, dass die Freiheit unausweichlich zu absoluter Einsamkeit und letzter Verantwortung führt.“

Suizid oder die Äquivalenz des Todes

So wie Sartre Baudelaire interpretiert und analysiert bleibt er am Ende nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch allein. „F**,“ so Sartre, „das heißt danach streben, in einen anderen einzudringen; der Künstler hingegen geht niemals aus sich selbst heraus.“ Und in diesem Sinne interpretiert Sartre auch Baudelaires „Impotenz, Frigidität, Sterilität“: „Sogar im Coitus blieb er ein Einsamer, ein Onanist, denn im Grunde bereitete nur seine Sünde ihm Genuss“. Eine Phantomsünde, wie Sartre ergänzt, denn nichts lasse die Freiheit und Einsamkeit besser spüren. Für das Liebesspiel habe er sich sogar Handschuhe angezogen haben, schreibt Sartre. Jede seiner Handlungen sei das symbolische Äquivalent des Todes gewesen, den er sich nicht zu geben vermochte, da er ihn ja überleben müsste, um die Früchte desselben genießen zu können. „Frigidität, Impotenz, Sterilität, Mangel an Hingabe, an Hilfsbereitschaft, Sünde: lauter Äquivalente des Selbstmords. Sich bejahen bedeutet für Baudelaire ja sich als reine untätige Wesenheit setzen, also eigentlich als Gedächtnis. Und sich verneinen bedeutet: ein für allemal nichts anderes sein wollen als die unabänderliche Kette seiner Erinnerungen.“

Der Duft der Vergangenheit

Die Modulation eines seiner großen Grundthemen, der Vergangenheit, bringt Baudelaire auch zu einer aufschlussreichen Verquickung derselben mit der geistigen Potenz von Düften, wie wir gleich sehen werden. „Il est de forts parfum pour qui toute matière/Est poreuse. On dirait qu`ils pénètrent le verre.(Es gibt Düfte, so stark, dass alle Materie/Für sie porös ist. Man könnte meinen, sie durchdringen das Glas.) Wie die Schizophrenen und Melancholiker rechtfertigte Baudelaire seine Unfähigkeit zu handeln, indem er sich dem Schon-Erlebten, dem Schon-Getanen, dem Unabänderlichen zuwendete. Er habe die Wahl getroffen, so Sartre, diese bewusste Vergangenheit zu sein. Aus der Gegenwart hingegen habe er eine verkleinerte Vergangenheit gemacht, um ihre Realität besser leugnen zu können. „Wert hat allein die Vergangenheit, weil die Vergangenheit ist. Und wenn die Gegenwart manchmal einen Schein von Schönheit und Güte zeigt, so nur darum, weil sie ihn der Vergangenheit entlieh wie der Mond sein Licht der Sonne.“, schreibt Sartre. Damit verbunden sei eben auch Baudelaires Vorliebe für Düfte gewesen, denn der Duft bedauere stets, dass er vorhanden sei und dieses Bedauern atmen wir gleichsam gleichzeitig mit ihm ein: „Mainte fleur épanche à regret/son parfum doux comme un secret/Dans les solitudes profondes (Manche Blume verströmt Bedauern/Ihren Duft so süß wie ein Geheimnis,/In den tiefen Einsamkeiten)“ heißt es bei Baudelaire. Düfte seien Körper und zugleich so etwas wie die Negation des Körpers. Diese geistige Inbesitznahme habe Baudelaire auch bei den Frauen geliebt, die er eher „einatmete“ als körperlich liebte. Außerdem hätten Düfte „noch jene besondere Fähigkeit, sich rückhaltlos hinzugeben und trotzdem ein unerreichbares Jenseits zu evozieren“, so Sartre, denn Baudelaire liebte auch die Geheimnisse, „die ein ständiges Jenseitiges manifestierten“. Für seine Freunde und Verwandten sei er dadurch nicht mehr nur auf das beschränkt gewesen, was er tatsächlich war: ein Onanist. Für Baudelaire hatte nur die Vergangenheit Tiefe. Sie versehe und präge alles mit der dritten Dimension zitiert Sartre Charles de Bos’ Interpretation. „Sie ist, da sie unabänderlich ist und nichts als ein Gegenstand passiver Kontemplation. Zugleich aber ist sie abwesend, unerreichbar und wunderbar verwelkt. Sie besitzt „Geist“ und sei viel weiter fort als Indien oder China und doch sie nichts so nahe wie sie: sie ist das Sein jenseits de Seins. Und gerade Düfte würden sie evozieren: „Charme profond, magique, dont nous grise/Dans le présent le passé restauré. (Tiefer magischer Zauber durch den uns berauscht/In der Gegenwart die widerstandene Vergangenheit)“ zitiert Sartre Baudelaire’s Gedicht „Un Fantome“.

Baudelaire: Krebsgang in die Zukunft

Bereits mit 25 Jahren habe er begonnen im „Krebsgang voranzuschreiten“: er hatte einen Großteil seines Vermögens bereits vergeudet, den größten Teil seiner Gedichte geschrieben, sich das venerische Leiden zugezogen, das Verhältnis zu seinen Eltern eine endgültige Form gegeben, die Frau getroffen „die wie Blei auf jeder Stunde seines Lebens lastet“ und so sei ihm nichts anders mehr übrig geblieben, als sich selbst zu überleben, so Sartre. „Später wiederholt er sich nur noch.“ Und wenn er verzweifelt war, klammerte er sich immer an dieselben Hoffnungen. Nur im Jahre 48 sei er kurz in Aufruhr geraten, aber es sei keine ehrliches Interesse an der Revolution gewesen, sondern er wünschte sich nur, dass das Haus des General Aupick, seines Stiefvaters, in Brand gesteckt werde. „Dann versank er rasch wieder in seinen grämlichen Grübeleien über eine auf der Stelle tretende Gesellschaft“, so Sartre. Er entwickelte sich nicht. Er löste sich auf.

Ich werde sterben ohne aus meinem Leben etwas gemacht zu haben.“ Schmerz sagte er, sei Adel, Unglück die kostbarste Eigenschaft einer Seele, denn Baudelaire habe den Glücklichen verachtet, da er die Spannung verloren habe, gefallen sei, Glück unmoralisch sei. Der Schmerz half ihm, so zu tun, als sei er nicht von dieser Welt, schreibt Sartre.

Jean-Paul Sartre
Baudelaire. Ein Essay
Original 1963 Éditions Gallimard Paris
1978 Rowohlt Verlag 124 Seiten
ISBN: 978-3-499-14225-3
128 Seiten

Charles Baudelaire, Claude Pichois, Friedhelm Kemp
Die Blumen des Bösen Les Fleurs du Mal
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
Vollständige zweisprachige Ausgabe
EUR 12,90 € [DE], EUR 13,30 € [A]
dtv Literatur
520 Seiten, ISBN 978-3-423-12349-5

Leben heißt frei sein – ein wehmütiges Au Revoir für Benoite Groult

Zum Tode der französischen Schriftstellerin und Publizistin Benoîte Groult

Anfang der Woche ist sie gegangen. Aus diesem Leben, das sie so sehr liebte. Die französische Journalistin, Autorin und Frauenrechtlerin Benoite Groult. Gesegnete 96 Jahre ist sie geworden, agil, interessiert und stimmgewaltig bis zum Schluß. In Frankreich hatte ihre Stimme großes Gewicht, ihre Sicht der Dinge war auch als ausgleichendes Moment gefragt. In Deutschland war sie weniger für ihren Kampf um die Rechte der Frauen gefragt, sondern hauptsächlich für ihren großen Roman “Salz auf unserer Haut”.

Benoite Groult war eine der frühesten Verfechterinnen des modernen Feminismus. Sie stand aber nicht für den freudlosen, verbissenen Feminismus, für den die ein oder andere deutsche Frauenrechtlerin gerade auch der jüngeren Generation bekannt ist und die damit gerade auch jüngere Frauen eher abschreckt. Benoite Groult war die Vertreterin eines – ich nenne es in Ermangelung eines besseren Einfalls einfach mal so – französischen Feminismus, eines lebensbejahenden, sinnlichen Feminismus. Vielleicht hat sie deswegen auch die Bezeichnung Feministin gar nicht so gerne gehört. Was sie wollte, war Gleichberechtigung, und zwar für ausnahmslos alle.

BenoiteGroult

Neben ihren vielfachen Anliegen, die sie nie kompromisslos, aber immer entschieden vertrat, war sie aber vor allem auch eins: Eine begnadete Schriftstellerin und hingebungsvolle Erzählerin mit einem großen Talent für pointierte Charakterzeichnung und exakte Milieu-Genauigkeit. Dabei zauberte sie mit wenigen Worten eine Atmosphäre, in die der Leser sofort eintauchen, um mit ihr den nicht immer einfachen Wegen ihrer Charaktere zu folgen. Charaktere, die Groult mit all ihren Fehlern liebte und über die sie nie richtete. Vor ihrem größten Erfolg “Salz auf unserer Haut” schrieb sie mit Ausnahme des stark autobiographischen Romans “Leben will ich” hauptsächlich Essays und mit ihren Anliegen befasste Publikationen.

Salz auf unserer Haut” erzählt die Geschichte einer lebenslangen Liebe zwischen einem bretonischen Fischer und einer Pariser Intellektuellen. Beide sind verheiratet, ganz traditionell ihren Milieus entsprechend, aber beide leben ihre Affäre ein Leben lang. Groults Heldin George (benannt nach George Sand) nahm sich das Beste aus allen Welten, zu einer Zeit, als Selbstverwirklichung noch kein eigenständiges Gut war. Die Affäre wird zu keiner Zeit dramatisch, aber zu jeder Zeit bittersüß.

“Salz auf unserer Haut” ist eines der ersten Bücher, über die ich lange nachgedacht habe und eines der ganz wenigen, die ein Leben lang nachwirken, die man mehrmals liest und die man nie wieder vergisst. Und da kaum etwas öfter mißlingt, an dieser Stelle auch einmal ein ganz besonderes Kompliment: Benoite Groult konnte Erotik. Subtile, intelligente, aber auch leidenschaftliche erregende Erotik. Selten genug !

Nach diesem Coup de foudre folgten “Leben heißt frei sein” und “Salz des Lebens” – (wobei die sich wiederholende Verwendung der Wörter Salz und Leben so nur im Deutschen erfolgte. Aus welchen Gründen auch immer. Gut gemeinter, schlecht gemachter Marketing-Gag vermutlich) Beide Romane sind bei weitem nicht so bekannt wie “Salz auf unserer Haut”, aber jede Lektüre wert.

Wem Benoite Groult bisher unbekannt war, dem seien ihre Werke sehr ans Herz gelegt, in erster Linie natürlich “Salz auf unserer Haut”. Nicht nur ich empfinde dieses Buch als eines der wichtigesten des letzten Jahrhunderts. Aber schließt Eure Bildungslücke nicht mit dem Film zum Buch. Der Film ist zwar nicht wirklich schlecht, wird der Romanvorlage aber nicht gerecht. Vor allem, weil er es an keiner Stelle schafft, die durchgehende konsequente bittersüße Atmosphäre des Buchs zu übertragen.

Mehr über mich, mehr von Belang

Zum Tod von Gabriel Garcia Marquez

“Wir müssen lernen, stark zu werden, ohne die Zärtlichkeit zu verlieren”. Diesen Aufruf von Che Guevara zitierte Gabriel Garcia Marquez – GABO, wie ihn seine Landsleute liebe- und respektvoll nannten – im Vorwort meiner Ausgabe von Hundert Jahre Einsamkeit.

Hundert Jahre Einsamkeit – Cien Anos de Soledad. Das wichtigste Buch meines Lebens. Das Buch, welches seit Jahrzehnten immer griffbereit neben meinem Bett liegt. Das Buch, welches ich unzählige Male gelesen habe, nicht immer chronologisch, manchmal auch nur in Auszügen. Immer, wenn ich einen Rat brauche, einen Fingerzeig, greife ich zu diesem Buch. Lasse mir von Ursula eine ihrer Geschichten erzählen, folge Amarantha in ihren Träumen, ziehe mit den diversen Aurelios, Aurelianos und dem Rest der Familie Buendia in ihre unzähligen Schlachten, verliere nie meine Würde, wenn auch sonst schon alles und auch wenn ich keine hundert Jahre alt werde, einsam werde ich nie sein. Denn auch wenn mich keiner sonst begleiten sollte, die Bücher, die Worte und ganz besonders die von Gabriel Garcia Marquez werden mich immer begleiten.

Er ist alt geworden, 87 Jahre alt. Seine letzten Jahre waren nicht gesegnet, möge er nun über den Regenbogen gegangen, sein eigenes Macondo wiederfinden. Für alles, was seine Bücher mir bedeutet haben, an dieser Stelle ein trauriges, aber nicht mutloses Danke dafür und für so vieles mehr.