Wie später ihre Kinder

Das Rezept wirkt heute noch

Einem Senkrechtstarter gleich wurde Nicolas Mathieu bereits mit seinem ersten Roman unter dem Titel «Wie später ihre Kinder» die höchste literarische Weihe in Frankreich zuteil, der alljährlich verliehene Prix Goncourt. Der jetzt auch auf Deutsch vorliegende Roman mit seinem vorangestellten Motto aus Jesus Sirach 44.9, dem auch der fatalistische Romantitel entlehnt ist, könnte als Analyse der Ursachen jener Gelbwesten-Bewegung gedeutet werden, deren landesweite Proteste nur zehn Tage nach der Preisverleihung begannen. Allerdings protestiert niemand in diesem Roman, wie in anderen Ländern auch hat sich nämlich das Prekariat, haben sich die sogenannten «Kleinen Leute» mit den trostlosen Umständen ihrer Existenz längst abgefunden Es ist diese resignative Dulderhaltung, die der Autor scharfsichtig aufdeckt und bis ins letzte Detail stimmig beschreibt.

Lothringen, einst wichtiges Industrierevier Frankreichs, wurde mit dem Niedergang der Montanindustrie wirtschaftlich ins Abseits gedrängt, eine hohe Arbeitslosigkeit war die Folge. Der Roman erzählt die Auswirkungen dieses Strukturwandels auf drei Heranwachsende aus verschiedenen Milieus in der Kleinstadt Heillange. «Ich wollte die Geschichte dieses Jungen erzählen» hat der Autor erklärt, sein Protagonist ist der zu Beginn 14jährige Anthony, Sohn eines arbeitslos gewordenen Stahlarbeiters, der sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, zusehends dem Alkohol verfällt und schließlich seine Familie verlässt. Der pubertierende Junge verliebt sich in Steph, Tochter aus «gutem Hause», der es an nichts fehlt und die von den Eltern schulisch in Richtung auf eine spätere, glänzende Karriere gedrängt wird, – sie hat zunächst allerdings keinerlei derartige Ambitionen. Dritter Protagonist ist Hacine, Sohn eines Immigranten aus Marokko, der Halbstarke spielt später auch eine Rolle im Drogenhandel. Anthony wird von dessen Bande immer wieder drangsaliert, sie stehlen das – ohne Erlaubnis von ihm benutzte – Motorrad seines Vaters. Statt es nach Intervention der Mutter wie versprochen zurückzugeben, setzen sie es in Brand.

Multiperspektivisch erzählt Nicolas Mathieu einfühlsam und sehr nah an seinen Figuren in Zweijahresschritten von deren Entwicklung, die sich in einem Beziehungsgeflecht vollzieht, dessen Milieu schlagwortartig mit «Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll» umschrieben werden kann. Durch konsequenten Verzicht auf irgendwelche politischen Schuldzuschreibungen gerät dieser Roman zu einer eindrucksvollen, glaubwürdigen Milieustudie über die Vorbedingungen für den späteren, scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der rechtsextremen Partei «Front National». Es bleibt allerdings nicht aus, dass bei den drei beschriebenen Gesellschaftsschichten das eine oder andere Klischee herhalten muss. Der Bösewicht ist auch hier natürlich der kleinkriminelle, marokkanische Immigrantensohn, den Loser-Typen verkörpert der labile Anthony aus dem bildungsfernen Prekariat, und mit Steph ist der künftigen Absolventin einer der «Grandes Écoles» eine unaufhaltsame Karriere durch ihre privilegierte Herkunft quasi schon in die Wiege gelegt.

Die flüssig lesbare, in die vier Sommer 1992, 1994, 1996 und 1998 aufgeteilte Geschichte mit ihrer entlarvenden Gesellschaftskritik ist durchaus auch spannend zu lesen, wobei die stimmigen Dialoge oft im authentischen Jugendslang wiedergegeben werden. Im dramaturgisch gekonnt platzierten letzten Kapitel bewirkt die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich, die der Gastgeber dann ja sogar gewinnen konnte, eine milieuübergreifende Solidarität der Menschen, welche die Romanfiguren ebenfalls versöhnt und sie wenigstens für kurze Zeit alles vergessen lässt. «Panem et circenses» nannte Juvenal bei den alten Römern dieses Ablenkungsmanöver der Herrschenden von den bedrückenden Lebensumständen des Prekariats. Und wie man sieht wirkt dieses Rezept auch heute noch, – nicht weniger als genau das hat Nicolas Mathieu hier deutlich gemacht!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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