Der blaue Siphon

Biografie in zwei konträren Zeitreisen

Im vielseitigen Œuvre des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer ist die 1992 erschienene Erzählung «Der blaue Siphon» seine poetologisch bedeutendste Prosa, als Märchen für Erwachsene ist in ihr seine Lust am Fabulieren besonders gekonnt ausgeprägt. Denn eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit wird hier an einer Zeitreise aus eben dieser Vergangenheit in die Zukunft gespiegelt, dem 53jährigen Ich-Erzähler steht also in persona der 3jährige gegenüber, – gewisse autobiografische Bezüge sind dabei unverkennbar.

Die Geschichte wird in zwei Kapiteln erzählt, die den beiden, fünfzig Jahre auseinander liegenden Zeitebenen entsprechen. Auslöser für die Zeitreisen ist jeweils ein Kinobesuch, der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist fünfzig Jahre in seine Kindheit zurück versetzt, als er aus dem Kino kommt. Als 3jähriger Knirps besucht er nun sein Elternhaus in Basel, direkt an der deutschen Grenze gelegen und seiner exponierten Lage wegen von im Dachgeschoss einquartierten Soldaten als Beobachtungsposten genutzt, man traut den Nazis nämlich nicht während des Zweiten Weltkriegs. Außer seiner Familie trifft er sein Kindermädchen wieder und den geliebten Hund. Im Wohnzimmer steht der blaue Siphon, der ihn immer fasziniert hat, der ihn wegen der unter Druck stehenden Kohlensäure-Ampullen aber auch an explodierende Bomben erinnert, an Little Boy zum Beispiel, die Hiroshima-Atombombe. Nur er selbst fehlt, der 3Jährige ist nach einem Kinobesuch spurlos verschwunden, die Polizei sucht nach ihm, zwei Polizisten sitzen im Wohnzimmer der verzweifelten Eltern. Ebenfalls nach einem Kinobesuch steht gleichzeitig der dreijährige Ich-Erzähler staunend vor dem modernen Haus in Zürich, in dem er in fünfzig Jahren wohnen wird. Dort trifft er seine Frau, der er schon als Dreijähriger versprochen hatte, dass er sie heiraten würde, und seine spätere Tochter, – und sogar sein Hund Jimmy begrüßt ihn schwanzwedelnd.

In dem kunstvoll konstruierten, wegen der ineinander verschränkten Zeitebenen recht komplizierten Plot bildet das Kino ein wichtiges Leitmotiv. Handlungsort der Spielfilme, die der kindliche und der 53jährige Erzähler jeweils zu Beginn ihrer parallelen Zeitreisen sehen, ist vermutlich Indien, – so genau weiß er das nicht mehr. Und auch in diesen Filmen geht es um Krieg und Tod, wird ein Unabhängigkeitskampf thematisiert, auch hier gibt es eine Zeitreise des Filmhelden, der einen Mord auf dem Gewissen hat und im zweiten Film schließlich in England eine grandiose Karriere als Schriftsteller macht. Als ständig wiederkehrendes Motiv wird der Krieg, der immer wieder mal in kurzen Sequenzen thematisiert wird, der hinreißend beschriebenen Idylle der Schweizer Heimat des Erzählers gegenüber gestellt und damit brutal konterkariert.

Geschrieben sind die gerade mal hundert Seiten dieser märchenhaften Geschichte in einer stimmig dem Geschehen angepassten, leicht lesbaren Sprache. Verblüffend dabei ist der Zauber, den Urs Widmer durch den narrativen Kniff mit den Zeitreisen zu erzeugen vermag, mit deren trickreicher imaginärer Spiegelung vor allem. Seine ausgefallene Erzählung mit ihren phantastischen Elementen strahlt bei allem thematisch gebotenen Ernst eine wunderbare Leichtigkeit aus. Die Fülle der kuriosen Einfälle des Autors, seine originellen Motivverkettungen, die Verzahnung von Realität und filmischer Fiktion sind in aller Kürze geradezu protokollartig erzählt. Ausschweifende Reflexionen vermeidend werden seine vielfältigen Themen also ohne emotionalen Ballast nur leicht angetippt, – für den Leser entsteht dadurch reichlich Gelegenheit zu eigenen Interpretationen. Diese Erzählung ist rational nicht zu fassen, es ist einfach nur eine schöne, poetische Lektüre für diejenigen Leser, die sich sinnlich darauf einzulassen vermögen. Als Biografie in Form zweier konträrer Zeitreisen stellt sie literarisch eine kreative Rarität dar im deutschen Sprachraum!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählung
Illustrated by Diogenes

Reise an den Rand des Universums

widmer-1Genese eines Schriftstellers

Nach seiner quasiautobiografischen Trilogie über Mutter, Vater und sich selbst hat Urs Widmer nun mit «Reise an den Rand des Universums» auch noch eine richtige Autobiografie geschrieben. Die umfasst zwar nicht sein ganzes Leben, sondern nur die ersten dreißig Jahre, aber es könnte ja sein, dass da noch etwas nachkommt bei dem inzwischen 75jährigen Schweizer Autor. Seinem selbstironischen ersten Satz in diesem Buch, «Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie», folgt auch gleich eine Erklärung nach, denn damit wäre das Pulver verschossen, «alles Material verbraucht», wie er schreibt. In einem Interview hatte er über sein Buch gesagt, es sei aus einem «heftigen Gefühl des letzten Buches» heraus entstanden, eine fürwahr fatalistische Formulierung. Die allem autobiographischen Schreiben eigene Problematik der schwierigen Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion wird gleich zu Beginn des Buches thematisiert, und der Autor kommt zu dem Schluss, «dass alles Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist». Als jemand, der selbst eine Autobiografie geschrieben hat – komplett allerdings, so weit das möglich ist – sind mir seine diesbezüglichen Überlegungen tatsächlich nicht ganz fremd.

Und so lässt Widmer unbekümmert um die Realität seine Lebensgeschichte bereits mit der Zeugung beginnen, was streng medizinisch gesehen ja durchaus berechtigt ist und von ihm genüsslich und humorvoll vor uns ausgebreitet wird. Überhaupt ist eine der Stärken dieses Erinnerungsbuches der lockere Plauderton des Erzählers, der seine eigene Lebensgeschichte weder streng chronologisch noch lückenlos aufgeschrieben hat, sondern als eine Abfolge von Anekdoten, amüsanten wie ernsten und nachdenklich machenden. Das Geschehen ist gut beobachtet und treffsicher in Sprache umgesetzt, leicht lesbar und angenehm unmanieriert. Probleme machten, mir jedenfalls, die zahlreichen Begleit- und Randfiguren, deren Namen, will man immer alles ganz genau zuordnen können, das Anlegen eines Spickzettels sinnvoll macht. Zuweilen hat der Autor da selbst so seine Probleme, wenn ihm ein Name partout nicht mehr einfallen will, wie er freimütig bekennt.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert, die jeweils einen Zehnjahreszeitraum umfassen zwischen seinem Geburtsjahr 1938 und der Fertigstellung seine Erzählung «Alois» 1968, dem Jahr, in dem ein «big bang», wie er formuliert, «eine wirkungsmächtige Reform» in Gang gesetzt hat. Jedem der drei Kapitel folgt ein kursiv gedruckter Abschnitt, in dem die gesellschaftlichen Geschehnisse kurz zusammengefasst sind, die für die Dekade prägend waren, das Buch ist insoweit auch als interessantes Zeitzeugnis anzusehen. Der ungeschönte Blick auf sich selbst und seine Familie erzeugt beim Leser zuweilen Betroffenheit. Da ist der chronisch kranke, gnadenlos egoistisch erscheinende Vater, ein Kettenraucher, der sich ständig in seinem Arbeitszimmer geradezu verbarrikadiert, eine Zurückgezogenheit, die ihn, Ironie des Schicksals, eines Tages einen einsamen Tod sterben lässt. Die Mutter ist depressiv und des Öfteren in psychiatrischen Krankenhäusern, wobei Widmer an einer Stelle dazu kurz erwähnt, dass sie später, außerhalb seiner Berichtszeit, Selbstmord begangen hat. Und er selbst litt zeitweilig auch an Depressionen, wie er unverhohlen bekennt.

Eine gewisse Melancholie ist also auch vorhanden, dominierend aber sind die eher vergnüglichen Schilderungen, eine kurzweilige Lektüre also. Deren viele sehr persönliche, manchmal auch banale Details dürften jedoch nicht alle interessant sein für die Leser, auch wenn sie ungemein eloquent erzählt werden. Und da, wo das Buch dann endet, beginnt es ja eigentlich erst richtig interessant zu werden, Widmers Zeit als Suhrkamp-Lektor und späterer Schriftsteller, der Blick hinter den Vorhang des Literaturbetriebs. Man kann wohl nicht alles haben!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Geliebte der Mutter

widmer-2Requiem für eine besessene Frau

Im umfangreichen und vielseitigen Œuvre des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer ist die fiktionale Biografie «Der Geliebte der Mutter» erster Teil einer Trilogie, zu der auch «Das Buch des Vaters» und «Ein Leben als Zwerg» gehören, die allesamt zu seinen größten Erfolgen gerechnet werden. Es ist der Roman einer an Hörigkeit grenzenden, tragischen Leidenschaft der Mutter des Ich-Erzählers für einen berühmten Orchesterchef, der von manchen auch als Schlüsselroman für die reale Person des Dirigenten Paul Sacher gedeutet wird.

Als Klammer für den kurzen Roman dient der Tod des Dirigenten. «Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben» lautet der erste Satz. Es folgt die Geschichte zweier Protagonisten, der kometenhafte Aufstieg des mittellosen, begabten jungen Edwin zum weltweit gefeierten Pultstar für moderne Musik, und parallel dazu und schicksalhaft damit verbunden der Niedergang der schönen und reichen Fabrikantentochter Clara, die verarmt in der Psychiatrie endet. Selbstlos hat sie die Karriere des von ihr grenzenlos geliebten Mannes gefördert, ihm bei der Gründung seines schnell prosperierenden jungen Orchesters geholfen. Eine unentgeltliche Tätigkeit als Mädchen für Alles, die von ihm aber niemals gebührend gewürdigt wird, er beachtet sie kaum, erwidert ihre Liebe nicht. Auf einer Konzertreise wird sie schließlich seine Geliebte, auch dies für ihn eher nebensächlich, ein unbedeutendes Techtelmechtel, mehr nicht. Als sie schwanger wird, verlangt er ganz selbstverständlich die Abtreibung. Beim Börsencrash 1929 verliert sie ihr ganzes Vermögen und muss fortan in ärmsten Verhältnissen leben, Edwin aber heiratet die reiche Erbin eines florierenden Unternehmens und wird der reichste Mann der Schweiz. Auch Clara heiratet irgendwann einen namenlos bleibenden und auch nicht weiter in Erscheinung tretenden Mann, wobei offen bleibt, ob er der Vater des Ich-Erzählers ist.

Wir haben es hier mit einer Art literarischem Requiem für eine liebeskranke Mutter zu tun, deren Besessenheit tragisch enden muss, deren stilles Aufbegehren in einem hilflosen «Ich kann nicht mehr» endet. Widmer schildert in einer angenehm dichten, leichtfüßigen Sprache den Lebensweg seiner beiden Figuren, verfolgt Claras italienische Herkunft bis zurück zu deren Urahnen. In einer urkomischen Szene wird ein Besuch des Duce auf dem Weingut der Familie geschildert. Hinreißend auch spiegelt der Autor in einem kurzen erzählerischen Wechselspiel das bescheidene Leben Claras in ihrem fast autarken Haushalt vor der Kulisse des Zweiten Weltkriegs: «So lebte sie. Hitler griff Russland an, und die Mutter setzte Zwiebeln. Hitler belagerte Moskau. Die Mutter riss Rüben aus. Rommels Panzer jagten die Panzer Montgomerys durch die Sahara. Die Mutter stand im Rauch eines Feuers, das alten Ästen den Garaus machte». In einem amüsanten Einschub wird von Claras Wiedersehen mit Edwins Freund erzählt, der auf einer Reise durch die Südsee vom Krieg überrascht wurde und in Bali gestrandet ist, wo er kurz entschlossen eine Inselschönheit heiratete. Clara trifft die Beiden nach dem Krieg ganz profan am Wäschestand in einem Kaufhaus.

«Die Geschichte ist erzählt» heißt es am Ende. Der nun plötzlich leibhaftig auftretende Ich-Erzähler trifft im Museum den greisen Dirigenten. Auf seine Frage: «Warum haben Sie Clara gezwungen, ihr Kind abzutreiben» entgegnet Edwin: «Ich zwinge keine Frauen zu nichts. Nie. Ich habe vier Kinder». Er leugnet jede Verantwortung: «Wenn Ihre Geschichte stimmen würde», rief er kichernd, «da wären Sie ja mein Sohn», und verschwand. In einer TV-Sondersendung zum Ableben Edwins schließlich sah der Sohn Archivmaterial aus dessen Leben, und bei einem Schwenk ins Publikum, in der Mitte des Balkons, «einen Schatten, der meine Mutter sein mochte». Diese berührende Geschichte ist nüchtern und zielgerichtet, ohne jedes Pathos erzählt, sie wirkt gerade dadurch besonders lange nach. Ganz ohne Zweifel ein rundum gelungener Roman!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich