Herr der Fliegen

Bellum omnium contra omnes

Sir William Golding, geadelter britischer Schriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur, stieß mit seinem Debütroman «Herr der Fliegen» bei mehr als zwanzig Verlagen auf entschiedene Ablehnung, ehe ein beherzter Lektor doch noch das Potential dieses Buches erkannte und es 1954 herausbrachte. Auf Anhieb ein Bestseller im englischen Sprachraum, zählt sein Roman seither zum Kanon der britischen Literatur. Golding erhielt 1983 den Nobelpreis «für seine Romane, die mit der Anschaulichkeit realistischer Erzählkunst und der vieldeutigen Allgemeingültigkeit des Mythos menschliche Bedingungen in der heutigen Welt beleuchten», – er konnte später aber nicht mehr an den Erfolg seines Erstlings anknüpfen. Mit der neuen Übersetzung von Peter Torberg wurde der Roman 2016 sprachlich entstaubt und gehört damit nach wie vor zur literarischen Spezies der Pageturner, die man nur ungern aus der Hand legt, bevor man das Ende erreicht hat.

In seiner Robinsonade lässt der Autor eine Gruppe von 6- bis 12jährigen britischen Jungen bei einem Flugzeugabsturz auf einer unbewohnten Südseeinsel stranden. Nach dem anfänglichen Schock versammelt einer der älteren Jungs, der charismatische Ralph, die Kinder am Strand und versucht, Ordnung in die herumwuselnde Knabenhorde zu bringen. Er wird als der offensichtlich Vernünftigste zum Anführer gewählt. Man beschließt regelmäßige Versammlungen, die er jeweils durch das Blasen einer großen, hornartigen Schneckenmuschel zusammenruft. Sie wird damit zum Symbol für Disziplin, das Wort ist in der Versammlung jeweils dem Jungen erteilt, dem die Muschel übergeben wurde. Als wichtigste Maßnahme wird ferner beschlossen, durch den Rauch eines permanent brennenden Feuers vorbeifahrende Schiffe auf die Insel aufmerksam zu machen, dies ist die einzige Chance zur Rettung. Ein Teil der Kinder kommt aus einer Eliteschule, deren Uniform sie tragen und deren Chor sie angehören, ihr Anführer ist der ungestüme Jack. Die so urplötzlich dem Einfluss der Erwachsenen entzogenen Kinder ignorieren ihnen anerzogene Regeln und Werte, sie verhalten sich, von Jack angestiftet, zunehmend aggressiv und rücksichtslos. Zwischen Ralph und dem sich zurückgesetzt fühlenden Jack entwickelt sich schon bald eine offene Rivalität.

Diese Parabel von den metaphysischen Grundlagen menschlicher Existenz, verdeutlicht am Beispiel bis dato unschuldiger Kinder, die erstaunlich schnell verrohen und all die ihnen mühsam vermittelten elementaren Werte vergessen, hat kontroverse Diskussionen ausgelöst und zu vielerlei Deutungen angestiftet. William Golding entwickelt äußerst geschickt seine mit reichlich Symbolik aufgeladene, anthropologische Thematik in all ihren psychologischen und soziologischen Aspekten, sie erinnert in ihrer allegorischen Darstellung an die Vertreibung aus dem Paradies. Dabei bildet der hinreißend beschriebene, exotische Ort des Geschehens einen konträren Hintergrund für eine unaufhaltsame Eskalation, in der das Faustrecht obsiegt und die friedliche Insel in ein Inferno der Gewalt verwandelt, bei dem es schließlich sogar zwei Tote gibt. Besonders verstörend ist, welches ungeahnte Gewaltpotential den eigentlich ja für Unschuld stehenden Kindern bereits angeboren scheint und damit eine solche soziale Fehlentwicklung überhaupt erst möglich macht.

So kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, erinnert der Roman auch an ein Nazideutschland, dessen angeblich nichtsahnendes Volk durch geflissentliches Wegschauen einer politischen Mörderbande zumindest den Weg bereitet hat, sofern es nicht selbst mehr oder weniger aktiv beteiligt war. In diesem zivilisationskritischen Roman werden aus den harmlosen Kindern gewaltbereite Mitläufer einer skrupellosen, machtbesessenen Führerfigur, womit der Autor die innere Dynamik realer Herrschaftssysteme offenlegt. Er weist damit auf den Naturzustand der Menschheit hin, den schon Thomas Hobbes als «bellum omnium contra omnes» beschrieb.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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