Der geschenkte Gaul: Bericht aus einem Leben

Hildegard Knef hatte mit Ende vierzig ihren „Bericht aus einem Leben“ herausgegeben. Dass ich ihn fünfzig Jahre später lesen wollte, liegt an Angela Merkels Wunsch, sich vom Bundeswehrorchester zum Abschied das Lied Für mich soll’s rote Rosen regnen, als Ständchen darbieten zu lassen. Ihre Lieder hatten mir schon lange gefallen, vor allem Von nun an ging’s bergab, nun weiß ich, dass es eine, in ihrem kodderigen Stil gefasste, Kurzbiografie darstellt …

Das Buch überrascht, es ist ein Stilmix, von ihrer Jugendzeit sind es lebhafte Erzählungen, später werden es Tagebuchnotizen, manchmal sind Briefe eingestreut, die Jahrzehnte später verfasst sind, alles ist prall gefüllt mit ihren Erlebnissen, geprägt von ihrer Neugier und Lust auf das Leben.

Als Kleinkind zieht ihre Familie Mitte der Zwanziger nach Berlin, kurze Zeit später stirbt der Vater, die Mutter muss Geld verdienen und so kommt sie zu den Großeltern. Am liebsten ist sie mit dem Opa in Zossen, in einer Laube, wo sie sich frei entfalten konnte. Das erste Kapitel heißt „Liebeserklärung an meinen Großvater.“ Die Oma hatte Angst vorm jähzornigen Ehemann, ihr konnte er gar nichts. Später, als ihr erster Ehemann auch zu Jähzorn neigt, ist es ihr auch kein Problem.

Die Mutter heiratet einen Schuhmacher, dessen Geschäft am S-Bahnhof Wilmersdorf (heute Bundesplatz) liegt, und sie berichtet von seinen Versuchen, den Blockwart auszutricksen, wenn er seinen Laden mit der Nazifahne schmücken soll. Zwei Lehrerinnen langweilen sie mit dem Schwärmen von Führer und Vaterland, manche schikanieren sie. Das erschwert die Berufswahl, es gelingt ihr, in einen Zeichenkurs bei der Ufa zu kommen. Sie will mehr, glaubt an sich, und sie schafft es, als Schauspielerin vorzusprechen. Ihr Motto ist, ganz berlinerisch: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommste ohne ihr.

Der Krieg beginnt, die ersten Freunde werden Soldaten, dann fallen die Bomben, sie verbringt Abende in Bunkern und sieht, wie Stück für Stück das Viertel zerstört wird. Die Straßennamen aller ihrer Wohnungen sind ausgeschrieben, die meiste Zeit wohnte sie ganz in der Nähe meines Wohnorts, was meine Aufmerksamkeit erhöhte. Die Mutter ist mit dem kleinen Bruder evakuiert, sie lebt mit dem schwindsüchtigen Stiefvater zusammen, als die Wohnung teils zerbombt ist, kommt die Kapitulation.

Als Freund bei Kriegsende hatte sie einen führenden Parteigenossen, dessen Namen sie nur als Initiale, aber mit Adelstitel verrät. Sie schließt sich ihm zur Verteidigung der Stadt an, sie wollten, an der S-Bahn entlang, Richtung Westkreuz kämpfen und müssen aufgeben, kommen beide in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Alle diese Begegnungen sind ohne Wehklagen geschrieben, nach vorne wird geguckt. An ihn, E.v.D. denkt sie oft, einmal schreibt sie von den Flitterwochen am Kriegsende.

Weiter geht es, als die Alliierten das Sagen haben, als die Amis Häuser besetzen in Zehlendorf und die Briten in Wilmersdorf. Inzwischen ist sie Anfang zwanzig, Schauspielerin: Sie macht mit beim ersten Film nach Kriegsende: Die Mörder sind unter Uns, aber lieber noch spielt sie Theater mit Borislaw Barlog.

Manchmal gibt es tagelang nichts zu essen, die Ruhr grassiert, aber das hält sie nicht auf. Ein Ami macht ihr den Hof. Dazu, ganz trocken: „Kurt Hirsch, wurde später der Assistent von Erich Pommer, noch später mein Angetrauter und wesentlich später ein von mir Geschiedener.“

Bei den Amerikanern in Zehlendorf wird sie entnazifiziert, mit Hirsch sieht sie bei den Sowjets einen Film über Auschwitz und beginnt zu begreifen. Seine Eltern sind Juden und werden nie verstehen, wie ihr Sohn eine Deutsche heiraten konnte.

Die ersten Jahre nach Kriegsende sind bewegt, sie lernt Englisch und französisch. Der Film Die Sünderin wird zu einem Skandal, umso mehr zieht es sie nach Hollywood, sie kann als Deutsche keine Verträge abschließen, mit Ihrem Mann wandert sie aus und filmt in den USA, lebt in Hollywood, das in der Zeit von McCarthy als linksversifft bekämpft wird.

Ihre Beobachtungen sind genau, fast wie ethnologische Studien, wenn sie über Sitten, etwa Grill- und andere Partys, schreibt. Sie beschreibt die Dichte von Therapeuten in Hollywood, besonders amüsant wird es, wenn sie von Vertreterinnen der Frauenorganisationen ob ihrer Moralvorstellungen verhört wird. Natürlich trifft sie viele Prominente, schon in Berlin war es so, sie begegnet Rock Hudson, übrigens hat er dieselbe Sprachlehrerin wie sie, Henry Miller, Cole Porter ist Komponist ihrer Broadway-Show. Es bleibt nicht beim name dropping, sie freundet sich mit manchen an, mit Marcuse, vor allem mit Marlene Dietrich, die sie fast ein bisschen bemuttert, ihr ihren Astrologen empfiehlt, und sie mit Rat und Tat unterstützt.

Eingestreut sind interessante Überlegungen, warum gibt es im Englischen kein „Sie“? Wie ist das Bild der Deutschen im Ausland, wie denken die vielen Emigranten, denen sie immer begegnet? Sie ist die „Kraut“ und wird bei Interviews nicht dazu befragt, wie ihr Schauspiel ist, sondern, ob sie Nazi war.

Später geht sie dazu über, Tagebucheintragungen zu verwenden. Es gibt Erfolge, aber auch Enttäuschungen in New York, Rückkehr nach Deutschland, Ärger mit Produzenten, Me too-Erlebnisse. Eine lange Aufzählung ist den Anfeindungen gewidmet, die sie, lange vor den Zeiten, des Shitstorms erfährt. Und dann Aufzählungen der vielen Krankheiten, die sie durchlitt.

Zum Schluss kommen Berichte ihres Glückes nach der Geburt ihrer Tochter Tinta, und dem Leben mit deren Vater.

Ich las die Erzählungen in ganzen Sätzen, gerne im feuilletonistischen Stil der Theaterkritiker ihrer Zeit, sehr gerne. Das Lesen der Satzbrocken wurde anstrengend. Ob ein Redigieren es verbessert hätte? Oder ist es gerade ihr Stil, frisch und frei „von der Leber weg“ zu schreiben? Jedenfalls konnte ich ihre ersten drei Jahrzehnte mit mehr Aufmerksamkeit, ja Anteilnahme lesen. Schon die vielen zeithistorischen Hinweise lohnen die Lektüre, sie wusste eben, wieder ganz berlinerisch: „Wer angibt, hat mehr vom Leben.“


Genre: Biografien, Theater
Illustrated by Ullstein

Die Dreigroschenoper

Die Dreigroschenoper: Der Filmklassiker von Georg Wilhelm Pabst erscheint bei Atlas Film als Mediabook inkl. DVD und Blu-ray mit der restaurierten Fassung und einem spannenden Booklet mit historischen Dokumenten und Informationen zur Entstehungsgeschichte und Rezeption. Über diese Ausgabe hätte sich selbst Bertolt Brecht (Drehbuch) gefreut, der gegen den Film von Pabst prozessierte.

Und der Haifisch der hat Zähne…

Details zu den Gründen, warum sich Pabst und Brecht vor Gericht duellierten, befinden sich auch im beiliegenden Booklet der vorliegenden Luxusausgabe von Atlas Film. Zudem umfangreiche Extras wie die Dokumentation „Filmheld Mackie Messer“. Der Film- und Bühnenklassiker, der im Soho Londons Ende der 1920er Jahre spielt, avancierte schon früh zum Kult, geht es darin doch um nichts anderes als die Verstrickung von Ober- und Unterwelt, also ein Thema, das allzeit aktuell ist. Mackie Messer (Rudolf Forster), Boss der Londoner Unterwelt und unverbesserlicher Frauenheld, verliebt sich ausgerechnet in die schöne Polly Peachum (Carola Neher), die Tochter des Londoner Bettlerkönigs. Der Vater, Peachum (Fritz Rasp), ist absolut gegen die Heirat und spinnt zusammen mit Polizeichef Tiger-Brown (Reinhold Schünzel) daraufhin eine Intrige, um Mackie Messer endlich hinter Gitter zu bringen. Dabei spielt der Geburtstag der Königin eine wichtige Rolle, denn Peachums Bettlermassen werden als Druck- und Erpressungsmittel eingesetzt.

…und die trägt er im Gesicht…

Regisseur G.W. Pabst inszenierte 1931 Bertolt Brechts weltbekanntes Theaterstück, hatte sich aber auch in den 300 Jahre alten Urstoff, der wiederum Brecht als Vorlage gedient hatte, vertieft und dem Stück so seine ganz eigene Atmosphäre verpasst. Schon während der ersten öffentlichen Aufführungen kam es zu Tumulten, die von Nationalsozialisten verursacht wurden. Der Film wurde nach der Machtübernahme durch dieselben verboten, da er „eine gefährliche Glorifizierung des Verbrechertums“ enthalte und „lebenswichtige Interessen des neuen Staates gefährden“ würde. Der Film wurde 2006 restauriert und damit auch der Ton verbessert, der die unvergesslichen Melodien aus der Dreigroschenoper wieder schwungvoll erklingen lässt. Denn längst sind Titel wie „Moritat von Mackie Messer“, „Die Seeräuber Jenny“ oder „Siehst du den Mond über Soho“ in das allgemeine Kulturgut Europas und der Welt eingegangen. Ein Singspiel feiert seine Wiederentdeckung!

GEWINNSPIEL:

Wer folgende Frage beantwortet und eine Email an mich schreibt, gewinnt! Es gibt eine Ausgabe zu gewinnen, also schnell antworten! Warum haben sich Pabst (Regisseur) und Brecht (Drehbuchvorlage) zerstritten?

 

Regie: Georg Wilhelm Pabst

Originaltitel : Die 3-Groschen-Oper

Deutschland 1931

Laufzeit: 107 Minuten

Darsteller: Rudolf Forster, Carola Neher, Lotte Lenja, Reinhold Schünzel, Fritz Rasp

FSK: frei ohne Altersbeschränkung

Bildquelle: Stiftung Deutsche Kinemathek

Atlas Film


Genre: Film, Gesellschaftskritik, Theater
Illustrated by Atlas-Film

Antonin Artauds Zeichnungen

Dem Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur Antonin Artaud (1886–1948) wird im vorliegenden Band u.a. in einem begleitenden Text vom Dekonstruktivsten Jacques Derrida und auch der Nachlassverwalterin und Herausgeberin Paule Thévenin in ihrer Einführung den historisch-biographischen Entstehungsbedingungen von Artauds zeichnerischem Werk gehuldigt. Die insgesamt 62 Farbtafeln und 58 Farb- und Duotone-Abbildungen sind im Format 19 x 24 cm und stammen entweder von Artaud selbst oder von Fotografen und Zeitgenossen wie Man Ray.

Artaud als Zeichner

Artaud als Zeichner

„La vie est un songe“ (Das Leben ist ein Traum) hieß ein Theaterstück von Calderon de la Barcas, bei dessen Inszenierung Artaud die Kostüme entwarf. Aber sein Leben war alles andere als ein Traum, verbrachte Artaud doch ab 1937 immer wieder seine knapp bemessene Zeit (er wurde nur 62 Jahre alt) in verschiedenen Irrenanstalten. Es wurde Schizophrenie diagnostiziert und deswegen kam es zu jahrelangen Behandlungen mit Elektroschocks, Lithium, Insulin, Quecksilber- und Wismutpräparaten. Erst 1946 wurde er durch das Engagement von Freunden aus dem Asile d’aliénés de Paraire, einer Anstalt in Rodez, entlassen. Er schrieb in den letzten zwei Jahren vor seinem Tod noch das für das Radio erarbeitete Stück „Pour en finir avec le jugement de dieu“ (Schluss mit dem Gottesgericht) und hielt an der französischen Eliteuniversität Sorbonne einen Vortrag gegen die Psychiatrie.

Artaud, Prophet wider Willen

Artauds Zeichnungen sind „Ausdruck halluzinatorischer Hellsichtigkeit, eines magisch-transzendenten Körperbewusstseins und psychischer wie physischer Leidensfähigkeit“, meinen die Herausgeber und bis heute seien dies ja auch die Komponenten der sogenannten „wilden“, subjektiven Malerei. Artaud war vielleicht so etwas wie ein Prophet derselben. Genauso wie seine Worte, seien auch diese (seine) Zeichnungen „gehaucht“, wie er es selbst so unverwechselbar ausdrückt: „Sie sind schlicht und einfach in der Reproduktion/einer magischen Geste auf dem Papier,/ einer Geste, die ich/in dem wahren Raum/ausgeführt habe/mit dem Hauch meiner Lungen/und meinen Händen,/ mit meinem Kopf/und meinen zwei Füßen/mit meinem Rumpf und meinen Arterien“.

Die einzelnen „sorts“ (Lose), wie er seine Zeichnungen nannte, sind in vorliegender Publikation jeweils auf der rechten Seite abgebildet, während auf der linken ein paar Erklärungen zur Entstehung und dem Format hinzugefügt werden. Ein unvergesslicher Einblick in eine ganz eigene Welt, der man sich schwer entziehen kann.

 

Antonin Artaud

Zeichnungen und Portraits
Übertragen aus dem Französischen von Simon Werle
Herausgegeben von Paule Thévenin. Mit Texten von Paule Thévenin und Jacques Derrida.
2019, 256 Seiten, 62 Farbtafeln und 58 Farb- und Duotone-Abb. Format: 19 x 24 cm, gebunden. Deutsche Ausgabe
ISBN: 9783829607759
Schirmer/Mosel
39.80€


Genre: Surrealismus, Theater, Zeichnungen
Illustrated by schirmer/mosel

Anarchie in Ruhrstadt

Anarchie in Ruhrstadt Man sagt es schnell so dahin: “Ruhrstadt” – wenn man nach seiner Herkunft gefragt wird. Eine Zeitlang galt das als schick, doch dann liest man wieder vom ewigen Gezänk um das Ruhrparlament und fragt sich, ob das mit der Ruhrstadt wirklich so eine gute Idee ist und ob es nicht hauptsächlich um die Sicherung eigener Pfründe geht. Der Autor Jörg Albrecht hat die Sache mit der Ruhrstadt und der vielbeschworenen Kreativwirtschaft jetzt zu Ende gedacht. In seinem Buch “Anarchie in Ruhrstadt” entwirft er eine Utopie, die ganz schnell zur Dystopie wird und die Rahmenhandlung für das Theatertour-Projekt “Die 54.Stadt – Das Ende der Zukunft” bildet.

September 2044: Rick und Julieta wollen aus der Ruhrstadt fliehen, aber das ist in der streng reglementierten und lückenlos überwachten “Mega-Urbanität” gar nicht so einfach. Sie starten an zwei entgegengesetzten Punkten der Metropole und erleben jeweils eine eigene Odyssee, die einer Albtraumreise durch eine gelebte Freak-Show gleicht. Dass so manches darin “nur” virtuell ist, macht es auch nicht besser, eher noch erschreckender.

Begonnen hatte alles im August 2015. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verkündet den Rückzug ihrer Regierung aus der Mitte NRW’s, der aus dem Exil zurückgekehrte Schriftsteller György Albertz (Cameo-Auftritt des Autors?) übernimmt mit alten Freunden. Ab da gibt es nur noch RoW – Rest of World und die aus ehemals 53 Städten zusammengesetzte Ruhrstadt. Der Ausweg aus der im Ruhrgebiet nach wie vor herrschenden Ratlosigkeit kann nur die Kunst, die Kultur, eben die Kreativwirtschaft sein. Fortan klotzen nun Designer, Autoren, Musiker, Programmierer dort ran, wo einst Kohle gehauen und Stahl gekocht wurde.

Jedem Bezirk wird eine andere Sparte zugeordnet. Im ehemaligen Recklinghausen toben sich nun die Werber aus, die Zeche Zollverein wird zur auch in RoW bewunderten Filmfabrik Whizzo Frizzo, in Mülheim regieren die Videogamer und Programmierer, Dortmund wird zum Zentrum der Modeschöpfer, die Schriftsteller sind am niederrheinischen Rande des Ruhrgebiets in seliger Klausur, Duisburg wird ganz der Natur zurückgegeben und heißt fortan Duschungelburg. Wohl besser so, wachsen hier doch ob der kontaminierten Böden wundersame Pflanzen, um die auch RoW die Ruhrstadt beneidet. Doch was als idealistisches Projekt begann, wird schon bald zu einem alles bestimmenden totalitären System. So wird aus der gewünschten Utopie im Buch eine bittere Satire über ein Gebiet, dass so gerne Metropole wäre und oft genug doch nur belächelt wird, vor allem, weil es sich immer im eigenen “klein klein” verliert.

Etliches aus dem Buch mutet unangenehm bekannt an. Ist es nicht schon jetzt so, im Jahr vier nach der Kulturhauptstadt, dass Dienstleistung und Kultur zum heilsbringenden Strukturwandel aufgeblasen werden? Ist es nicht schon so, dass die Menschen im Ruhrgebiet eine bemerkenswerte Mobilität beweisen, die der der Städteplaner um einiges voraus ist? Jörg Albrecht treibt diese Mobilitätsbereitschaft nur auf die Spitze, indem die Menschen nun nicht nur den Konzerten und Events hinterherreisen, sondern dorthin geschickt werden, wo man ihre Arbeit verortet hat. Oder nehmen wir sein “Dschungelburg”, ehemals Duisburg. Ein gezielter Griff ins private Fotoalbum reicht und Bilder aus dem Duisburger Landschaftspark Nord illustrieren prima, dass diese Utopie längst auf dem Weg in die Wirklichkeit ist.

Dschungelburg

Jörg Albrecht hat eine Zeitlang in Dortmund gelebt und weiß genau, worüber er schreibt, was er kritisiert und was er möchte. Sein Buch steckt voller bitterer Wahrheiten, aber die Verbundenheit zu seiner alten Heimat und die Sorge um diese ist aus seinem Buch deutlich herauszulesen. Es ist nicht so, dass Albrecht die aufblühende Kreativwirtschaft im Ruhrgebiet nicht begrüßt. Ganz im Gegenteil, es ist gerade mal 10 Jahre her, dass er selbst (vergeblich) in einem Theaterkollektiv versuchte, Subkultur im Ruhrgebiet zu vernetzen. Aber was er sich wünscht und dem Ruhrgebiet empfiehlt, wäre “mehr Heterogenität. Mehr Vielfalt und das auch gerne im Speziellen. Nicht eine Mall nach der anderen, nicht eine Philharmonie nach der nächsten.” *

Das spektakuläre, überspitzte Scheitern seiner Utopie im Buch ist eine klare Mahnung, dass die Konzentration auf die Kreativwirtschaft zum Scheitern verurteilt ist. All die großartigen Industriekultur-Projekte werden die Montanindustrie und den Bergbau nie ersetzen können und der Blick über den Tellerrand der eigenen Stadt, ja mancherorts sogar des eigenen Dorfes tut mehr denn je not. “Anarchie in Ruhrstadt” ist Bestandsaufnahme plus Vision plus Desillusionierung minus Resignation, in Rahmenhandlung gepackt. Auf eine Art ist es das Buch, dass das Ruhrgebiet dringend braucht, auf eine andere Art jedoch ist es nicht massenkompatibel. Das Buch ist schwierig zu lesen, schon alleine, weil die Dramaturgie der Handlung nicht klar aufgebaut ist und durchweg in einem unterkühlten Präsens erzählt wird. Schwierig, sich auf einen Inhalt zu konzentrieren, wenn man fortwährend überlegt, in welcher Zeitzone man sich nun gerade wieder befindet.

Der Stilmix ist gewagt, von Science Fiction über Regieanweisungen bis zu dokumentarischen Bestandsaufnahme geht alles wild durcheinander. Genau wie die Sprache, die sich manchmal noch mitten in einem Absatz von der abgehobenen Sprache der ideologisch Getriebenen hin zur Umgangssprache des kleinen Mannes auf der Straße wandelt. Es ist anzunehmen, dass Albrecht dies bewusst war und er es genau so gewollt hat. Vielleicht ist es eher nicht seine Intention, den “kleinen Mann auf der Straße” zu erreichen oder die Verantwortlichen in den Rathäusern, vielleicht will Albrecht mit diesem Buch und dem Projekt ganz gezielt die bei diesem Thema auffallend unambitioniert wirkende künstlerische Avantgarde ansprechen und aufrütteln, um diese mal in die Diskussion zu zwingen.

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift 

Zitat Jörg Albrecht in einem Studiogespräch mit WDR 5
D
iese Rezension erschien zunächst in den Revierpassagen.de


Genre: Theater
Illustrated by Wallstein Göttingen

Rein GOLD

jelinek rein goldOh, Ihr Schauspieler, die Ihr eines nahen Tages dieses auf Anregung der Bayerischen Staatsoper ausdrücklich für die Bühne geschriebene Zweipersonenstück auswendig lernen müsst, Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl, denn schon Brünhilde, die widerborstige Lieblingstochter von Götterpapa Wotan, ergießt sich gleich mit 48 Seiten Text, mit einem Redeschwall in 1.189 Zeilen, in 71.340 Zeichen, bis der gekündigten Walküre erst einmal die Puste ausgeht und der gebrochene Gott, Wotan Wanderer, auf der Suche nach sich selbst und dem eigenen Untergang, zu Wort kommt. Und was antwortet ihr der Olympier, dem eigentlich keiner mehr so recht glauben oder gar folgen mag, da er Verträge nach eigenem Gutdünken interpretiert, sie mit Raubgold erfüllt, und dessen Rechtfertigungen deshalb kaum jemanden wirklich interessieren? »Kind. Soviel hast du ja noch nie gesagt! Ich hör dir jetzt seit Stunden zu, aber was hast du gesagt? Ich weiß es nicht mehr.«

Welch weise Worte, wilder Wotan. Oder ist es die Selbsterkenntnis der Autorin, die denjenigen, der sich an ihren Text wagt, vorwarnen möchte? Denn wer die ersten zwei Stunden des Monologschaums überstanden hat, der hat nur noch gute vier Stunden Wortwahn zu durchschwimmen. Wer Jelinek liest, ahnt wohl, was ihn erwartet, sonst sei er gewarnt. Er wird sich nicht beklagen, sondern vielmehr die philosophische Tiefe in den Texten suchen wie weiland Alberich das tückische Gold im schlammigen Rhein. Er wird vielleicht verstehen, was den rosaroten Panther, das Rheingold und das Jelineksche Verständnis des Marxschen »Kapital« verbindet und daraus ein intellektuelles Rahmenprogramm bestreiten können, das mäandert wie weiland Vater Rhein vor seiner zwanghaften Begradigung, die es den vielen Schatzsuchern unserer Tage so unendlich erschwert, das in den Auenlandschaften wartende Rheingold zu bergen.

Der Text, Elfriede J. mag es mir nachsehen, wirkt wie der innere Monolog einer inmitten des Feuerrings auf ihrem Walkürenfelsen gelangweilt auf die Erlösung durch den einen Helden harrenden Brünhilde mit ihrem Vater, der sie verstieß, nicht mehr mit ihr redet, dem sie jedoch alles nahezu zwanghaft erklären will, ihr Denken, ihr Handeln, ihr Aufbegehren, ihren Verrat. Gemischt mit einem guten Schuss Antikapitalismus macht die Autorin aus Wotan einen Bundespräsident a.D., der einer entwerteten Gesellschaft vorsteht, die sich als Exportweltmeister geriert und glaubt, alle Probleme mit dem Anwerfen der Geldpresse lösen zu können, um auf diesem Wege Erlösung zu spenden. Dies geschieht in einer Kunstsprache, die immer wieder Geld als Meta-Tag einsetzt und als Spiegel der intellektuellen Leere unserer Zeit verstanden werden möchte. Wie Brünhilde schreibt sie fleißig, tippt wütend »Bits und Bytes«, brennt ein Feuerwerk wilder Worte ab und sinniert. Wie heißt es an einer Stelle: »Da regt sich was und vermehrt sich! Wir könnens nicht sein, aber da bewegt sich noch was.»

Jelineks »Rein GOLD« ist, kurz gefasst, eine Suada, die sich über den Leser ergießt und in ihrer Monotonie, von ein paar Kalauern (»Der Wurm, \”ein großer und nicht im Rechner\”, bewacht« … den Nibelungenschatz) abgesehen, wenig Neues oder Erfrischendes zum Thema Wagner bringt. Das »reine Gold«, das die Autorin verspricht, entpuppt sich dabei recht schnell als literarisches Talmi.

Elfriede Jelinek
rein GOLD. Ein Bühnenessay
Rowohlt 2013
ISBN 978-3-498-03339-2



Genre: Oper, Theater
Illustrated by Rowohlt

Elisabeth II. Keine Komödie

Die Queen kommt nach Wien. Gegen Mittag wird die britische Königin Elisabeth II. in der Wiener Innenstadt erwartet. Vom Balkon des 87jährigen greisen Großindustriellen Herrenstein möchten sich auf Einladung seines Neffen Victors rund 40 Gäste das Ereignis ansehen.

Rudolph Herrenstein, durch einen Autounfall an den Rollstuhl gefesselt, ist ein Grantler und Menschenfeind. Der Waffenhändler lebt mit seinen Diener Richard und seiner Hausangestellten in einer riesigen Wohnung, in deren Musikzimmer auch ein Bösendorfer steht und ist jedem Besuch abgeneigt. In einer gewaltigen, sich ständig steigernden Schimpfkanonade zieht er über seine Gäste, über Wien, Österreich, Musik, Literatur und Kunst her.

Als endlich die Königin mit Verspätung naht, stürzen die inzwischen 90 Gäste auf den Balkon und winken mit dem Union Jack. Unter ihrer Last kracht der gesamte Balkon drei Stockwerke tief zu Boden und verschwindet in einer Staubwolke. Lediglich der Alte und sein Diener überleben.

Thomas Bernhard hat dieses tragikomische Stück zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlicht und seine Aufführung nicht mehr erlebt. Monologartig kotzt die zentrale Figur Herrenstein seinen gesamten Abscheu über Gott und die Welt aus sich heraus. Der Protagonist nimmt unter anderem auch Bezug auf verschiedene Komponisten und erklärt, Mozarts Oper „Cosi fan tutte“ sei die einzig genießbare Musik, während er bei der Aufführung von Johannes Brahms traditionell die „schwarze Fahne“ hisst. Goethe und Kleist zählen zu den wenigen Literaten, die ihm etwas gelten. Schopenhauer und Nietzsche seien Philosophen, mit denen er „in Urlaub“ fahren könne.

„Elisabeth II.“ ist ein großes Stück Bernhardscher Rhetorik, eine prächtige Suada, welche die Wortgewalt des Gmundener Dichters belegt.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Einfach Kompliziert

Zeit seines Lebens misstraute Schriftsteller Thomas Bernhard dem Theaterbetrieb und seinen Akteuren. Ließ er sich aber von dem Einfühlungsvermögen eines Regisseurs überzeugen, dann entstand – wie bei Claus Peymann – eine intellektuelle Lebenspartnerschaft. Ähnlich hielt es Bernhard mit Schauspielern, so sie ihn denn faszinierten.

„Ritter, Dene, Voss“ heißt eines der Bernhard-Stücke, die bereits die Namen der drei Schauspieler (Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss) im Titel tragen und daraus quasi eine Verpflichtung ableitet, die entsprechenden Mimen auch zu besetzen. Thomas Bernhard schneiderte auch dem großen Bernhard Minetti ein Porträt des Künstlers als alter Mann auf den Leib und komponierte einen ähnlich sprachgewaltigen Monolog für Gert Voss, der unter dem Titel „Einfach kompliziert“ Theatergeschichte geschrieben hat.

In „Einfach kompliziert“ monologisiert ein Schauspieler (Gert Voss) über seinen größten persönlichen Erfolg in Shakespeares Drama „König Edward III.“ am Wiener Burgtheater. Inzwischen ist der Mime völlig heruntergekommen. Er haust in einem schäbigen Domizil, in dem die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Als letzter Überlebende seiner Familie, auch seine Frau ist inzwischen verstorben, hasst er neben den Mäusen, die er mit Hingabe verfolgt und tötet, auch alle anderen Lebewesen um ihn herum: das Mausvolk, das es zu vergiften gilt.

Seit Jahren hat der Protagonist seine Klause nicht mehr verlassen und sich zwischen Selbstmitleid, Hass und Altersdepression zunehmend zu einem Sonderling entwickelt. Er beantwortet seit 13 Jahren keine Briefe mehr, hat das Telefon abgemeldet und studiert dennoch täglich die Stellenangebote einer Abonnementszeitung. Von seinem Erfolg als Edward III. ist ihm die billige Theaterkrone geblieben, die er in einer Truhe verwahrt und sich jeden zweiten Dienstag im Monat aufs Haupt drückt.

Höhepunkt des Werks in drei den Tageszeiten folgenden Szenen ist der Besuch eines neunjährigen Mädchens, Katharina, die ihm Milch bringt. Sie ist der einzige Mensch, den er zu sich lässt, mit dem er spricht. Ihr gesteht er, Milch zu hassen, diese wegzuschütten, und sie lediglich zu bestellen, um das Mädchen zu sehen. „Schauspieler sind wie Kinder, deshalb vertragen wir uns so gut,“ sagt er ihr und bittet sie zugleich, allen Leuten zu sagen, „der berühmte Schauspieler in der Hanssachsstrasse liebt Milch, und er trinkt Milch, er existiert nur, weil er jeden Tag Milch trinkt.“

Die maßgeschneiderte Textkomposition von Thomas Bernhard, deren beklemmende Wirkung sich optimal von Gert Voss, inszeniert von Claus Peymann, auf der Bühne darstellt, ist (so verrät es schon der Titel) ebenso einfach wie kompliziert. Ihr fehlt vielleicht der in vielen Texten des österreichischen Autors aufscheinende Bernhardsche Humor und auch dessen ätzende Gesellschafts- und Kulturkritik. Es handelt sich vielmehr um einen gedanklichen Sturzbach über das Altwerden, das Altwerden eines Schauspielers im Besonderen, über den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Miteinander, über Wahn und Wahnsinn, und der Text bekommt eine zusätzliche philosophische Note in der Auseinandersetzung mit Thesen des „Urphilosophen“ Schopenhauer, die gelegentlich aufscheinen.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

König Ubu

König Ubu: Dada, Surrealismus und Pataphysik

König Ubu
Eine großartige Version von Jarrys Drama “König Ubu” zeigt das Wandertheater “Ton & Kirschen” Fotos: © W. R. Frieling

Einer der ältesten Texte, der dem Surrealismus ebenso wie Dada zugeordnet wird, stammt von dem französischen Autor Alfred Jarry und heißt „König Ubu“ (im Original: „Ubu Roi“). Das Drama in fünf Akten wird sowohl gern im Französischunterricht gelesen als auch auf der Bühne von alternativen Theaterensembles aufgeführt und erfreut sich in jüngerer Zeit wachsender Beliebtheit.

Vater Ubu ist ein genusssüchtiger fetter Wanst, der nur an sich und seine heiß geliebte Leberwurst denkt. Der ständig wüst schimpfende Ubu steht aber auch als Metapher für das Monster, das im Menschen steckt. Er verkörpert die Fleisch gewordene Lust am Fressen, Rauben und Morden.

Mit Hilfe seiner Frau, die ihn aufstachelt und mittels einiger Getreuer, denen er Privilegien verspricht, ermordet Ubu den König von Polen, übernimmt die Staatsgewalt und setzt sich selbst die Krone auf. Als König Ubu presst er fortan seine Untertanen aus und lässt dabei alle Widersacher ebenso schnell beseitigen wie die reichen Adligen, deren Besitztümer er sich aneignet.

Die alten Eliten sind ihm zu kostspielig, für das Geld könne man besser Leberwurst konsumieren. Sie enden im Schnellverfahren in der „Enthirnungsmaschine“.

König Ubu will schließlich den russischen Zaren unterwerfen und zieht gegen Moskau. Dabei erweist er sich als feige und ängstlich. Während seine Leute sterben, macht er sich zynisch aus dem Staub und flieht mit seiner Frau und einem Teil der geraubten Schätze nach Frankreich, wo er als „Doktor der Pataphysik“ unterschlüpft.

Autor Alfred Jarry schuf mit dem kritischen Text einen nahezu zeitlosen Kommentar zu gewissenlosen Machtmenschen und Diktatoren, der heute ebenso gültig ist wie vor mehr als 100 Jahren. Vor allem mit Ubus berühmten Schimpftiraden löste er bei der Uraufführung in Paris anno 1896 einen handfesten Theaterskandal aus. Erst viel später sollten Kritiker erkennen, dass dem exzentrisch-genialen Autor ein Wurf gelungen war, der den Beginn des modernen Dramas in Frankreich kennzeichnet.

Jarrys Text ist von teilweise ätzender Komik und mischt Techniken der burlesk-derben Commedia dell’arte mit intellektueller Sprachkomik. Mit teilweise absurden Pointen assoziiert er Gedanken über die Verführbarkeit des Menschen durch das Ungeheuer, das ein Teil seiner selbst ist und dem er nur allzu gern gehorcht.

Der Autor überzeichnet das Böse und überspannt den Bogen dabei derart, dass Grauen in Gelächter umschlägt. So wird der Schauder zur Groteske, und indem dem Rezipienten keine andere Chance bleibt, als sich lachend zu distanzieren, mag er die Furcht vor dem Wiederaufleben einer Diktatur abbauen, deren zyklisches Auftauchen Jarry lange vor der Ära des Faschismus in der Natur des Individuums festmachte.

Von Alfred Jarry (1873 – 1907) stammt auch der Roman „Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll“. Dieses Werk gilt als Gründungsdokument der von dem Autor erfundenen „Pataphysik“, der Wissenschaft von den imaginären Lösungen. In dem Werk wird die abenteuerliche Seereise des „Doktors der Pataphysik“ Faustroll mit einem Gerichtsvollzieher und einem Pavian auf der Seine beschrieben.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Theater
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Die Berühmten

Bernhards aus zwei Vorspielen und drei Szenen bestehende Komödie beleuchtet das Musiktheater und seine Protagonisten und nimmt den Festivalbetrieb zwischen Bayreuth und Salzburg kritisch aufs Korn. Der Text entstand 1975 und wurde am Theater an der Wien unter der Regie von Peter Lotschak am 8. Juni 1976 uraufgeführt.

Anlässlich seiner 200. Vorstellung als Baron Ochs von Lerchenau im »Rosenkavalier« von Richard Strauss lädt ein Bassist berühmte Künstler seiner Zeit ein, die ihm zu Freunden und Verbündeten geworden sind. Für sie stellvertretend stehen »Vorbilder« als Avatare bereit, zu denen sich die Anwesenden gesellen. Vertreten sind Richard Mayr (1877-1935), ein als »Ochs« berühmt gewordener österreichischer Bassist sowie der als »König des Belcanto« in die Musikgeschichte eingegangene österreichische Tenor Richard Tauber (1891-1948). Alexander Moissi (1879-1935) und Helene Thimig (1889-1974) repräsentieren die Zunft der Schauspieler. Der Regisseur und Intendant Max Reinhardt (1873-1943), der italienische Stardirigent Arturo Toscanini (1867-1957), die Pianistin Elly Ney (1882-1968) sowie Verleger Samuel Fischer (1859-1934) sind ebenfalls mit von der Partie. Lediglich die Sopranistin Lotte Lehmann (1888-1976) lässt auf sich warten und stößt erst im zweiten Vorspiel zu der Gruppe.

Im Mittelpunkt des Stückes steht der Bassist, der von den anderen in einem gewaltigen, selbstgefälligen Monolog über seine Karriere und seine Kunst unterstützt wird. Während er schlemmt, erzählt er die Geschichte eines Dirigenten, der bei seinem Auftritt kopfüber in den Orchestergraben gestürzt sei und sich dabei schwer verletzte. Damals sei noch echte Kunst auf der Bühne gezeigt worden. »Heute wird vom Fließband gesungen, alle singen und schauspielern vom Fließband, eine einzige riesige Massenfabrikation, pseudomusikalisch«, kritisiert er den Opernbetrieb. Es handele sich dabei um eine »perverse Vermögensbildung auf dem Konzertpodium und auf dem Theater«.

Der Verleger meint dazu, »das Genie soll sich hüten, der Mittelmäßigkeit etwas beibringen zu wollen«, und der Regisseur sieht die größte Leistung der Kunst nicht im absolut Schönen sondern im Verkrüppelten: »Von dem Verkrüppelten geht immer eine Faszination aus. In jeder Kunstgattung, ist es die Malerei, ist es die Literatur, ja selbst in der Musik fasziniert uns das Verkrüppelte.« Alle Großen und alles Große sei verkrüppelt. Die Großen, die Bedeutenden, die Berühmten seien verkrüppelt, sei dies nun sichtbar oder nicht. Bereits Theodor Adorno habe nachgewiesen, das Genie sei schon immer verkrüppelt gewesen, in körperlicher oder geistiger Hinsicht.

Im zweiten Vorspiel greift der Bassist diesen Gedanken auf: »Jeder hat seine Verkrüppelung. Nur wird sie nicht zugegeben. Der Künstler gibt seine Verkrüppelung nicht zu, aber er schlägt Kapital aus seiner Verkrüppelung.« Der Regisseur unterstützt ihn lautstark: »Das Genie ist ein durch und durch krankhafter und verkrüppelter Mensch und ein durch und durch krankhafter und verkrüppelter Charakter.«

In der ersten Szene geht es dann um das »Volksmärchen« von der Bescheidenheit der Künstler. »Der große Künstler fordert, und er kann nicht genug fordern, denn seine Kunst ist unbezahlbar. Es ist keine Summe zu hoch, um einen bedeutenden Künstler zu honorieren, ganz zu schweigen von den größten, von den bedeutendsten, von den außerordentlichsten, von den berühmtesten …«, so der Regisseur. Im Gegensatz dazu stehe der jammernde Staat und die »Mördergrube der Politik«, die »eine lebenslängliche Feindschaft von innen heraus« mit den Künstlern verbinde, analysiert der Kapellmeister, denn «die Künstler durchschauen die Politiker und durchschauen nichts als Dummköpfe, aufgeblähte Dummköpfe«. Die Künstler erschüfen jeden Tag die Welt, und die Politiker ruinierten sie.

Auf Anregung des Verlegers, der sich für Charakterforschung interessiert, treffen sich in der zweiten Szene die Figuren mit jeweils zu ihnen passenden Tierköpfen. Der Bassist wird zum Ochsen, der Kapellmeister zum Hahn, der Verleger zum Fuchs, die Schauspielerin zur Kuh, die Pianistin zur Ziege, die Sopranistin zur Katze. Sie gehen zum opulenten Nachtisch über und kommen gedanklich zum Schluss, dass Sänger und Schauspieler »Stimmbandkünstler« seien. Sie berichten von der enormen Abhängigkeit, die der gesamte Betrieb der Musiktheaters von ihren Stimmen und deren Anfälligkeiten habe: »Eine kleine Halsentzündung wirft eine ganze Opernsaison über den Haufen«.

Als Ratten gezeichnete Diener fahren schließlich Champagner auf, und die Berühmten steigern sich immer mehr in Selbstgefälligkeit und Eigenlob. Der Regisseur fasst es zusammen: »Von der Berühmtheit geht die größte Faszination aus. Man kann sagen, von diesem Tisch hier: Der Opernkünstler ist der eigentliche Herrscher der Kunstgesellschaft, und der Bassist an sich ist ihr König.« Die Stimmen der Akteure steigern sich immer weiter, bis sie in der Schlussszene nur noch Tierlaute von sich geben, die vom dreifachen Kikeriki des Hahnes übertönt werden.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Ein Fest für Boris

Thomas Bernhards erstes Theaterstück, »Ein Fest für Boris«, entstand 1967. Diese rabenschwarze Komödie schrieb der österreichische Autor für die Salzburger Festspiele als »eine Art Anti-Jedermann, eine Tafel mit Leuten, ein Fest, aber Verkrüppelte«.

Zentrale Figur im Stück mit zwei Vorspielen und einer Festmahl-Szene ist die reiche »Gute«. Bei einem Unfall hat sie ihre Beine und den Ehemann verloren und lässt seither ihre Dienerin Johanna, die einzige Akteurin, die noch auf eigenen Beinen stehen kann, erbarmungslos nach ihrer Pfeife tanzen. Ihren zweiten Mann, den ebenfalls beinlosen Boris, hat sich aus dem benachbarten »Krüppel-Asyl« heraus geheiratet, wo sie durch reichliche Spenden auch ihre Titulierung als «Die Gute« erworben hat.

Bis zum Ende des Vorspiels probiert die Gute rote, grüne, gelbe, aber vor allem weiße und schwarze Handschuhe und große Hüte in denselben Farben. Johanna ist ihr dabei behilflich. Die Gute hält während der Anprobe einen langen Monolog. Sie bemitleidet sich selbst in ihrem beinlosen Zustand.

Das zweite Vorspiel handelt nach dem Maskenball, auf dem die Gute zusammen mit Johanna gewesen war, die Gute im Kostüm einer Königin, Johanna als Schwein. Als die Gute bemerkt, dass Johanna ihre Schweinemaske nicht mehr trägt, zwingt sie diese dazu, die Maske wieder aufzusetzen. Die Gute lässt sich gerade über den besuchten Maskenball aus und kommt dann auf Boris zu sprechen. Boris, ebenfalls beinlos, ist ihr Mann, den sie sich neulich aus dem »Krüppelasyl« ausgesucht und geheiratet hat, um nicht mehr allein zu sein. Doch Boris spricht kein Wort mit der Guten und ruft ständig nach Johanna.

Das Fest für den Geburtstag von Boris beinhaltet den Hauptteil des Stückes. Zum Geburtstagsmahl für Boris sind seine beinlosen Genossen aus dem Asyl geladen. Selbst Johanna muss an diesem Abend ihre Beine versteckt halten. Die zunehmend aufgeregten Gespräche über zu kurze Schlafkisten, schlechtes Essen und andere Miseren im Heim der Beinlosen untermalt Boris mit immer heftigeren Trommelschlägen, bis er – unbemerkt – tot nach vorne sinkt.

Als alle müde werden und sich für das Essen bedanken, bemerkt Johanna plötzlich, dass Boris tot ist. Alle mit Ausnahme der Guten entfernen sich aus dem Raum. Kaum ist die Gute mit dem toten Boris allein, bricht sie in ein fürchterliches Gelächter aus.

Die Kritik etikettierte Bernhard für diesen Text als »Alpen-Beckett«, und er selbst bestätigte den Einfluss von Genets »Zofen« auf sein Werk, das 1972 in der Hamburger Inszenierung von Claus Peymann als absurdes Theater uraufgeführt wurde. 2007 wurde es erstmals in Salzburg im Rahmen der Festwochen aufgeführt.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Alte Meister

Um alte Meister und große Geister dreht sich Thomas Bernhards rabenschwarze Komödie, ein sich im Sprachwitz dramatisch entfachendes Feuerwerk. Reger, ein extrem negativ eingestellter Musikphilosoph, dessen Artikel in der britischen »Times« erscheinen und folglich in Österreich unbekannt bleiben, bestellt seinen Freund und Verehrer Atzbacher, einen Schriftsteller, der seit 17 Jahren an einem Werk schreibt, ohne auch nur eine Zeile davon veröffentlicht zu haben, ins Kunsthistorische Museum. Dort hockt er in fester Gewohnheit seit dreißig Jahren jeden zweiten Vormittag, um Fehler in den Bildern der alten Meister zu entdecken. Fast immer trifft man ihn im Bordone-Saal vor dem »Bildnis eines weißhaarigen Mannes« von Tintoretto, wo er auch seine Frau kennen lernte, deren Tod er nur durch Pflege seiner regelmäßigen Ticks zu überwinden glaubt. Hier sinniert Reger ungestört und bei stets gleicher Temperatur darüber, was in der Welt, besonders jedoch in Österreich, schlecht ist. Dritter im Bunde ist der Museumsaufseher Irrsigler, ein einfältiger Burgenländer, der sich im Laufe der Jahre Regers Sichtweise angeeignet hat und ihn immer wieder gern zitiert.

Reger philosophiert über die Unerträglichkeit der Staatskunst. Er zerfetzt das literarische Waldesrauschen eines Adalbert Stifters, diesem literarischen Umstandsmaler mit stümperhaftem und verlogenem Stil, als unerträglichen Kitschmeister. Er bezeichnet Anton Bruckner mit seinem religiös-pubertären Notenrausch und stupidem, monumentalen orchestralen Ohrenschmalz als einen Komponisten, der die Musik verwischt habe. Er nimmt den Philosophen Martin Heidegger aufs Korn, diesen lächerlichen nationalsozialistischen Pumphosenspießer und verheerend größenwahnsinnigen Voralpenschwachmatikus, der fremde große Gedanken mit der größten Skrupellosigkeit zu eigenen kleinen Gedanken mache. Lediglich die Toiletten im »Hotel Ambassador«, wo er jeden Nachmittag zu finden ist, haben es ihm wegen ihrer Reinlichkeit angetan.

Bernhard schafft mit seinem aus einem einzigen Gedanken gezogenen Text in Reger die Figur des Anti-Künstlers, eines Menschen, der sich darin versteht, anerkannte »große« Kunstwerke abzuwerten und in Frage zu stellen. Er greift damit direkt den überlebten Geniemythos des 19. Jahrhunderts an und versucht, ihn zu zerstören.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main