Löwenherz

Löwenherz. Die Trilogie Bagage-Vati-Löwenherz beschäftigt sich mit ihrer Familie. Der dritte Band ist ganz ihrem Bruder Richard gewidmet, der durch den frühen Tod seiner Mutter mehr aus dem Gleichgewicht rät als seine drei Schwestern. Oder gibt es noch einen anderen Grund?

Putzi: Licht seines Lebens

Eines nimmt die Autorin gleich vorweg: Richard wurde nur drei Jahre älter als Alan Wilson, der Sänger von Canned Heat. Damit gehört er, der Schriftsetzer und Maler eindeutig nicht zum Club 27. Aber sein Leben war ähnlich intensiv und kurz, er beendete es mit nur 30 Jahren. Seine Schwester Monika erzählt seine Geschichte in klaren und einfühlsamen Worten, eine Biografin wie man sie sich nicht anders wünschen könnte. Und doch verheimlicht sie nichts, verschont auch sich selbst nicht, macht sich Gedanken über ihren Anteil an seinem frühen Tod. In herzzerreißenden Episoden erzählt sie, wie sich Richard um “Putzi” aka Rosi kümmerte. Das Kind war ihm von einer wildfremden Frau, Kitti, anvertraut worden und er behandelte sie wie sein eigene Tochter. Eines Winters wird sein Hund, Schamasch, von einem Jäger erschossen und Kitti stürmt mit zwei Henkern seine Wohnung, um ihm Putzi wieder wegzunehmen. Zu dieser Zeit hat Richard zwar eine Freundin, Tanja, die ihn noch fünf Jahre auffangen kann, aber dann geschieht doch das Unvermeidliche. Nach seiner Mutter, Schamasch nun der dritte Verlust. Das kann einen Menschen für immer knicken. Richard entscheidet das “für immer”. Niemand sonst hat schuld.

Löwenherz: Liebe und Angst

Wie soll man mit so einem Verlust umgehen? Mit den Schuldgefühlen, den Versäumnissen, den Vorwürfen? Am schlimmsten wiegt eine ihrer Erinnerungen, als ihr einfällt, dass Richard ihrer Schwester und ihr einmal als Baby vom Wickeltisch gerollt war. Das Geräusch klang noch nach als Richard längst erwachsen war. Aber die Folgen des Sturzes könnten seine autistische Art erklären, denn Richard kann sich nicht mitteilen oder erfindet einfach Geschichten. Ein “Schmähtandler”, Gschichtldrucker. Münchhausen, Luftikus. “Was herrscht für ein Zustand, wenn einer den letzten Knopf zuhat, aber trotzdem keine Krawatte?” frägt sie sich. Vielleicht bringt es dieser Satz auf den Punkt, was Richard ausmachte. Liebe und Angst gehören zusammen, heißt es an einer Stelle, “die eine befördert die andere, die andere verdirbt die eine”. Die Liebe zu Putzi hielt ihn aufrecht, den Richard, aber die Enteignung dieser Lieber war wohl zu viel für sein schwaches Herz. Monika Helfer beschreibt das Leben ihres Bruders, als wäre man selbst dabei gewesen. “Löwenherz” ist ein Buch, das einen in den Sessel drückt und weiterlesen lässt, bis es leider zu Ende ist. Vielleicht ist Bücher schreiben nicht die einzige Möglichkeit ein Trauma aufzuarbeiten, aber wohl die nachhaltigste. Denn so hilft es auch anderen.

Monika Helfer
Löwenherz. Roman
2023, 2. Auflage, 192 Seiten, Format: 11,5 x 19,0 cm
ISBN: 978-3-423-14879-5
dtv
12€


Genre: Biographien, Roman
Illustrated by dtv München

Gegen die Ohnmacht: Meine Großmutter, die Politik und ich

gegen die ohnmachtIm Vorwort verteilt Luisas Oma selbst gestaltete Postkarten vor dem Eingang des Hamburger Botanischen Gartens: „Niemand macht einen größeren Fehler, als derjenige, der gar nichts macht, weil er nicht alles machen kann.“ Auf der Vorderseite ein Foto von einem übergewichtigen Adam, der in einen Apfel beißt: „Adam plündert sein Paradies“ heißt die Statue, die dort, am Eingangstor, steht. Hinten sind der Spruch des Philosophen Burke und ein Link zu einer Webseite, die über Ökostromanbieter informiert. Und das im ersten Jahr der Pandemie, sie ist Mitte Achtzig.

„Meine Großmutter ist dreißig Jahre vor mir Aktivistin geworden“. Ausgelöst durch „die atomare Bedrohung, hat sie die wachsenden ökologischen Krisen und weltweiten Ungerechtigkeiten“ auf ihre Art bekämpft, mit Leserbriefen oder Reden auf Aktionärsversammlungen, die als Beispiele aufgeführt werden.

Das Buch, von Luisa geschrieben, führt uns durch zwölf Kapitel, die jeweils einen Schwerpunkt bearbeiten: Erinnern, Rauchen, Empören, Fossilität, Privilegien sind Beispiele für deren Titel.

Ein Hobby schon der Familie der Großmutter sind Filme über das Aufwachsen der Kinder, und Luisa geht gerne zum Filmegucken, so lernen wir auch etwas über die anderen Familienmitglieder. Einige Bilder sind im Buch zu sehen. Es gibt sie schon aus den dreißiger Jahren, als Dagmar Reemtsma in Tilsit aufwuchs, 1933 geboren, nach der Machtergreifung Hitlers.

Der Vater lehnt den Nationalsozialismus ab, rät der Familie vor Kriegsende, inzwischen sind es fünf Kinder, zu fliehen, obwohl der politische Führer der Region genau das verboten hatte. Mutter und Kindern gelingt die Flucht, der Vater kommt wegen Ungehorsam ins KZ Stutthof bei Danzig, „wo er umkommt.“

Die Familie zieht nach Hamburg, wo Dagmar einen Spross der Reemtsma Familie heiratet. Sie genießt die Zuneigung der Schwiegerfamilie (zur Geburt des ersten Kindes schenkt der Schwiegervater „als Kinderwagen“ einen VW-Käfer!), und erst über vierzig Jahre später erfährt sie von der Verstrickung der Zigarettenfirma mit dem Naziregime. Auch in diesem Kapitel geht Luisa dialogisch vor, fragt sie, wie man nicht fragen konnte, warum eben dieser Schwiegervater nach dem Krieg inhaftiert worden war. Oder, was die Schwiegerfamilie zum Tod ihres Vaters im KZ sagte. „Luisa, darüber sprach man nicht. Ich war völlig ahnungslos. Im Geschichtsunterricht kam die jüngere Geschichte nicht zur Sprache, und sonst auch nicht.“

Nachdem Oma ihre Kinder großgezogen und sich von ihrem Gatten getrennt hatte, nahm sie an Demonstrationen teil. Trotz Hippiezeit blieb sie die Bürgerliche: Gut gekleidet und mit Hut. Bei der Aktionärsversammlung von Adidas beklagt sie die Höhe der Dividenden, die wegen der Ausbeutung der Näherinnen in Asien möglich sind.

Durch den Rückblick auf die Aktivitäten der Oma werden wir erinnert an Vorstellungen vom Fortschritt, die inzwischen Zeitgeschichte sind: den Elbausbau in Hamburg, die Flugzeugfabrik, die inzwischen abgerissen wurde.

Besonders lesenswert sind die Leserbriefe an die WELT, wo sie sich, auch schon 2007, gegen den Autowahn wendet: „Nach der mühevollen Einführung des Katalysators haben die deutschen Autohersteller absolut verantwortungslos agiert und produziert, und Herr Verheugen sorgt gerade in Brüssel dafür, dass es auch in Zukunft so bleiben wird.“ Und so kam es auch.

Manchmal spricht Luisa von ihrer Oma so liebevoll wie Großeltern von ihren Enkelkindern: „Der Computer und meine Großmutter führen eine aufreibende Ehe, stundenlang kann meine Großmutter vor mir stehen und sich beschweren: Heute hat er schon wieder dies gemacht …“

Als das Internet aufkam, hatte sie sofort einen Kurs bei der VHS belegt, weil sie ahnte, dass gerade Rentner hier schnell abgehängt werden können.

Im Kapitel Ostfronten geht es von der Flucht der Oma und den Kriegsfolgen weiter mit dem Krieg in der Ukraine. Wieder einen Krieg zu erleben, war für Europäer außerhalb jeder Vorstellung.

Gegen die Ohnmacht schließt mit den Gefühlen, die Aktivisten haben, wenn sie sehen, dass sie ihre Ziele nicht erreichen. Schon der Bericht, wie Aktivisten in Straßburg vor dem EU-Parlament erfahren müssen, dass Gas und Atom nachhaltig sein sollen, berührt. Ein Buch mit viel Informationen und Tiefgang, und auch noch gut zu lesen.


Genre: Biographien, Klimakrise, Zeitgeschichte
Illustrated by Tropen Verlag

Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Es geht um Freiheiten und wie sie sich beim Erwachsenwerden ändern. Das Buch gefiel anfangs, weil es die Gedanken und Gefühle eines kleinen Mädchens beschreibt, das im stalinistischen Albanien aufwuchs. Sie liebte ihre Lehrerin, die so schöne Geschichte von Stalin erzählte, und auch den Onkel Hoxha. Und die Lehrerin konnte so gut erklären, dass es im Sozialismus noch Klassenkämpfe geben muss, aber im Kommunismus wären dann alle absolut frei. Ihre Eltern und die Großmutter waren auch Sozialisten, jeder hatte eine Lieblingsrevolution, der Vater liebte die, die noch kommen sollte. Aber, warum wollten die Eltern kein Bild vom Präsidenten Enver Hoxha im Wohnzimmer haben?

Als in Berlin die Mauer fiel, war sie zehn Jahre alt geworden, und alles änderte sich. Die Eltern lästerten plötzlich über die geliebte Lehrerin. „Diesmal gab es keine Fixpunkte, alles musste von Grund auf neu erschaffen werden. Die Geschichte meines Lebens war nicht die von Ereignissen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, sondern die einer Suche nach den richtigen Fragen, jenen Fragen, die mir zuvor nicht in den Sinn gekommen waren.“ Hier nimmt sie die Leser/innen mit beim Erwachsenwerden, bei der Suche nach den Fragen. Nach und nach erfährt sie, dass die Eltern aus der Bourgeoisie stammten und dass sie wegen „der Biografie“ nicht ihre Berufe hatten wählen können.

Zur Oma hat sie eine besondere Beziehung, sie kam aus Saloniki, hatte am Osmanischen Hof verkehrt, in der Familie spricht sie nur Französisch. Da die Familie enteignet worden war, fährt sie zu Verwandten in Athen, in der Hoffnung, manches wiederzuerlangen. Lea darf mit und die Oma kauft ihr ein Tagebuch, wo sie alles vermerkt: Dass hier die Autos Schlange stehen, und nicht die Menschen, dazu gibt es noch Ausführungen über unterschiedliche Taktiken des Schlangestehens, oder, dass die Menschen angeleinten Hunden nachliefen oder Werbeplakate statt anti-imperialistischen Inschriften. Bananen und Jeans gibt es auch.

In Albanien werden die Auseinandersetzungen gewalttätig. Viele Menschen fliehen, aber keiner will die Migranten nun aufnehmen, manche ertrinken im Mittelmeer. „Freiheit wirkt“, sagte US-Außenminister James Baker, und dass die USA das Land auf seinem Weg in die Freiheit helfen würden. „Vor allem kam es aufs Tempo an. Milton Friedman und Friedrich von Hayek ersetzten Karl Marx und Friedrich Engels praktisch über Nacht.“ Es kommen neoliberale Manager. Irgendwann geht der Vater in die Politik, scheitert aber und die Mutter, ehemalige Mathematiklehrerin, wird Altenpflegerin in Italien.

Als sie dann erwachsen geworden ist, am Ende der Geschichte, schreibt sie einen Epilog, Vater und Oma sind gestorben, das Buch widmet sie der Oma. Eigentlich wollte sie ein Sachbuch schreiben, aber die Lektorin riet zu diesem Format, ein guter Rat, denke ich, so bekommen die Gedanken die Gesichter derer, die sie vertreten. Und die Übersetzung aus dem Englischen ist auch gelungen.

Sie berichtet, dass sie Philosophie erst in Italien studierte, wo sie mit neuen Freunden über Politik diskutierte. „Westliche Sozialisten, um genau zu sein. Sie sprachen von Rosa Luxemburg, Leo Trotzki, Salvador Allende und Ernesto „Che“ Guevara, als wären es westliche Heilige. In der Hinsicht ähnelten sie meinem Vater: Alle Revolutionäre, die sie für bemerkenswert hielten, waren ermordet worden.“ Ein Zitat von Rosa Luxemburg ist dem Buch vorangestellt: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.“

Und dann erzählt sie noch, wie sie an der London School of Economics ihre Marx Seminare beginnt. Ob man da wohl mal Gasthörerin werden kann?


Genre: Biographien, Erfahrungen
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Imperium

ImperiumChristian Kracht schildert in seinem Roman »Imperium« die Lebensgeschichte des deutschen Auswanderers August Karl Engelhardt (1875 bis 1919). Engelhardt gründete auf einer kleinen Insel im heutigen Papua-Neuguinea eine spirituelle Gemeinschaft, die er »Sonnenorden« nannte. Charakteristikum war die Ernährungsweise, die ausschließlich aus den auf der Insel reichlich wachsenden Kokosnüssen bestand. Weiterlesen


Genre: Abenteuer, Biographien, Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Jim Morrison: Der König der Eidechsen

Jim Morrison: Der König der Eidechsen. 50 Jahre ist Mr. Mojo Risin‘ tot und dieses Mal wohl endgültig. Das Akronym unter dem er sich wieder melden wollte, Mr. Mojo Risin‘, taucht auch in dem Titelsong der letzten Langspielplatte der Doors, „L.A. Woman“ auf: „Mr. Mojo Risin‘, got to keep on rising“ heißt es dort bedrohlich. Jim Morrison, dessen weltliche Überreste auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise ruhen, ist wohl zu ewigen Wiedergeburt verdammt. Dem Stehaufmännchen des Rock huldigt die vorliegende bebilderte, überarbeitete und erweiterte Ausgabe mit dem Titel „Jim Morrison. König der Eidechsen“.

Paris liegt (auch) in Afrika

The Doors  am Venice Beach (1967), Robert Klein, Courtesy by Schirmer/Mosel

 

Die „endgültige Biographie und die großen Interviews“ spielt auf „Keiner kommt hier lebend raus“, die eigentliche Biographie Morrisons an, die der Autor, Jerry Hopkins 1980 mit Danny Sugerman herausbrachte. Diese Biographie begründete den Kult um Morrison, ließ sie doch zwei mögliche Enden realistisch erscheinen: entweder Morrison ist wirklich in seiner Badewanne in Paris gestorben oder er hat sich – wie sein literarisches Vorbild Arthur Rimbaud – nach Afrika abgesetzt. „Do you remember when we were in Africa?“ ruft er scheinbar unzusammenhängend als Intro auf dem Song „Whishful Sinful“. Aber es wird schon einen Grund gehabt haben, warum sich Jim Morrison Anfang 1971 nach Paris absetzte, um dort mit seiner Lebensgefährtin Pamela Courson ein neues Leben anzufangen. Er wollte dort vor allen Dingen schreiben und seine Filme in Frankreich veröffentlicht sehen. Denn Jim Morrison war mehr als nur ein Rockstar.

Jim Morrison in seinen eigenen Worten

Angels dance, angels die: Jim Morrison (1967); Courtesy Schirmer/Mosel

 

Als 1991 Oliver Stone’s Doors Film heraus, gab es einen Passus im Vertrag mit Pamela’s Eltern, der besagte, dass kein Zusammenhang zwischen Jim’s Tod und Pamela hergestellt werden dürfe. Allein das erweiterte den Rahmen für Spekulationen um ein Vielfaches und so kann Jim Morrison regelmäßig zu seinem Todestag immer wieder erneut auferstehen. Denn alles was seinen Tod 1971 betrifft ist ungesichert und wird wohl nie restlos aufgeklärt werden können. Die vorliegende „endgültige Biographie“ erschien erstmals unter dem Eindruck des x-ten Doors-Revivals, das durch den Stone-Film ausgelöst wurde. Insofern verteidigt Hopkins Jim, denn er sei keinesfalls der „gemeine, zügellose, selbstzerstörerische Alkoholiker“ gewesen als den Stone ihn darstelle, sondern vielmehr ein „charmanter, witziger, intelligenter, beredter“ Mensch mit „viel Sinn für Humor und Selbstironie“. Das

Jim Morrisons Augenzwinkern in Paris, 1971; Andrew Kent, Courtesy Schirmer/Mosel

beweisen unter anderem auch die Interviews (darunter zwei Gespräche von 1969 und 1970 aus „The Village Voice“ und „Creem Magazine“), die ungefähr die Hälfte des vorliegenden Buches ausmachen und Jim Morrison auch selbst zu Wort kommen lassen. In his own words. Alles andere steht ohnehin in seinen Liedern und Gedichten oder seinen Filmen.

 

Jerry Hopkins
Jim Morrison: Der König der Eidechsen
Die endgültige Biographie und die großen Interviews
Aus dem Englischen von Manfred Ohl, Hans Sartorius, Carl Ludwig Reichert und Marion Kagerer
Überarbeitete und erweiterte Ausgabe
2021, 280 Seiten, 57 Abbildungen, Format: 16,5 x 24 cm, broschiert
ISBN: 9783829609340
Verlag Schirmer Mosel


Genre: Biographien, Musik, Rockmusik
Illustrated by schirmer/mosel

Fürst Lahovary. Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler

Thomas Mann erkannte im Kriminellen vielfach Künstlerisch-Eigenstes wieder. Sein Werk »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« fußt auf den Memoiren von Georges Manolescu, der als »Fürst Lahovary« ein ebenso abwechslungsreiches wie abenteuerliches Leben als Hochstapler führte. Diese Memoiren aus dem Jahr 1905 liegen jetzt wieder vor. Weiterlesen


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Manesse Verlag München

Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

Thomas Bernhard: Die unkorrekte Biografie

Wer bleibt denn da überhaupt übrig, den Sie nicht für einen Idioten halten?“ – „Na keiner, das ist es eben.“ In 99 rasant-komischen Bildern wird die Biographie des am 12. Februar 1989 in Gmunden verstorbenen enfant terrible Österreichs erzählt. Dazu einige der besten und humorvollsten Zitate der „Zwiderwurzn“, die auch heute noch das Herz erwärmen. Dieses Jahr jährt sich sein Geburtstag am 9. Februar zum 90. Mal. Schade, dass er nicht mehr lebt und die Gemüter erhitzt. So wie damals.

Den Nagel auf den Kopf getroffen, die Österreicher ins Herz

1. Thomas Bernhard muss Burgtheater-Direktor werden, 2. Es ist alles sehr kompliziert, 3. Ich nehme zur Kenntnis, dass Kurt Waldheim nie bei der SA war, sondern nur sein Pferd“. Diese pointierte Zusammenfassung der Innenpolitik der Achtziger stammt vom damaligen österreichischen Bundeskanzler Fred Sinowatz. Das Theaterstück „Holzfällen“ von Thomas Bernhard schlug in dieses innenpolitische Klima ein wie eine Bombe und machte den Schriftsteller zum meistgehasstesten Mann Österreichs, aber gleichzeitig auch zum Aushängeschild eines Landes, das seine Vergangenheit so lange wie möglich verdrängt hatte. Aber ich den Achtzigern kam alles hoch und Bernhard schwamm auf einer Welle, die ihn bis ganz nach oben brachte. Im oberösterreichischen Ohlsdorf hatte er sich einen Denk- und Schreibkerker eingerichtet, von wo aus er nicht nur die Republik, sondern auch ihre Bewohner regelrecht beschimpfte.

Gegen Männer, Nationalsozialismus und Katholizismus

Dabei war sein Hass auf Österreich vor allem auch ein Selbsthass: „Ich habe die Wiener Kaffeehäuser immer gehasst, weil ich in ihnen immer mit Meinesgleichen konfrontiert gewesen bin… Ich ertrage mich selbst nicht, geschweige denn eine ganze Horde von grübelnden und schreibenden Meinesgleichen.“

Auch die Männer an sich kamen bei ihm nicht gut weg. „Ich vertrage Männer nicht. Männergespräche halte ich nicht aus. Die machen mich narrisch. Männer reden immer das gleiche. Über ihren Beruf oder über Frauen. Da sind mir schwätzende Frauen noch lieber.

Sein abwesender, alkoholkranker Vater und sein Heranwachsen in den Vierzigern hatten auch seinen Hass auf den Nationalsozialismus und den Katholizismus bestärkt. Beides erkannte Bernhard als kennzeichnende Wesensmerkmale des Österreichers. Und lehnte sich zeitlebens dagegen auf. Nicolas Mahler hat einige von Bernhards besten Zitaten aufgespürt und mit seinen Bildern versehen, die auch ein Schlaglicht auf den Menschen Bernhard werfen. Bernhards Preise und Skandale, seine Krankheit, sein Lebensmensch Hedwig Stavianicek oder das Verhältnis zu seinem Verleger Siegfried Unseld: Nicolas Mahler lässt nichts aus.

Nicolas Mahler

Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

2021, Hardcover, suhrkamp taschenbuch 5125, Gebunden, 119 Seiten

ISBN: 978-3-518-47125-8

D: 16,00 € / A: 16,50 € / CH: 23,50 sFr

Suhrkamp Verlag


Genre: Biographien, Comic
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Apfelbaum

Der apfelbaumEinundneunzig Jahre alt ist die Mutter des Autors und träumt sich immer wieder in neue Abenteuer hinein, dabei will er doch, bewaffnet mit einem Kassettenrekorder, ihre wechselhafte Geschichte aufzeichnen, gerne auch das, was bisher verschwiegen wurde. Aus diesen Stückchen, die es zusammenzufügen gilt, will er seine eigene Geschichte „neu erfinden“, und nicht mehr davor weglaufen, heißt auf dem Umschlagdeckel.

Und es gelingt ihm dank seiner Erzählkunst; mit Spannung und Anteilnahme lesen wir über deutsche Schicksale im letzten Jahrhundert.

Es beginnt mit dem Vater des Autors, der vor vier Jahren verstorben war. Otto wurde in den Monaten vor Ende des Ersten Weltkriegs in einer Berliner Arbeiterfamilie geboren. Sein Vater Otto war gefallen, Anna, die Mutter hatte ihn sehr geliebt und gehofft, mit ihm zusammen sozial aufzusteigen. Der Friseur war geschickt und konnte auch kleine Operationen durchführen. Das Söhnchen wird Otto genannt und soll es einmal besser haben,. In ihrer Erziehung achtet sie schon beim kleinen Otto darauf, etwa, dass er nicht so balinaht, wie seine Schwestern.

Erst sieht es kaum nach Aufstieg aus, Otto ist klein und zierlich, aber als er seinen Muskelaufbau systematisch fördert, kann er sich gegen den prügelnden Stiefvater und auch andere Widersacher durchsetzen. Er gerät bald an einen Verein, der Kraftübungen mit organisiertem Verbrechen verbindet, als die Schlüsselszene passiert, wie sich Berkels Eltern kennenlernen: Während er Anfang der dreißiger Jahre im bürgerlichen Friedenau in eine Wohnung einbricht, gelangt er in einen Traum von Bibliothek und interessiert sich für ein dickes Geschichtsbuch. Dazu kommt die dreizehnjährige Sala Nohl.

Die Polizei verfolgt die Einbrecher. Er versteckt sich und Sala deckt ihn souverän, als die Polizisten nach Einbrechern fragen. Otto geht stolz, mit der römischen Geschichte unter dem Arm, die er am nächsten Tag im Tiergarten lesen will.

Dort fällt er Salas Vater Jean wegen des Buches auf. Jean, als bekennender Homosexueller täglich im Tiergarten auf der Pirsch, interessiert sich für Otto und sie reden über das Buch. Otto wird eingeladen und kommt am nächsten Tag als Gast wieder in die Friedenauer Wohnung. Forsch teilt Otto Salas Vater mit, dass er die Tochter heiraten möchte (er war 17, sie 13 Jahre alt). Das hält Jean davon ab, sich weiter sexuell für ihn zu interessieren. Auch seine Persönlichkeit spricht nicht nur Sala an, fortan wird Otto als Arbeiterkind von den Gebildeten gefördert. Es beginnt eine schöne Zeit für das junge Liebespaar. Sie besuchen Filme und Theater, Sala lernt seine Familie kennen und schätzen, wenigstens sind sie zwar rau, aber ehrlich miteinander. Otto macht Abitur, studiert Medizin, Sala geht zur Schule und will Schauspielerin werden.

„Sie übt sicher wieder eine dramatische Rolle,“ denkt Jean und lauscht hinter der verschlossenen Tür. Hören muss er, dass Sala in einer gestellten Szene ihrer Mutter Iza vorwirft, sich nicht um sie zu kümmern, und ihr zu alledem noch ihr jüdisch Sein vererbt hat, denn in ihrer Umgebung musste ihr bewusst werden, dass es nicht gut ist, Jüdin zu sein, ein Stigma, unter dem sie ihr Leben lang leiden wird.

Iza, Tochter aus gehobenen jüdischen Kreisen in Polen, hat die Familie vor einigen Jahren wegen eines deutlich jüngeren Künstlers verlassen und lebt jetzt in Madrid in Anarchistenkreisen, später wird sie zum Tode verurteilt, um dann über mehrere Jahre in Franco’s Gefängnissen zu überleben. Salas Versuche, ihrer Mutter nahezukommen werden scheitern. Noch als Hochbetagte streitet sie sich mit ihrem Sohn über ihre (und seine) jüdischen Anteile.

Sala verlässt Deutschland, als es zu gefährlich wird, erst geht es nach Paris zu einer Tante, Schwester von Iza, die ein exquisites Modegeschäft führt. Sie studiert an der Sorbonne und genießt ein Luxusleben. Es wird gespeist mit mehreren Gängen und passender Weinbegleitung. Erst in dem Folgebuch über ihre Tochter Ada (link!) wird dieser das Judentum bei einem Besuch einer Bar Mitzwa Feier nahegebracht. Bei Sala wird es verdrängt.

Aber nach kurzer Zeit wird Paris besetzt, und sie muss auch hier weiterziehen. Geplant ist die Flucht über Marseille. Kurz vorher trifft sie sich mit Otto, der in der Uniform eines Wehrmachtsarztes überraschend kommt, sie entdecken ihre Liebe wieder.

Unterwegs nach Marseille wird sie gefasst, kommt in das berüchtigte Lager in Gurs. Salas Beobachtungen des Lagerlebens sind eindrucksvoll: man hungert, aber spielt auch Theater, Veränderungen, die sie auch bei sich selbst wahrnimmt. Nach und nach die werden Insassen in Zügen abtransportiert, in andere Lager in Osteuropa, man weiß, dass niemand je zurückgekommen ist. Sie wird in einem Zug gesetzt, der nach Leipzig fährt, während der Fahrt durch Frankreich setzt sie sich in ein anderes Abteil zu einem deutschen Ehepaar. Diese ahnen, dass sie eine geflohene Jüdin ist und helfen ihr nach dem Outing beim Weiterkommen in Leipzig. Sie bekommt einen deutschen Pass, pikanterweise mit dem Vornamen Christa und macht eine Ausbildung als Krankenschwester. Eine Kollegin, Molly, die ohne Salas Wissen in ihre Situation eingeweiht worden war, wird von nun an ihre Vertraute, deren Rat immer gut ist.

Otto ist kaum wiederzuerkennen, als er von der Front zu Besuch kommt und sie finden wieder zueinander. Sala wird schwanger und kann in Leipzig die Tochter Ada gebären. Nach Kriegsende ist ihr Deutschland keine Heimat mehr, es ist schwer sich im neuen Leben zurechtzufinden. Von Otto weiß man nichts, hofft, er wäre in Gefangenschaft in der Sowjetunion, also am Leben.

Er scheint Tagebuch geschrieben zu haben, auch über die Hilflosigkeit der deutschen Soldaten, die mit der Niederlage umgehen müssen. Er betreut sie als Arzt, muss auch bei sich selbst die Diagnose Dystrophie stellen; er erschrickt bei seinem Spiegelbild. Berkel wechselt nun ab, Erfahrungen von Sala mit Ada und Otto zu beschreiben. Ottos Überlebensstrategie: russisch lernen, viel beobachten, nachdenken und sich nicht aufgeben.

Sala redet mit Überlebenden in Deutschland, lernt deren Strategien kennen, aber sieht keine für sich, sie entschließt sich auszuwandern. Erst zu Iza nach Madrid, es ist der zweite Versuch Salas, der Mutter zu begegnen, diesmal mit Ada, Mutter und Tochter kommen auch jetzt nicht zusammen. Sie will dann weiter nach Argentinien, wo eine weitere Schwester Iza’s mit Ehemann lebt.

Sie arbeitet als Nanny bei einer wohlhabenden Familie, es geht anfangs gut. Sie träumt von Otto und will, dass er auch auswandert. Er kann mit dieser Vorstellung nichts anfangen, und ob das Kind von Ihm ist? Der Briefwechsel wird kränkend. Als der Vater der von ihr betreuten Kinder ihr nachstellt, geht sie, auch eine zweite Arbeitsstelle läuft nicht gut, bis Ada endlich sagt: „Ich will weg hier.“

Zurück in Deutschland nimmt Molly die Dinge in die Hand und nötigt sie Otto anzurufen. Er ist inzwischen HNO-Facharzt, dabei, sich niederzulassen und verheiratet mit Waltraut, die ihm mit ihren gehobenen Konsumvorstellungen zunehmend abstößt. Zehn Minuten nach dem Telefonat treffen sie sich im Kaffee Kranzler und Otto weiß schnell, dass er sich scheiden lässt.

Für dieses Buch hat Christian Berkel viel recherchiert, dutzende von Briefe, gerade von und nach Argentinien gefunden und bearbeitet. Seine Mutter hat, so wie damals, als sie jünger war, vieles von ihrer Geschichte verdrängt. Und sich weggeträumt: Am Tag vor ihrem Tode hatte sie ein Date mit Putin im Borchardt und ihren Sohn gezwungen dort anzurufen, weil sie sich ein wenig verspäten würde. Sie mochte die Entourage von Putin nämlich nicht.


Genre: Biographien, Historischer Roman
Illustrated by Ullstein

Ein ganzes Leben

Robert Seethaler dreht die Uhr um einhundert Jahre zurück und führt den Leser in die raue Bergwelt der Alpen. Sein Held Andreas Egger, ein gebirgserfahrener junger Handlanger in einem österreichischen Tal, besucht ein eremitisch lebendes Unikum, den Hörnerhannes. Er findet den Ziegenhirten todkrank und bis auf die Knochen abgemagert in einer Ecke. Egger will ihn ins Tal tragen, dort gibt es medizinische Hilfe. Doch der Todgeweihte will in seiner Welt bleiben. Er springt mit letzter Kraft aus der Kraxe, die sein Retter für den Transport auf den Rücken geschnallt hat und verschwindet im Schneegestöber. Weiterlesen


Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Goldmann München

Als ich aus der Zeit fiel

Ein junger Mann durchlebt eine normale Kindheit und Jugend; nach dem Abitur beginnt er ein Studium der Rechtswissenschaften und bereitet sich auf die erste juristische Staatsprüfung vor. Während dieser Zeit der Vorbereitung und des Lernens bemerkt er plötzlich an sich selbst Wahrnehmungsverschiebungen.

Er glaubt, dass Leute, die er auf der Straße trifft und die er gar nicht kennt, über ihn lachen, ihm nachschauen. Er ist zunehmend verunsichert, fragt sich, warum die Leute über ihn lachen. Ist ihm in den letzten Tagen irgendetwas Peinliches passiert? Haben diese Leute das gesehen, oder hat es ihnen jemand erzählt? Woher wissen die Leute davon? Weiterlesen


Genre: Biographien
Illustrated by pinguletta Verlag

Schwitters

Kurt Schwitters Ulrike DraesnerDer am 20. Juni 1887 geborene Kurt Schwitters zählt zu den prägenden deutschen Künstlern des 20. Jahrhunderts. In Deutschland nahezu vergessen, gilt er heute vor allem in Großbritannien, wo er auf der Flucht vor den Nazis seine letzten Lebensjahre verbrachte, als anerkannter Collagist und Installationskünstler. In einem biographischen Roman schildert Autorin Ulrike Draesner feinsinnig und unterhaltsam Schwitters Jahre als Migrant im Exil. Weiterlesen


Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Penguin

Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z

Ein überraschend vielschichtiger Blick auf den Dirty Old Man

 

Pünktlich zum 100. Geburtstag, den Charles Bukowski am 16. August 2020 gefeiert hätte, veröffentlicht der Verlag Zweitausendeins das Buch „Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z“. Der Verlag kündigt es als ein „unlexikografisches Lexikon“, eine „persönliche Bukowskipedia“ an. Diese forsche Einordnung, die von Understatement und Übertreibung zugleich geprägt ist, hätte Bukowski sicherlich gefallen. Immerhin kann sich Zweitausendeins auf die Fahnen schreiben, im Dreigespann mit dem Augsburger Maro-Verlag und dem 2012 verstorbenen Übersetzer Carl Weissner Bukowski Ende der 1970er Jahre in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Erst diese Aufmerksamkeit sorgte für eine weiter geschärfte Wahrnehmung in seiner Heimat Amerika.

Die Schattenseite des American Dream

Charles Bukowski, dessen Romane, Gedichte und Short Stories sich vornehmlich um Verlierer, Säufer, Außenseiter, Machos, Prostituierte, Schmuddelsex und Entmenschlichung drehen – also die Schattenseite des American Dream -, war für Zweitausendeins schon immer eine Herzensangelegenheit. Für das Buchprojekt konnte man Frank Schäfer gewinnen, seines Zeichens Schriftsteller, Popkulturexperte, Heavy Metal-Freak und Bukowski-Enthusiast.

„Charles Bukowski von A bis Z“ suggeriert etwas Umfassendes, Kompendienhaftes. Der Untertitel erinnert beispielsweise an die bei Metzler/Springer erschienenen „Personen-Handbücher Literatur“, etwa zu Robert Walser, Thomas Mann oder Franz Kafka. Genau ein solches Nachschlagewerk ist „Notes on a Dirty Old Man“ jedoch nicht. Und dennoch schafft es Frank Schäfer, einen überraschend vielschichtigen Blick auf Leben, Werk und Wirkung Charles Bukowskis zu werfen.

47 Stichwörter und profundes Wissen

Unter insgesamt 47 Stichwörtern, von „Ablehnungsbescheid“ bis „Weissner“, hat Schäfer jeweils ein- bis sechsseitige Essays verfasst und in zwei Fällen Interviews geliefert, die mit profundem Wissen zu Bukowski aufwarten. Dabei zeigt sich Schäfer nicht nur auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes, sondern es gelingt ihm auch, eine Fülle an Details in einer kurzweiligen Form und einem gut lesbaren, bisweilen ironisch-saloppen Schreibstil zu vermitteln.

Schäfer bestätigt zwar so manches Bukowski-Klischee, etwa den für die literarische Produktion nötigen Dauersuff (erst 1988 lebt er nach einer Therapie gegen Hautkrebs für sechs Monate abstinent). Doch zeichnet er das ebenso differenzierte Bild eines sensiblen, zu scharfen Beobachtungen fähigen Dichters, der schon in jungen Jahren aufgrund seiner schweren Akne-Erkrankung zum Außenseiter („Gesicht“) wurde. Zugleich machten ihn die fortwährenden Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Vater zum desillusionierten Fatalisten („Vater“). Bukowski sprang nicht gerade zimperlich mit Zeitgenossen in seinem Umfeld um („Open City“), war erklärtermaßen apolitisch („Politik“) und hasste Dichterlesungen (und hielt sie doch des Geldes wegen, „Dichterlesungen“). Zudem hatte er ein merkwürdig ambivalentes Verhältnis zu den umfangreichen Textüberarbeitungen durch seinen Verleger John Martin („Verschlimmbesserungen“).

Reizthemen

Auch Kontroverses wird nicht eingeebnet: Bukowski war mitunter rassistisch, frauenfeindlich, homophob. Dennoch pflegte er eine Freundschaft zu dem schwulen Dichter Harold Norse („Homos“) oder arbeitete durchaus respektvoll mit vielen schwarzen Kollegen während seiner diversen Aushilfsjobs zusammen („Rassismus“). Gerade diese offensichtliche Beliebigkeit von Standpunkten und der nicht zu leugnende Opportunismus Bukowskis liefern seinen Kritikern bis heute genug Reizthemen für die Geringschätzung seines Werks. Doch nicht zuletzt in den unideologischen Abbildungen der Realität finden Bukowski-Fans dagegen ebenso viele Qualitätsaspekte. Die Polarisierung, die Bukowski nach wie vor erzeugt, hat unter anderem hier ihre Wurzeln.

Da es zu X, Y und Z keine Stichwörter gibt, präsentiert Schäfer unter „XYZ“ eine stichwortartige Biografie Bukowskis, die, nach Jahren geordnet, die wichtigsten Stationen in Leben und Werk nachzeichnet. Abgerundet wir der Band mit einem aufs Wesentliche beschränkte Literaturverzeichnis und mit einem Fototeil. Dieser bietet 20 Schwarzweißbilder, die der deutsche Fotograf Michael Montfort 1978 hauptsächlich während Bukowskis Lesereise nach Deutschland geschossen hatte. Diese Reise wurde seinerzeit von Zweitausendeins organisiert – so schließt sich der Kreis.

Für Kenner und Einsteiger

„Notes on a Dirty Old Man” eignet sich für Bukowski-Kenner wie für -einsteiger gleichermaßen. Man kann die Essays chronologisch lesen oder sich auch bestimmte, ausgewählte Stichwörter vornehmen. Jeder Essay ist wie ein Teil eines sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügenden Puzzles.

Nach der Lektüre hat man den Eindruck, dem kontroversen Autor und seinem Werk nicht nur ein Stück näher gekommen zu sein, sondern auch ein differenziertes Bild fernab einseitiger Lobhudelei erlangt zu haben. Das ist eine Leistung, die eine ausführliche Bukowski-Biografie (von denen es einige gibt), nicht besser machen könnte. Insofern ist das Buch ein durchaus gelungenes und würdiges Geburtstagsgeschenk zu Charles Bukowskis Hundertstem. Der gute, alte Buk stößt sicherlich darauf an – im Himmel, in der Hölle oder irgendwo dazwischen.

 

Frank Schäfer: Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z.
Leipzig: Zweitausendeins, 2020.
272 Seiten, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3963180675

Zweitausendeins


Genre: Amerikanische Literatur, Amerikanistik, Biographien, Kulturgeschichte, Lyrik, Roman, Sachbuch
Illustrated by Zweitausendeins Leipzig

Leben, schreiben, atmen

Das Buch von Doris Dörrie »Leben, schreiben, atmen« kommt im richtigen Moment und gibt uns in der Zeit der Quarantäne etwas Neues zu tun: Wir sollen schreiben! Am besten mit der Hand, unbedingt mindestens 10 Minuten lang und das ohne Denkpausen. Dazu werden mehrere Dutzend Themen vorgeschlagen: Dunkel, süchtig, Piercing, Hochzeit, Kleid oder Flanieren. Weiterlesen


Genre: Biographien, Ratgeber, Sachbuch
Illustrated by Diogenes