Iris Wolff- Lichtungen

Das Buch beginnt auf frischer Fahrt: mit einer Fähre reisen Lev und Kato. Lev heißt Löwe und ist der Name des jungen Mannes, der mit Kato auf einer großen Reise ist. Der Roman ist aus seiner Sicht geschrieben, wenn auch nicht in Ich-Form. Kato lebt seit Jahren in Westeuropa, verdient gut mit ihrer Straßenmalerei, gemalt hatte sie schon als Kind. Lev hatte mit Waldarbeitern gearbeitet. Nun ist er auch hierhergekommen, weil sie geschrieben hatte: „Wann kommst du?“ Und sie haben sich wiedergefunden, an ihre früheren Gemeinsamkeiten angeknüpft und es genossen.

Heute hat er ihr erklärt, dass er zurückkehren müsse, und sie antwortete, dass sie mitkommen wolle. Das war so unerwartet, dass er seinen Mut zusammennimmt, nachfragt. Und sie antwortet mit einem klaren „Ja.“ Wie es dann mit den beiden weitergeht, wenn sie gemeinsam in Rumänien, genauer in Siebenbürgen, leben würden? Die erhoffte Geschichte der gemeinsamen Rückkehr kommt nicht.

Dafür geht es schrittweise zurück in ihre gemeinsame Vergangenheit. Die einzelnen Stufen werden mit Denksprüchen in verschiedenen Sprachen, rumänisch, siebenbürgisch, einmal gar ungarisch oder mit einem hebräischen Bibelspruch eingeleitet. Deren Sinn blieb mir, trotz Übersetzungen, meist verschlossen.

Beide kamen aus schwierigen Familienverhältnissen. Ihre Verbindung begann, als Levs bettlägerig war, da seine Beine gelähmt waren, und sie, als gute Schülerin, ihn besuchte, um das in der Schule Versäumte zu bearbeiten. Zwei einsame Jugendliche finden sich. Alles wird in einer traumhaft schönen Sprache beschrieben: Beobachtungen der Natur, der Hügellandschaft, der Jahreszeiten. So schön, wie im vorangegangenen Buch „Die Unschärfe der Welt“. Oft wird auch geträumt.

Auch Politisches wird behandelt: Wie lebt es sich in einem Vielvölkerstaat? Was ist Zugehörigkeit? Die Frage wird schon im Alltäglichen vorbereitet, wenn Lev versucht, den Kater zu streicheln, und der sich abwendet. „Immer galt es Zeichen zu suchen, ab ein Tier einen liebt oder ob man sich diese Zugehörigkeit nur einredet.“ Der Großvater weiß, dass es nichts anderes ist als eine Entscheidung. Er hat dann entschieden, zu fliehen, Lev hatte ihn an die Grenze zu einem Schleuser gebracht, und hat ihn nun in Wien besucht, als er auf dem Weg zu war. Alle diese Beschreibungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind in ihrer dichten Sprache abgebildet.

Gleichwohl wurde das Lesen durch die vielen Details zunehmend unschlüssig. Ohne Levs Beinlähmung als Auslöser hätte es die Beziehung nicht gegeben. Deren Ursache wird immer wieder angedeutet: Die Mutter meint, der Opa wäre verantwortlich, Lev beruhigt ihn, dass er ihm nichts vorwerfe, aber letztlich erfahren die Leser es nicht. Höchstens, dass es ganz unbestimmte Ursachen sein könnten, vielleicht so etwas Psychosomatisches?


Genre: Aufwachsen in einer Diktatur, Historischer Roman, Langjährige Beziehungen, Roman
Illustrated by Klett Verlag

Löwenherz

Löwenherz. Die Trilogie Bagage-Vati-Löwenherz beschäftigt sich mit ihrer Familie. Der dritte Band ist ganz ihrem Bruder Richard gewidmet, der durch den frühen Tod seiner Mutter mehr aus dem Gleichgewicht rät als seine drei Schwestern. Oder gibt es noch einen anderen Grund?

Putzi: Licht seines Lebens

Eines nimmt die Autorin gleich vorweg: Richard wurde nur drei Jahre älter als Alan Wilson, der Sänger von Canned Heat. Damit gehört er, der Schriftsetzer und Maler eindeutig nicht zum Club 27. Aber sein Leben war ähnlich intensiv und kurz, er beendete es mit nur 30 Jahren. Seine Schwester Monika erzählt seine Geschichte in klaren und einfühlsamen Worten, eine Biografin wie man sie sich nicht anders wünschen könnte. Und doch verheimlicht sie nichts, verschont auch sich selbst nicht, macht sich Gedanken über ihren Anteil an seinem frühen Tod. In herzzerreißenden Episoden erzählt sie, wie sich Richard um “Putzi” aka Rosi kümmerte. Das Kind war ihm von einer wildfremden Frau, Kitti, anvertraut worden und er behandelte sie wie sein eigene Tochter. Eines Winters wird sein Hund, Schamasch, von einem Jäger erschossen und Kitti stürmt mit zwei Henkern seine Wohnung, um ihm Putzi wieder wegzunehmen. Zu dieser Zeit hat Richard zwar eine Freundin, Tanja, die ihn noch fünf Jahre auffangen kann, aber dann geschieht doch das Unvermeidliche. Nach seiner Mutter, Schamasch nun der dritte Verlust. Das kann einen Menschen für immer knicken. Richard entscheidet das “für immer”. Niemand sonst hat schuld.

Löwenherz: Liebe und Angst

Wie soll man mit so einem Verlust umgehen? Mit den Schuldgefühlen, den Versäumnissen, den Vorwürfen? Am schlimmsten wiegt eine ihrer Erinnerungen, als ihr einfällt, dass Richard ihrer Schwester und ihr einmal als Baby vom Wickeltisch gerollt war. Das Geräusch klang noch nach als Richard längst erwachsen war. Aber die Folgen des Sturzes könnten seine autistische Art erklären, denn Richard kann sich nicht mitteilen oder erfindet einfach Geschichten. Ein “Schmähtandler”, Gschichtldrucker. Münchhausen, Luftikus. “Was herrscht für ein Zustand, wenn einer den letzten Knopf zuhat, aber trotzdem keine Krawatte?” frägt sie sich. Vielleicht bringt es dieser Satz auf den Punkt, was Richard ausmachte. Liebe und Angst gehören zusammen, heißt es an einer Stelle, “die eine befördert die andere, die andere verdirbt die eine”. Die Liebe zu Putzi hielt ihn aufrecht, den Richard, aber die Enteignung dieser Lieber war wohl zu viel für sein schwaches Herz. Monika Helfer beschreibt das Leben ihres Bruders, als wäre man selbst dabei gewesen. “Löwenherz” ist ein Buch, das einen in den Sessel drückt und weiterlesen lässt, bis es leider zu Ende ist. Vielleicht ist Bücher schreiben nicht die einzige Möglichkeit ein Trauma aufzuarbeiten, aber wohl die nachhaltigste. Denn so hilft es auch anderen.

Monika Helfer
Löwenherz. Roman
2023, 2. Auflage, 192 Seiten, Format: 11,5 x 19,0 cm
ISBN: 978-3-423-14879-5
dtv
12€


Genre: Biographien, Roman
Illustrated by dtv München

Das Totenschiff

Der Diogenes Verlag gibt einige der Bücher des geheimnisumwitterten B. Traven neu heraus. Eines davon ist “Das Totenschiff” mit einem Nachwort des Krimiautors Volker Kutscher. “Darum soll der schöpferische Mensch keine andere Biografie haben als seine Werke”, zitiert Kutscher Traven, der gleichzeitig weltberühmt und dennoch zeitlebens unbekannt war. Denn keiner kannte seine wahre Identität.

B. Traven: Aufregende Biografie

“Das Abenteuer jeglicher Romantik entkleidet”, so beschreibt Kutscher B. Traven’s Roman im Nachwort der vorliegenden Ausgabe. B. Traven (1882–1969), der bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig war, beteiligte sich an der Münchner Räterepublik von 1919. Nach deren viel zu schnellen Ende wurde er selbst zum Verfolgten, obwohl er laut einigen Hinweisen der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau (und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde) war. Nach seiner abenteuerlichen Flucht nach Mexiko schrieb er 12 Bücher und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden auch verfilmt, etwa “Der Schatz der Sierra Madre” (das Buch ist ebenfalls bei Diogenes in einer Neuauflage erhältlich) oder das eben “Das Totenschiff”. 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.

Totenschiff: Roman ohne Wiederkehr

In “Das Totenschiff” hat B.Traven die Erfahrungen des amerikanische Seemanns Gales niedergeschrieben, die einer Höllenwanderung in Dantes Inferno gleichen. Gales verpasst in den Kneipen Antwerpens sein Schiff, auf dem sich sein einziges Identitätsdokument befindet. Dadurch wird er zum Staatenlosen und seine Odyssee beginnt. Über mehrere europäische Landesgrenzen abgeschoben landet er schließlich in Barcelona und heuert auf dem Schiff “Yorikke” an. Das Schiff hat eine illegale Ladung und Besatzung und zudem höllische Arbeitsbedingungen. Das besondere an diesem Roman B.Travens ist aber nicht nur die Handlung, sondern vor allem die Sprache mit der er sich auf die Seite der Ausgebeuteten und Ausgeplünderten schlägt. Wenn das Schiff, das die Heimat des Seemanns einfach ohne ihn wegfährt, “dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende Gefühl des Überflüssigseins”, schreibt er. Aber die eigentliche Tortur ist nicht dieses Gefühl, sondern die Verzweiflung in der er sich der Yorikke unterordnet, wo er als Kohleschlepper malocht. Die Beschreibung dieser Arbeit ist so plastisch, dass man sich selbst im Purgatorium Dantes wähnt. Aber auch der gleichzeitig dabei transportierte Witz und die ehrliche, schnörkellose Sprache erinnern an andere Meister des Genres. Gleichzeitig strahlt aber auch eine alles durchdringende Lebensfreude durch B.Travens Zeilen, die einzigartig ist. Mit viel Sympathie für die Verlorenen dieser Welt und Weisheit to go: “Aus Liebe kann nicht nur Hass werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden.

Weitere Werke von B. Trafen im Diogenes Verlag: Der Schatz der Sierra Madre, Die weiße Rose, Die Baumwollpflücker, Die Brücke im Dschungel, Der Marsch ins Reich der Caoba, u.v.a.m.

B. Traven
Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
2023, Hardcover Leinen, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Stimmen im Wald

Nach welchem ausgeklügelten Prinzip wählt man als literaturbegeisterter Vielleser sein nächstes Buch aus? Man sitzt in einer Bäckerei in Kapstadt, entdeckt im Buchregal ein Taschenbuch mit deutschem Titel, nimmt es aus Langeweile einfach mal in die Hand, entdeckt auf der ersten Innenseite eine handschriftliche Widmung des Autors für Hannelore und Hartmut, et voilà – der neue Lesestoff ist gefunden. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane, Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Nachtfrauen

Nachtfrauen. Die beiden Geschwister Mira und Stanko stehen vor einer herausfordernden Aufgabe. Ihre Mutter ist alt und soll auf den Auszug aus ihrem Haus im kärntnerischen Jaundorf vorbereitet werden. Da weder Mira noch Stanko sich um sie kümmern können, wird es für die alte Dame zu gefährlich alleine zu leben.

Nachtfrauen: Verzeihen und Vergeben

Du wirst dich um Mutter kümmern müssen“, sagt ihr Bruder zu ihr. Aber Mira ist längst aus der Enge des Dorfes in die Weite der Großstadt Wien gezogen, wo sie einen Mann und eine Arbeit hat. Sie kann also gar nicht zurückkommen und sie will es auch nicht. Zwischen ihrer Mutter Anni und ihr bestehen immer noch Differenzen, die nun endlich durch einen neuen Besuch beseitigt werden könnten. So packt sie also ihre Koffer und reist zurück ins “Innere ihrer Kindheit“, wie sie sagt: “Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben“.

Heimat und Sprache

Wenn sie ihr Dorf besucht, erwarten sie die üblichen Vorwürfe, die jeden “Abtrünnigen” treffen, der sich aufmachte, um ein anderes Leben in der Fremde zu finden. Weggehen kann schließlich jeder, das Schwierige ist doch zu bleiben. Sobald sie sich der Jauntalebene näherte, veränderte sich auch ihre Sprache und ihre Haltung, denn der slowenische Dialekt, den sie in Wien nie benutzt, bestimmt nun auch ihr Denken und Handeln. Die Sprache ihrer Kindheit ist auch die Sprache ihrer Verluste, “über die Mira sich selbst nicht recht im Klaren war“. Eine davon ist ihre Jugendliebe Jurij, dem sie prompt in Jaundorf begegnet.

Schweigen (Klage), Geheimnis (Tat)

Einen interessanten Zugang findet Mira auch zur Wahrheit: “(…) dass es vielleicht besser ist angelogen zu werden, nicht die Wahrheit zu wissen. Wir wollen den anderen immer nackt vor uns sehen, nackt und durchschaubar, das ist doch demütigend, es geht doch darum, miteinander auszukommen oder nicht?”, stellt sie Jurij die Frage der Fragen. Auch er, der bewusst Slowene ist, hat darauf eine Antwort. Denn lange galt die Zweisprachigkeit der Region als Makel, auch darüber schreibt Maja Haderlap im ersten Teil ihres Romans Nachtfrauen, der von drei Generationen Frauen erzählt. Der erste ist ganz Mira gewidmet, der zweite, kürzere Agnes und Anni, also Großmutter und Mutter. Der erste Teil ist eine Erzählung und ein Dilemma, wie es nicht besser formuliert werden könnte. Denn das Zerwürfnis mit ihrer Mutter beruht auf einem Unfall bei dem ihr Vater zu Tode kam.

Bedrängte (Nacht-)Frauen

Dieses Unglück schwelte lange zwischen ihrer Mutter und ihr und vergiftete die Beziehung, dabei war sie damals noch ein Kind und konnte gar nichts dafür, was geschah. Schuldgefühle waren es vielleicht auch, die Mira nach Wien vertrieben, aber immerhin war sie auch die erste Frau, die ihr Dorf verließ. Das tat sie auch für die anderen Frauen, die, die zurückblieben. Denn die alleinstehenden Frauen in Jaundorf litten am meisten unter den zudringlichen Händen der Männer. Aber damals galt die Schweigsamkeit einer Frau noch als noble Eigenschaft und so beschloss auch sie, lieber zu schweigen. Ein Schweigen, das vielleicht mit diesem Roman durchbrochen wird. Stellvertretend für all die Schweigenden.

Ein Roman über Zugehörigkeit, Erinnerungen, Verlust und Entscheidungen, die das Leben beeinflussen. Aber auch ein Roman, der Mut macht, darüber zu sprechen, was unaussprechlich ist.

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / Železna Kapla (Kärnten) geboren. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt Engel des Vergessens 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021. Nachtfrauen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag und stand auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2023.

Maja Haderlap
Nachtfrauen. Roman
2023, fester Einband mit Schutzumschlag, 294 Seiten
ISBN: 978-3-518-43133-7
Suhrkamp Verlag
24,00 €


Genre: Biographie, Frauen, Frauengeschichte, Roman, Slowenen, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Content

Content. “Ich schaue aus dem Fenster. Menschen schwimmen auf Schlauchbooten vorbei.” Der sechste Roman des Jungautors, Poetry Slammers und Musikers Elias Hirschl und sein zweiter beim Zsolnay Verlag. Der Vorgänger, “Salonfähig”, machte ihn über Nacht “weltberühmt in Wien“, da er so ca. haargenau das Leben und Milieu eines österreichischen Spitzenpolitikers beschrieb noch bevor dieser wirklich öffentlich bekannt war. Ob Hirschl mit Content eine ebenso prophetische Gabe an den Tag legt, wird wohl die Zukunft weisen, denn bei Content handelt es sich um eine Dystopie: “Kein Gas mehr, kein Strom mehr. Kein Internet mehr. Kein Leben mehr. Das ist niemand mehr. Keine Menschen. Kein Boden. Keine Luft.” Zumindest eine Dystopie für die ChatGPT-Generation…

Content-Farm Smile Smile Inc.

In dieser Zukunft, der Zukunft des Romans, geht nichts weniger als die Welt unter. Aber es ist nicht weiter tragisch, weil die handelnden Personen ohnehin ihr Second Life als Avatare im WWW haben. So auch die namenlose Protagonistin des Romans, die für die Content-Farm Smile Smile Inc. arbeitet und sinn­befreite Listen-Artikel, die Clicks generieren sollen (“Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!”), schreibt. Vielleicht hat Hirschl sogar schon seine Prophetengabe auch mit diesem Roman bewiesen, denn tatsächlich geht es schon um die Generation ChatGPT noch bevor sich diese wirklich generiert hat oder existiert oder formiert. “Politisch, prophetisch und zumindest so lange lustig, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt“, ist wohl die treffendste Beschreibung eines Verlagstextes zur Bewerbung eines Buches, die ich je las.

Form follows function

Denn die Listicles, YouTube-Videos, ChatGPTs, die Hirschl verfasst, entbehren – natürlich absichtlich – genau jenen Contents, nach dem der Roman benannt ist. Wer allerdings nach einer klassischen Handlung in diesem Roman sucht, sucht vergeblich, denn Hirschl springt in seinen Beschreibungen beinahe so auf dem Bildschirm herum, wie wir user, wenn wir durch das WWW surfen. Insofern kann man hier schon sagen: form follows function. Dass die namenlose Protagonistin den ganzen Text hindurch nur eine Zeile aus Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften” zu lesen bekommt, ist vielleicht ein Synonym. Denn ebenso unverständlich wie diese Zeile für sie ist, wäre für Musil wohl ein Text von ChatGPT gewesen. Ihm hätte wohl einfach die Seele gefehlt.

Bot ohne Eigenschaften

Hirschl ist aber so eine Seele, denn er hat einen Roman für seine Generation geschrieben ohne ein Teil dieser Generation sein zu wollen. Das hat auch schon mal ein gewisser Bob Dylan abgelehnt. Aber unweigerlich wird Hirschl zum Sprachrohr seiner Generation, die mit gerade mal dreißig Jahren schon mehr in der Welt rumgekommen ist, als andere in der Pension. Mit dem Finger auf der Landkarte: das World Wide Web ist weit und die Geduld endenwollend. Der Cursor springt weiter, die Maus wird geknautscht (RSI-Syndrom). Das Lokalkolorit für seinen Roman fand der Autor übrigens in der Kohle- und Bergbauregion NRWs, er war dort Dortmund-Stadtschreiber. Bei einem Erdbeben (!) fährt die Protagonistin mit einem Lift so tief in die Grubenschächte, dass man es tatsächlich als Tiefgang bezeichnen kann: den Dingen auf den Grund gehen. Dazwischen zitiert Hirschl natürlich immer wieder die Listen seiner Protagonistin und kommt mit ihr am Ende zu einer buddhistischen Fazit-Liste (Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!).

Kurzum: Hirschl hat sich einen Spaß gemacht und nimmt uns alle auf den Arm oder ist es vielmehr der Alias seiner Protagonistin im Internet, die sogar heiratet und schließlich stirbt? Ein Gastauftritt Ryan Goslings und die langerwartete Erklärung, was ein(e) IKM- Schreiber(in) so macht, sollte man schließlich ebensowenig verpassen, wie die Einträge seines eigenen Bot auf insta. Aber Achtung: das Captcha-Lösen dürfte ziemlich knifflig werden. “Die Aufgabe, ob sie ein Bot war oder nicht, wurde selbst von einem Bot angefertigt.

Elias Hirschl
Content. Roman
2024, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-552-07386-9
Zsolnay
D: 23,00 € Ö: 23,70 €


Genre: Generation, Roman, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Zsolnay Wien

Die einzige Frau im Raum

Die einzige Frau im Raum. In der Reihe “Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte” sind von derselben Autorin schon Biografien zu Lady Churchill, Mrs Agatha Christie, Frau Einstein u.a. erschienen. In vorliegendem Briefroman erzählt sie die Geschichte der Schauspielerin und Erfinderin Hedwig Eva Maria Kiesler besser bekannt als Hedy Lamarr.

Ikone der Frauenbewegung

“Lady Bluetooth” wurde sie in einer Ausstellung, die ihrem Lebenswerk gewidmet war, genannt. Ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten George Antheil wurde mit dem Ergebnis frequency hopping gesegnet. Dieses frequency hopping stellte die Grundlage für das heutige wifi zur Verfügung. Lamarr wollte es während des Krieges auch der US-Armee zur Verfügung stellen, um Torpedos abzuwehren, allein, die amerikanischen Betonköpfe waren nicht intelligent genug das Potential ihrer Erfindung zu erkennen. Und so ging Hedy Lamarr vorerst als “schönste Frau der Filmgeschichte” in die Annalen ein, bis sich findige Journalist:innen mit ihrem Vermächtnis genauer auseinandersetzten. Ein Ergebnis war auch der Film “Calling Hedy Lamas”, der in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Anthony Lauder entstanden war. Oder später auch “Bombshell”, eine Dokumentation über ihre beiden Karrieren vom ersten Nacktmodell der Filmgeschichte zur Ikone der Frauenbewegung als Erfinderin.

Hedy Lamarr Forever

Marie Benedict widmet sich Hedy Lamarr, die durch ihre Heirat mit einem österreichischen Waffenhändler Zugriff auf die Pläne des Dritten Reichs erlangte. Ein Wissen, das sie später nutzte, um an der Seite der Alliierten zu kämpfen. Im Jahr 1937 verließ sie ihren gewalttätigen Ehemann und floh über Paris und London nach Hollywood. Dort wurde sie zu Hedy Lamarr, dem weltberühmten Filmstar. Was keiner wusste: Sie war Erfinderin. Und sie hatte eine Idee, die dem Land helfen könnte, die Nazis zu bekämpfen und die moderne Kommunikation zu revolutionieren. Wenn ihr nur jemand zugehört hätte. Der Hype um die schönste Frau der Welt mit Köpfchen reißt also auch mit diesem Briefroman nicht ab. Denn nach einem nach ihr benannten Wissenschaftspreis, einem Theaterstück von Peter Turrini, einem Song von Johnny Depp über sie, zwei Dokumentationen, einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, was kann da noch kommen? Als Ikone der Popkultur gilt sie übrigens auch spätestens nach der Adaptation als Catwoman in der Comicwelt, wie alte Zeichnungen beweisen. Auch Anne Hathaway berief sich auf Lamarr für ihre Interpretation von Catwoman. Oder Disney’s Snow White? Was kann da also noch kommen? Naja, vielleicht das WonderWoman Hedy Lamarr spielt? Sehen Sie hier selbst!

Marie Benedict
Die einzige Frau im Raum. Roman
Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte, Band 4
Übersetzt von: Marieke Heimburger
2023, KiWi-Paperback, 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2
Kiepenheuer & Witsch


Genre: Biographie, Briefe, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin

Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. “Iowa” – Sargnagels drittes Buch – ist derzeit in aller Munde. Nach “Statusmeldungen” (2018, bei Rowohlt) schrieb sie die ebenfalls sehr autobiographischen “Aufzeichnungen einer Tagediebin”, kurz: Dicht. Aber “dicht” ist nicht nur ein durch Drogen oder Alkohol beeinflusster Zustand der Selbstaufgabe oder -erkenntnis, sondern auch der Stil der Neu-Autorin.

“Dicht”: Vom Feinsten

Gute Beobachtungsgabe, treffende Beschreibungen und herrlich absurde Dialoge im Wiener Regiolekt oder Soziolekt beschreiben ihren ersten Roman, der ganz dem (zu kurzen) Leben eines Freundes gewidmet ist: Michi. Seine Einzimmerwohnung im an und für sich gutbürgerlichen 18. Wiener Gemeindebezirk ist der Zufluchtsort für allerlei Gestalten aus dem Wiener Dranklermilieu, Drugs inklusive. Auch die junge Stefanie findet dort Schutz vor den Zumutungen der Welt, wie der etwas faden Schule oder dem zielorientierten Elternhaus. Ihre Eltern leben zwar in Trennung, aber natürlich haben sie klare Vorstellungen, was ihre Tochter einmal machen soll. Erstmal Matura, dann studieren. Schließlich sollte sie es einmal besser haben, das wünschen sich ja alle Eltern. Und dazu gehört nun einmal vor allem Bildung.

“Nie wieder Faschiertes”!

Aber die junge Stefanie hatte erstmal gar keine Lust auf Schule und Autoritäten und vertrieb sich ihre Zeit lieber im nahegelegenen Votivpark und hing dort mit jenen Leuten ab, die andere in ihrem Alter wohl eher mieden. Mit ihrer Freundin Sarah zieht sie wie schon andere Flaneure durch das Wiener Nachtleben der morgendlichen Tagediebe und entflieht so vor der Verantwortung. Derweil kocht ihnen Michi etwas Geklautes aus dem Supermarkt, “vom Feinsten”, wie er nicht müde wird zu betonen. Mit “Wir motivierten einander dazu, uns nicht leicht beeindrucken zu lassen, und bestätigten uns darin, einfach alles kapiert zu haben” erklärt sie ihre gegenseitige Freundschaft. Von Michi und seinen Freunden lernt sie, dass unterschiedliche Lebensentwürfe auch ihre Berechtigung haben, solange sie auch freiwillig gewählt werden, was natürlich nicht immer der Fall ist. Viele der Dropouts, die sie auf den Streifzügen durch das Wien der Nullerjahre kennenlernt, sind entweder psychisch krank oder drogensüchtig oder beides. Ein atmosphärisch schlecht gewählter LSD-Trip rettet ihr vielleicht das Leben.

Aufzeichnungen aus dem (Wiener) Untergrund

Denn durch ihn hört sie auf zu kiffen und beginnt zu saufen. Das lässt sich dann besser mit schreiben und zeichnen vereinbaren und so wird sie die, die sie heute ist: Stefanie Sargnagel. In einer beeindruckend lässigen und unaufgeregten Sprache erzählt sie vom Erwachsenwerden, der sog. Adoleszenz, und ihrer eigenen Bewusstseinserweiterung: Zeichnen, das war das, was sie eigentlich machen wollte. “Alles was ich wollte, war zeichnen. Das Zeichen hielt mich während des Unterrichts am Leben, neben der Aussicht auf die Nachmittage.” Nach einem Einbruch auf der heute in die Schlagzeilen gekommene Baustelle des Lamarr-Kaufhauses in Wien beginnt für Stefanie eine gelungene Resozialisierung, die plötzlich einen Plan für ihr Leben hat. An der renommierten und gutbürgerlichen Akademie der Bildenden Künsten wird sie auch ohne Matura aufgenommen und ein neues Leben beginnt.

Heute lebt sie als Kartoonistin und Autorin immer noch in Wien und wird von einer Talkshow zur anderen gereicht, dreht einen Doku-Spielfilm, schreibt weiter Statusmeldungen, etc. Ein geradezu dichtes Programm, wie sie sich schon bei Stegmann/Grissemann live beschwerte. Stefanie Sargnagel hat ihr Phlegma erfolgreich kultiviert und liebevoll literarisiert. Sie hat sich selbst als eine “authentische Kunstfigur erschaffen, in die man sich nur verlieben kann“.

Stefanie Sargnagel
Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin
2021, Softcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-499-27483-1
Rowohlt Taschenbuch


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Turbulenzen

Mutter Kanadierin, Vater Ungar, geboren in Montreal, aufgewachsen in London, Literaturstudium in Oxford, viele Jahre wohnhaft in Budapest – das sind die passenden kosmopolitischen Voraussetzungen, die der 49jährige Schriftsteller David Szalay mitbringt, um einen global vernetzten Roman wie „Turbulenzen“ zu schreiben.

Das Grundprinzip unterschiedlichster Schauplätze rund um die Welt hat Szalay bereits in seinem Werk „Was ein Mann ist“ sehr erfolgreich umgesetzt, was ihm für jenes Buch 2016 zurecht eine Nominierung auf der Shortlist des „Man Booker Prize“ einbrachte.

In „Turbulenzen“ nimmt Szalay diesen Modus noch konsequenter wieder auf. Man erwirbt mit dem Buch sozusagen ein Round-the-world-Ticket. Die einzelnen Kapitel bestehen aus ineinandergreifenden Flugstrecken, die zugehörigen Titel bestehen einzig und allein aus den internationalen IATA-Codes der Airports, eine Herausforderung für alle Vielreisenden. Oder hätten Sie spontan gewusst, von wo nach wo es bei GRU – YYZ geht?

Doch das sind nur die formalen Rahmenbedingungen. Eigentlich stellt jedes Kapitel eine eigene Kurzgeschichte dar, allerdings hat Szalay diese genial ineinander verwoben, indem sich immer neue menschliche Schicksale entlang dieser Flugetappen rund um die Welt aus der vorhergehenden Geschichte ergeben. Eine Randfigur in dem einen Kapitel wird plötzlich zur Hauptprotagonistin im nächsten.

Mit präziser, adäquater Sprache, eindrucksvollen, aber nie schwülstigen Bildern gewährt der Autor Einblicke in unterschiedlichste Leben und Kulturen rund um den Globus. Durch den kontinuierlichen Wechsel der Hauptfiguren vollzieht sich immer wieder ein für den Leser erstaunlicher Perspektivenwechsel. Eine literarische Technik, durch die es Szalay gelingt, die Ambivalenz einer Figur messerscharf und lebensecht herauszuarbeiten. Da ist der indische Ehemann gerade noch der gewalttätige Tyrann seiner Familie, erscheint dann aber im Folgekapitel plötzlich in einem ganz neuen Licht, wenn man plötzlich erfährt, dass auch er Opfer gesellschaftlicher Konventionen ist.

Obwohl sein Schreibstil sehr eingängig und leicht ist, macht es der Autor seinen Lesern inhaltlich nicht einfach. Er stellt Themen unserer Zeit in den Fokus und fasst dabei zuverlässig in offene Zeitgeist-Wunden. Wie reagiert die Familie auf ein behindertes Neugeborenes? Wie geht man offen mit einer neuentdeckten Liebe um, die die Ehe im höheren Alter gefährdet? Was ist, wenn man bei der Heimkehr spürt, dass in der heilen Familienwelt etwas Furchtbares passiert sein muss, aber die Gewissheit sich erst ganz langsam ins Bewusstsein schleicht? Da wirkt eine leichte Episode wie das Tinder-Date eines Piloten zwischen zwei Flügen trotz der durchaus psychoanalytisch interessanten zwischenmenschlichen Interaktion fast schon lapidar.

Durch sein literarisch innovatives Konzept nimmt David Szalay einen mit auf eine Reise um die Welt, die in London beginnt und dort auch wieder endet. Szalay schreibt sehr fliessend, ist angenehm zu lesen, baut aber nach kurzer Zeit diese verheissungsvolle Spannung auf, weil er in seinen Stories unberechenbar ist. So wie das echte Leben auch. Eben voller Turbulenzen.


Genre: Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Reisen, Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Kurzes Buch, kurze Rezension. Wer sich eine Kurz-Version von „Liebe in Zeiten der Cholera“ für ganz Eilige vorstellt, liegt richtig und hat den Inhalt der etwa 95 Seiten schon weitgehend erfasst. Ein über achtzigjähriger Italiener kehrt zu seiner gleichaltrigen Geliebten aus Jugendzeiten nach Apulien zurück. Er hat ein stoisch langweiliges Leben als Apfelpflücker und Melker in Südtirol verbracht. Sie vergnügte sich lange Zeit mit anderen Bekanntschaften, bis sie nach sechs Jahrzehnten merkt, dass sie ihn wohl irgendwie vermisst. Schliesslich erreicht ihn ein Brief von ihr, er kehrt zu ihr zurück. Am Bahnhof von Lecce steht man sich nach mehr als 60 Jahren wieder gegenüber.

Titel und Inhaltsangabe des Mare-Verlages verheißen ein kurzweiliges Urlaubsbuch. Leider ist jedoch ein romatisch-sentimentaler Roman herausgekommen, teilweise mit depressiven Tendenzen. Wenn man sein Bild im Abspann des Buches sieht, kann man sich beim Lesen sehr gut vorstellen, wie der indisch-niederländische Autor van der Kwast mit großen, tränennassen Basset-Augen vor seiner Tastatur sitzt und schluchzend mit seinen eigenen Protagonisten dahin schmachtet. Dabei kann man ihm ein gewisses Maß an Wortgewandtheit gar nicht absprechen, allerdings driften kurze literarische Highlights zu oft wieder ab in eine schwülstige Schwere. Pluspunkte sammelt van der Kwast ein wenig dadurch, dass er doch nicht in alle Klischee-Fallen tappt und Giovanna, die weibliche Hauptdarstellerin, ein für die frühen fünfziger Jahre fast schon emanzipiertes und feministisches Leben führen lässt. Man muss sich ansonsten beim Lesen stetig zügeln, um nicht die Logik und Sinnhaftigkeit der Handlung und des Verhaltens zu hinterfragen. Aber gut, es mag Menschen geben, die sechzig Jahre ihres Leben ungenutzt verstreichen lassen, einfach verschenken. Stellt man sich das in der Realität vor, wird ungläubiges Kopfschütteln über das Buch möglicherweise in einen Frust über das menschliche Dasein umgelenkt.

In Summe hat sich van der Kwast bemüht, hat sicher auch ein gewisses Talent für tragisch-blumige Literatur, aber letztendlich reichte es nur zu einem Liebesroman auf leicht höherem Niveau. In etwa fünf Viertelstunden ist man durch.


Genre: Graphic Novel, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Die spürst Du nicht

Der leidige Fluch des Erfolges. Der österreichische Autor Daniel Glattauer landete 2006 einen Megahit. Mit seinem Roman „Gut gegen Nordwind“ stürmte er die Bestsellerlisten und wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Theateraufführung und Verfilmung waren unausweichlich. Das prägnante Merkmal dieses Überflieger-Romans war, dass die beiden Protagonisten die Story dadurch entwickelten, dass die Konversation einzig und allein über E-Mails erfolgte. Eine grandiose Idee. Literarisch perfekt umgesetzt.

In „Die spürst Du nicht“ spüren zwar die Romanfiguren manches nicht, die Leser dieses Buches spüren jedoch ganz deutlich, dass Glattauer wieder experimentiert. Vielleicht steckt in dem Österreicher ein bisserl was von seinem Landsmann Wolf Haas, der neben seiner erfolgreichen Brenner-Krimi-Reihe gerne einmal innovative Wege geht, indem er beispielsweise dem Leser in seinem Buch „Verteidigung der Missionarsstellung“ die Chance zum Querlesen gibt, indem er Zeilen wirklich quer über das Papier laufen lässt. Aber nein, das sonstige Schaffensrepertoire von Glattauer spricht gegen diese Annahme. Also drängt sich der Verdacht auf, dass mit „Die spürst Du nicht“ der schon etwas verzweifelte Versuch eines Autors vorliegt, mit neuen, aber irgendwie doch wiederum vergleichbaren Stilmitteln einen Follow-up-Roman zu konstruieren.

Herausgekommen ist eine stilistische Mixtur aus Fließtexten, Dialogen, Interviews, Presseveröffentlichungen, Social Media-Postings inklusive Kommentaren der Internetgemeinde und Fotografie-Shots, wobei Glattauer bzw. seinem Lektorat ein kleiner technischer Fehler unterläuft, indem die Foto-Beschreibungen keine Standbilder, sondern bewegte Szenen beinhalten. Unbedeutendes Detail am Rande.

Was den Inhalt anbelangt ist es wie mit den Stilmitteln – fleißig bemüht, aber zu viel gewollt.

Zwei wohlhabende österreichische Familien nehmen gegen den anfänglichen Widerstand der afrikanischen Eltern die Tochter einer somalischen Migrantenfamilie mit in den Toskana-Urlaub. Das unscheinbare und ruhige Mädchen ertrinkt im Pool. In einem  – wegen der politischen Prominenz einer der beiden Mütter sehr öffentlichkeitswirksamen Prozess werden Schuldfrage und Trauerschmerzensgeld wegen Schockschaden verhandelt.

In diesen Rahmen presst der Autor Themen wie Politikethos, Ehekrisen, Fremdgehen, das unmerkliche Abgleiten einer Tochter in die Drogensucht durch eine Internet-Bekanntschaft und natürlich dem Zeitgeist folgend die Darstellung eines erschütternden Migrantenschicksals. Glattauer springt auf alle Trends der Zeit auf, gibt aber keinem Thema den Raum und die Tiefe, die jedes einzelne verdient hätte, indem er fortlaufend Komplexitätsreduktion betreibt. Dadurch sind viele Handlungsstränge eher naive Malerei, welche unserer diffizilen Realität nicht gerecht wird. Daran ändern auch die Stil-Collage nichts. Hinzu kommt, dass man überall seinen erhobenen Zeigefinger zu spüren scheint. Aber leider bleibt es bei der oberflächlich-moralisierenden Geste im Sinne eines Virtue Signalling, womit Glattauer wiederum voll im Trend liegt.

Daniel Glattauer ist ein Profi, an dessen handwerklich fundiertem Können nichts auszusetzen ist. Er kann Menschen abholen, allerdings geschieht dies in „Die spürst Du nicht“ inhaltlich und stilistisch recht effekthascherisch. Man wünscht sich, dass er zurückkehrt zu einer Schaffenskraft, die zum Beispiel „Ewig Dein“ hervorgebracht hat. Davon bitte mehr.


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

Blutbuch

Merkwürdig fand ich den Autor, als er sich bei der Verleihung des deutschen Buchpreises 2022 als Zeichen der Solidarität mit den iranischen Frauen seine kinnlangen Haare kürzte—wie empfanden das wohl die iranischen Frauen?

Die Neugier überwog, als alte weiße Frau wollte ich mehr von jungen Menschen hören, die sich ihr Geschlecht selbst aussuchen. Und war von Anfang an gefesselt: hier wird geschrieben, immer neugierig, immer originell, wie gedacht wird, (und er denkt über Vieles nach!) mit englischen Einschüben, mal auch Französisch. Von seinen Beobachtungen, Gedanken und Gefühlen in Kindheit, Jugend, und jetzt, als junger Erwachsener.

Wir verstehen nach und nach, dass er seine Familiengeschichte aus weiblicher Sicht aufarbeitet, vom Vater lesen wir gleich im zweiten Absatz des Prologs, dass er „die Schwere“, wenn er von der Arbeit heimkam, ins Haus schleppte, „wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch.“

Die Familiengeschichte geht aus von der Blutbuche, die vom Urgroßvater gepflanzt, im Hofe steht. Als Kind sieht er eine verzauberte Natur, denkt sich Märchen aus, als Erwachsener will er recherchieren, wie die im Hof stehende Blutbuche, die der Großvater sehr schätzte, beschaffen ist. Auch bei seinen tagelangen Studien sieht er, dass es „alles boys“ waren, die die Natur vor Allem kategorisierten. Und dann zeigt die Großmutter ihm den Stammbaum der Familie, er merkt, dass es ja nur die männlichen Vorfahren sind, die aufgeschrieben wurden.

Er widmet das Buch „Für meine Meere“, das ist Mutter in Berndeutsch, noch von der Zeit, als die Schweiz von Napoleon besetzt worden war. Meine Frage an alle, die Berndeutsch verstehen: Ist das Plural und er meint auch die Grossmeer?

Der Anlass zum Schreiben ist die zunehmende Vergesslichkeit der Oma, und er versucht, sich an die vielen Begegnungen zu erinnern. „Liebe Großmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus deinem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.“

Es geht um das „Es“, die vielen Dinge, die nie ausgesprochen wurden, die er aber erinnert, und weil sie ihm als Kind merkwürdig schienen, merkte er sie sich und sucht und findet nun Zusammenhänge und Begründungen. Von der Grossmeer erinnert er alles, und versteht sie immer besser, er wirft ihr nichts vor, auch nicht, dass sie sich nicht gut mit seiner Mutter verstand. Von ihr wissen wir erst nur, dass sie die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als sie mit ihm schwanger war und auch mal eine Geliebte hatte. Spannend wird es dann, als er entdeckt, dass seine Mutter, die ja wegen seiner Geburt keinen akademischen Schulabschluss hat, die Geschichte der Frauen um viele Jahrhunderte erforscht hat und aufgeschrieben hat.

Dazwischen schiebt er immer Details seiner erotischen Eroberungen ein, auch wie er sich selbst gerne ficken lässt, mit einer Inbrunst, auf die Michel Houellebecq neidisch werden könnte.  Eine Zeit lang war er schwul, jetzt non-binär, ständig auf der Suche nach Sexualpartnern ist er immer noch. Und er ordnet „seine frühen Zwanziger kurz kulturhistorisch ein.“

Dann reflektiert er seine Haltung gegenüber heterosexuellen Machos: “Ihre Penisverlängerung war die Pferdestärke ihres Wagens. Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Bücherregal präsentierte. Wir spuckten auf das ökonomische Kapital, aber leckten das kulturelle Kapital immer gieriger auf“.

Nicht nur der Wortwitz gefällt mir, auch die gleichzeitige Distanz und Akzeptanz zu sich selbst. Als Kinderärztin erleichtert mich besonders: er braucht keine operativen Eingriffe, um sich als nicht-binärer Mensch wohlzufühlen sein Leben und seine Sexualität zu lieben. Achtzig Franken im Monat für „Pharmaka“ und immense Ausgaben für Körperpflege und Kosmetik sind es ihm wert.

Die Frauen im Iran werden sicherlich nie von seinem Buch erfahren. Aber der in Deutschland lebende Navid Kermani hat sein neues Buch so geschrieben, als wäre er eine Frau.

 


Genre: Leben und Lieben als non—binärer Mensch im Patriarchat, Roman
Illustrated by DuMont

Flussgeister

Pantha rei – alles fließt, ist stets in Bewegung und nie in Stein gemeißelt. Das ist der philosophische Grundsatz des Vorsokratikers und Naturphilosophen Heraklit, dem sich die österreichische Autorin Patricia Brooks in ihrem Roman „Flussgeister“ öffnet. In ihm kreuzen sich die Wege zweier Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber an einem Punkt in ihrem Leben angelangt sind, an dem die Gegenwart des einen zum Anker für die Gegenwart des anderen wird.

(K)ein Roman über Midlife-Crisis

Der 47-jährige Anwalt Adam, der mit einer erfolgreichen Karriere und einer attraktiven Freundin gesegnet ist, beschließt aus heiterem Himmel sein Leben umzukrempeln: Seine bisherigen Errungenschaften bedeuten ihm nichts mehr. Von einem alten Fischer kauft er eine Hütte an den Donau-Auen, in die er sich entschlossen zurückzieht. Sein Gemüt lässt sich jedoch nicht als ennui, Überdruss oder Midlife-Crisis bagatellisieren – auch wenn dies naheliegend scheinen mag. Viel mehr kann man es als Wink oder Zeichen deuten, die eigentlichen Potenziale nicht rechtzeitig anerkannt und somit nicht gebührend ausgeschöpft zu haben.

Lolita und Pygmalion als Inspiration für Patricia Brooks „Flussgeister“?

Wäre da nicht Lola, eine von harten Schicksalsschlägen gezeichnete, verrufene sowie unzähmbare Einzelgängerin, deren Handlungen unberechenbarer sind als die Mäander der Donau-Auen. Gerade Lolas – wenn auch nur vermeintliche – Freiheit ist es, die in Adam sein vernachlässigtes Talent – die Bildhauerei – wieder aufkeimen und ihn sein eigenes Atelier eröffnen lässt.

Dabei kann sich der Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass Patricia Brooks Vladimir Nabokovs “Lolita” als Negativfolie für Flussgeister herangezogen hat. (Ferner lägen da vielleicht Frank Wedekinds Lulu-Dramen „Erdgeist“ oder „Büchse der Pandora“). Im Gegensatz zu Humbert Humbert, der Lolitas psychische und körperliche Entwicklung formt und sie wie einen Schmetterling gefangen hält, ist Adam von Lola nicht im erotisch-ästhetischen Sinne samt moralischer Transgression angetan. Wenngleich diese durch ein Kindheitstrauma – die Verführung des Geschäftspartners ihres Vaters als Mutprobe samt dessen Ungnade – den Schutzmantel des Kindlichen nie ganz abgeworfen hat.

Krude Körperlichkeit vs. Künstlerische Plastizität

Die krude Körperlichkeit, die sich die an Eierstockkrebs erkrankte Lola von ihren Freiern und zunächst auch von Adam erhofft, weicht der Plastizität der Flussgeister, die auch die spirituelle Metamorphose der beiden Protagonisten widerspiegelt. Es handelt sich um zwei Skulpturen, die Adam schafft und die ihn und Lola verkörpern –dabei aber gerade die Grenzen des Gegenständlichen transzendieren und beide bis über den Tod hinaus vereint. Eine radikale Umschreibung des profanen Pygmalion-Mythos also, aber auch der biblischen Urszene.

In diesem Sinne lässt sich auch Adams Entschluss nachvollziehen, sein Boot „St. Lola“ zu taufen. Ironischerweise ist diese spirituelle Vereinigung durch Kunst im Falle von Adams Freundin Natalie, die in der Filmbranche berufstätig ist, weniger bis gar nicht gegeben. Es ist denn auch hauptsächlich die körperliche Intimität mit derselbigen, die Adam noch eher in seiner Hütte vermisst und welche Natalie trotz neuer Bekanntschaft noch in Kauf zu nehmen gewillt ist. Zu guter Letzt sieht Adam durch die kindliche Lola auch seine Fehler ein, die ihm bei der Erziehung seines Sohnes Julian unterlaufen sind.

„Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen

Der Roman „Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen, indem er Elemente des Entwicklungs- und Künstlerromans mit leicht esoterischen Tönen übermalt, ohne dabei in das Sentimentale abzugleiten oder sich in poetischen Gefilden zu verlieren. Und das trotz der Fülle zahlreicher aquatischer Metaphern, naturromantischer Landschaftsbeschreibungen oder kurzer Dialoge, die an die ionische Naturphilosophie gemahnen. Patricia Brooks zeichnet sehr menschliche Figuren, blickt tief in deren psychische Abgründe, pathologisiert sie aber nicht.


Genre: Erfahrungen, Kunst, Roman
Illustrated by Septime Verlag Wien

Unendlicher Spass

Dieses Werk ist der Ironman der Literatur. Wer dieses Buch wirklich bis zur letzten Zeile durchgehalten hat, sollte vom Rowohlt-Verlag ein Finisher-T-Shirt zugeschickt bekommen. Mit 1551 Seiten oder 3.486 KB setzt David Foster Wallace alles daran, in Marcel Proust’s Fussstapfen zu treten. Die ganz persönliche Lesezeit betrug ein Jahr. War es eine verlorene Zeit? Machen wir uns auf die Suche. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg