Zama wartet

Latein-amerikanischer Existentialismus

Der bekannteste und im Original 1956 erschienene Roman des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto wurde in verschiedenen Auflagen unter dem Titel «Zama wartet» ins Deutsche übersetzt. Als Wiederentdeckung wurde er in der Buchreihe «Bibliothek der Weltliteratur» des Manesse-Verlags 2009 mit einem kenntnisreichen Nachwort von Roland Spiller versehen und schließlich 2017 durch die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel auch erfolgreich verfilmt. Dieses Buch verweigert sich beharrlich jeder einengenden Zuweisung in eine literarische Gattung. Obwohl Ende des 18ten Jahrhunderts angesiedelt, ist es kein historischer Roman, auch nicht die psychologische Studie eines zum Scheitern verurteilten Karrieristen oder die an Ransmayr erinnernde Geschichte einer desaströsen Expedition in die menschliche Finsternis.

Die mit den Jahreszahlen 1790, 1794 und 1799 überschriebenen drei Abschnitte befassen sich in 50 Kapiteln schwerpunktmäßig jeweils mit einem der im Roman behandelten Themen-Komplexe. Diego de Zama gehört als Justiziar zu den leitenden Beamten von Asunción, er vertritt schon seit mehr als einem Jahr die Krone in dieser spanischen Kolonie, fernab von Frau und Kind. Vergeblich wartet er auf Beförderung oder Versetzung nach Buenos Aires, alle wichtigen Posten in der Verwaltung haben die aus der Heimat entsandten Beamten inne. Als Kreole, als in Argentinien geborener Weißer, hat er da kaum Aufstiegschancen und wird immer wieder mit verlogenen Versprechungen vertröstet. Finanziell lebt er in prekären Verhältnissen, die Gehälter der Angestellten werden oft monatelang nicht ausgezahlt, er kann dann auch seiner Frau kein Geld schicken. Und so wartet Zama Jahr um Jahr, hofft auf ein Schiff mit Briefen von seiner Frau – oder mit seiner Beförderungs-Urkunde! Der eher schüchterne Mann träumt sich zunehmend in Liebesabenteuer mit verschiedenen Frauen hinein, scheitert dabei aber an seinem tölpelhaften Draufgänger-Gehabe. Er verliert jeden Bezug zur Realität und zeugt schließlich einen Sohn mit einer einfachen Frau, die allerdings so gar nicht seinen Träumen entspricht. Als ihm die Leitung einer Strafexpedition übergetragen wird, die den gefürchteten, landesweit gesuchten Verbrecher Vicuña Porto und seine Bande gefangen nehmen soll, erhofft er sich davon den nötigen Karriereschub. Aber die Mission scheitert kläglich, in verlustreichen Scharmützeln mit Indianern werden sie immer mehr dezimiert und scheitern zudem an der wilden Natur. Schließlich erkennt Diego de Zama voller Schreck, dass der Gesuchte, und wohl auch einige Mitglieder seiner Bande, sich unerkannt als Söldner seiner Truppe angeschlossen haben.

In dieser Geschichte vom langsamen Verfall eines Mannes verlagert sich der narrative Status von einem, der als Subjekt das Geschehen beobachtet, zunehmend zu einem, der als Objekt selbst beobachtet wird, sei es von Frauen, von Kollegen oder vom Vermieter seiner bescheidenen Behausung. Die Ich-Form bleibt dabei allerdings bis zuletzt erhalten, nur das Erzählte verschiebt sich immer mehr in den Bereich des Traumes, wird mystisch, existiert nur im Delirium. Verbunden mit diesem Realitätsverlust ist insbesondere die wachsende Erkenntnis des Protagonisten von der eigenen Unfähigkeit, die den Macho mit voller Härte trifft.

Geradlinig und lakonisch erzählend wird hier der Fokus auf das innerlich und äußerlich Wahrnehmbare konzentriert, ohne es ergänzend auch kontemplativ zu würdigen oder gar psychologisch zu deuten. Die Sprache ist karg und wirkt unbeholfen, inhaltlich bleiben zudem alle moralischen oder religiösen Aspekte konsequent ausgeblendet. Ein Untergebener Zamas, der im Dienst beim Schreiben eines Buches erwischt wird, antwortet auf die Frage, warum er überhaupt schreibt: «Ich schreibe, weil ich muss, weil ich das, was ich im Kopf habe, herausbringen muss». Der ästhetisch unbedarfte Protagonist aber verkörpert hier einen latein-amerikanisch gefärbten Existentialismus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Verlobten

Faktenbasierte Horizonterweiterung

Im Jahre 1827 erschien als wegweisendes Werk der Romantik die erste Fassung des Romans «I Promessi Sposi» von Alessandro Manzoni, es wurde auf Anhieb ein Publikumserfolg. Vorbild für den italienischen Schriftsteller war Sir Walter Scott, dem er bei einem Treffen gestand, «dass er sich durchaus als sein Schuldner fühle». Noch im gleichen Jahr ins Deutsche übertragen, folgten dann mehr als ein Dutzend weitere Übersetzungen dieses ersten dem Realismus zuzurechnenden historischen Romans, er gehört unbestrittenen zum Kanon der Weltliteratur. Einst von Goethe hoch gelobt, auch von Reich-Ranicki euphorisch zur Lektüre empfohlen, ist er in Italien als bester Prosa-Klassiker heute noch Pflichtlektüre an höheren Schulen.

«Die Verlobten» ist die Geschichte eines Liebespaares aus einem Dorf am Comer See, das heiraten will. Es beginnt protokollartig: Am 7. November 1628 wird der Dorfpfarrer bei einem abendlichen Spaziergang von Schergen des Lehnsherren aufgefordert, die geplante Hochzeit von Renzo und Lucia keinesfalls vorzunehmen, widrigenfalls ihm Schlimmes drohe. Der brutale Don Rodrigo hat selbst ein Auge auf die schöne Braut geworfen, die Beiden müssen fliehen. Lucia versteckt sich in einem Kloster, Renzo flüchtet nach Mailand. Er gerät dort in einen Volksaufstand wegen der hohen Brotpreise, wird als Aufrührer verhaftet, kann entkommen und findet jenseits der Grenze Unterschlupf bei einem Cousin in Bergamo. Lucia jedoch wird im Auftrag von Don Rodrigo von einem verbrecherischen Feudalherrn auf dessen Ritterburg entführt. Als aber der charismatische Mailänder Erzbischof sich persönlich für sie einsetzt, geschieht die wundersame Bekehrung des grausamen Tyrannen zum christlichen Wohltäter. Er bringt Lucia bei einer wohlhabenden Mailänder Familie in Sicherheit. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges schleppen 1630 marodierende Soldaten dort die Pest ein, verzweifelt macht sich Renzo trotz Haftbefehl auf die Suche nach ihr.

Die in 34 Kapiteln erzählte Geschichte widmet am Ende zwei Kapitel allein der Ausbreitung der Pest in Mailand, fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung fielen ihr zum Opfer. Von der Corona-Pandemie geschädigte Leser werden in dieser exzellenten Darstellung vieles wiederfinden, was heute allenthalben die Schlagzeilen bestimmt. Alessandro Manzoni streut häufig auch eigene Gedanken zu den historischen Ereignissen ein, erläutert die ökonomischen Bedingungen, die zum ‹Mailänder Brotaufstand› geführt haben, oder zitiert aus Dokumenten der Zeit von den erfolglosen Maßnahmen der spanischen Fremdherrscher zur Bekämpfung des Angst und Schrecken verbreitenden Raubrittertums. Mit versteckter Ironie kommentiert er gelegentlich aber auch das fiktionale Geschehen und die allzumenschlichen Motive seiner lebensechten Figuren.

Ein Verdienst dieses berühmten Romans ist zweifellos der Verzicht auf die übliche Heroisierung des Rittertums, die hier vielmehr als Märchen entlarvt wird angesichts des unsäglichen Terrors, mit dem brutale Feudalherren erbarmungslos Tod und Elend verbreitet haben. Insoweit bietet die tragische Geschichte der Verlobten lediglich die narrative Basis für eine umfassende Analyse der komplizierten Stände-Gesellschaft jener Zeit und der nicht minder komplizierten politischen Verhältnisse. Sprachlich hat der Autor mit seinem sozialkritischen Werk Maßstäbe gesetzt für die italienische Literatur Anfang des 19ten Jahrhunderts. Er erzählt seine Geschichte gemächlich, mit üppigen Ausschmückungen und in langen, brillant formulierten Satzgebilden, denen man als Leser genüsslich folgt, – dafür sollte man allerdings die nötige Muße haben. Die damals neuartige Vermischung von historischen Fakten und Fiktion, von Goethe seinerzeit noch beanstandet, ist als literarischer Genretyp seit Sir Walter Scott jedoch fest etabliert. Sie erfreut all jene nach Belesenheit strebenden Buchfreunde, die neben fiktionaler Unterhaltung auch eine faktenbasierte Horizonterweiterung erwarten.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Kopfkissenbuch

Wer erfand eigentlich das Bloggen? Wer war der erste Autor, der Alltagsbegegnungen notierte, kommentierte und für andere zugänglich machte? 

Sei Shõnagon hat ausgezeichnete Chancen auf die Pole Position. Die Hofdame im Dienst der japanischen Kaiserin Sadako notierte nämlich in einem Kopfkissenbuch alles, was sie erlebte und interessierte, von der Hofintrige bis hin zu Geheimnissen aus den Privatgemächern des Kaiserpalastes. Und das geschah bereits vor rund eintausend Jahren!

Jetzt ist erstmals der vollständige Text des Kopfkissenbuchs auf Deutsch zugänglich. Weiterlesen


Genre: Frauenliteratur, Hofdamenliteratur, Tagebücher
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Babbitt

Circulus vitiosus

Der berühmteste Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis, 1922 unter dem Titel «Babbitt» erschienen, hat entscheidend dazu beigetragen, dass ihm 1930 der Nobelpreis verliehen wurde «für seine starke und lebendige Schilderungskunst, nebst dem Talent, mit Witz und Humor Typen zu schaffen». Sein Protagonist ist geradezu der Prototyp des angepassten, selbstzufriedenen Spießers aus dem gehobenen Mittelstand, der in seiner unstillbaren Sucht nach gesellschaftlicher Anerkennung und geschäftlichem Erfolg unter einer gutbürgerlichen Fassade skrupellos seinen persönlichen Vorteil sucht. Damit verkörpert der opportunistische Unsympath geradezu archetypisch den American Way of Life und nimmt zudem, fast hundert Jahre früher, in vielen negativen Aspekten den ersten reinen Geschäftsmann, der zum Präsidenten der USA gewählt wurde, weitsichtig voraus. Dieser jetzt in neuer Übersetzung vorliegende Jahrhundertroman spiegelt die Ambivalenz eines Autors wieder, der über seine Heimat gesagt hat: «Ich liebe dieses Land, aber ich kann es nicht leiden».

Mit scharfem Blick für Details schildert Lewis sehr anschaulich über nicht weniger als ein Viertel des gesamten Textes den akribisch geordneten Tagesablauf von Georges F. Babbitt. Er ist ein cleverer, mit allen Wassern gewaschener, dicker 46jähriger Immobilienmakler mit abgebrochenem Jurastudium, verheiratet, mit drei Kindern, der seine Agentur recht erfolgreich zusammen mit seinem Schwiegervater betreibt. Handlungsort ist die fiktive Stadt Zenith im Landesinneren mit mehr als dreihunderttausend Einwohnern, deren schon im Namen enthaltene Ambition nach immerwährender Prosperität ihrer Stadt die sozialen Missstände der industriellen Revolution ebenso wenig verdecken kann wie die unübersehbare moralische Verwahrlosung im gehobenen Mittelstand seiner Einwohnerschaft, zu dem auch Babbitt geradezu archetypisch gehört. Bei aller Behaglichkeit, mit der sich der unbeirrbare Macho sein Leben eingerichtet hat, ist es gleichzeitig entsetzlich langweilig für ihn, es verläuft nahezu ereignislos und zwingt ihn darüber hinaus familiär, geschäftlich und gesellschaftlich zu ständiger Anpassung. Er startet einige Ausbruchsversuche, – einer aus den Alltagsgeschäften, allein mit seinem besten Freund auf einer Tour in die Wildnis, ein anderer aus der drögen Ehe bei einer kurzzeitigen Geliebten, ein dritter aus dem Ansinnen der Kumpane in seinem Club, sich politisch opportun zu verhalten. Eine Zäsur bahnt sich aber schon vorher an, als sein alter Freund Paul auf seine zänkische Ehefrau schießt und im Gefängnis landet. Ein zweiter Schock aber ist eine plötzlich dringend werdende Blinddarm-Operation seiner Frau, der ihn letztendlich zur Umkehr aus der Rebellion zwingt, – und damit zurück in den Alltagstrott, in dem er sich schließlich aber doch am wohlsten fühlt.

Lewis erzählt seine Geschichte einer missglückten Selbstfindung – voller Sympathie für seinen charakterschwachen, wankelmütigen Helden – mit feiner Ironie und unterlegt dessen laut polternde, prahlerisch selbstgefällige Äußerungen oder Reden zuweilen mit durchaus vernünftigen Gedanken. Überhaupt wird Babbitt, dieser amerikanische Jedermann, dem Leser gegen Ende der Geschichte in dem Maße sympathischer, in dem er selbstkritischer wird, wobei die kumpelhafte Schlussszene mit seinem Sohn nach dessen heimlicher Heirat schon beinahe anrührend wirkt.

Dieser unterhaltsame Roman ist eine ebenso klug konstruierte wie blendend geschriebene Charakterstudie, in der das Diktat der unabänderlichen Realität mit ihren Konventionen auf die desillusionierenden Erkenntnisse eines sinnfrei scheinenden Lebens trifft. Eine Läuterung des Helden aber, eine Katharsis gar, wäre Illusion, denn jede Auflehnung wirft ihn umgehend wieder zurück in den Zwang zur Konformität, ohne die materielles Wohlergehen in der real gegebenen Gesellschaft nicht möglich ist. Als Genussmensch also ist er Gefangener seines eigenen Milieus, ein Circulus vitiosus!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Boston: Sacco und Vanzetti

Boston von Upton Sinclair

Boston 1927: Die Hinrichtung der beiden italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti für einen Raubüberfall, denn sie nicht begangen hatten, rief international ein großes Echo hervor. Aber schon zuvor hatten sich namhafte Intellektuelle für deren Freilassung eingesetzt. Eine internationale Bewegung zur Befreiung der beiden Unschuldigen hatte sich zwischen 1922 und 1927 formiert, aber dennoch wurden sie am 23. August hingerichtet. Erst 50 Jahre später erfuhren sie (sehr) späte Gerechtigkeit durch den Gouverneur von Massachusetts, Michael S. Dukakis: „The trial and execution of Sacco and Vanzetti should serve to remind all civilized people of the constant need to guard against our susceptibility to prejudice, our intolerance of unorthodox ideas, and our failure to defend the rights of persons who are looked upon as strangers in our midst.“

A Contemporary Historical Novel

Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurden zu Sündenböcken der „Bolschewistenpsychose des amerikanischen Bürgertums“ (Albrecht Graf Montgelas) und wurden mehr für ihre politischen Anschauungen und ihre Herkunft verurteilt, als für ein vermeintliches (nicht) begangenes Verbrechen. Die erstmals in der amerikanischen Literaturzeitschrift The Bookman von Februar bis November 1928 erschienene Geschichte von Upton Sinclair mit dem Titel „Boston“ ist genremäßig ein Zwitter zwischen Fiction und literarischer Chronik, der Untertitel des Originals verrät dies: „A Contemporary Historical Novel“. Sinclair recherchierte für seinen Roman mehrere Monate lang und der kann als Fortsetzung des politischen Aktivismus des Autors mit künstlerischen Mitteln bezeichnet werden. Die Parallelgeschichte über Business und High Finance Kreise in New England (die Ostküsten-Sippe Thornwell) Anfang des 20. Jahrhunderts vermischt sich mit dem dokumentarischen Sacco und Vanzetti Teil des Buches, wie auch Dietmar Dath im Nachwort schreibt. Die sympathische „Aussteigerin“ Cornelia Thornwell fungiert als Bindeglied zwischen den beiden Klassen und Lebenswelten.

Sacco und Vanzetti: 90 Jahre Unrecht

Upton Sinclair sei damals dem Vorwurf, sein Roman sei eine „Hagiografie zweier Anarchisten“ oder eine Art „linkes Passionsspiel“ ausgesetzt gewesen. Pointierter noch drückt Dath die Vorteile der vorliegenden Neuübersetzung bei Manesse mit den folgenden Worten aus: „Deshalb wurde in der Neuübersetzung gewissenhaft darauf geachtet, den Rededuktus der Romanfiguren unverfälscht zu erhalten oder adäquat nachzuahmen – sei es das floskelhafte, gestelzte, stets auf Dezenz und Wahrung des schönen Scheins bedachte Idiom der Bostoner Brahmanen, sei es der den Begrifflichkeiten der politischen Theorie verpflichtete Jargon gesellschaftskritischer Aktivisten“. Die Italianismen der beiden Protagonisten, von einer defizitären Diktion der Immigranten gekennzeichnet, werde überzeichnet, ohne dabei den Eindruck geistiger Simplizität zu suggerieren. Tatsächlich spricht der Vanzetti des 20. Kapitels schon viel flüssiger als der des 2. Kapitels.

Ein Buch über eine Zeit in der Ausdruck „Picknick“ noch ein revolutionärer politischer Kampfbegriff war, denn es wurde mit dem harmlosen Begriff eine Zusammenkunft zur politischen Aktion bemäntelt. Ein Fanal für die Justiz eines Rechtsstaates und eine ewige Mahnung an Toleranz und den Mut zur Wahrheit.

Upton Sinclair
Boston. Roman
Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag
Manesse Verlag Zürich, 1025 Seiten
ISBN: 978-3-7175-2380-2
€ 42,00 [D] inkl. MwSt. 
€ 43,20 [A] | CHF 51,90* 
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Genre: Historischer Roman
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Ein Portrait des Künstlers als junger Mann

joyce-1Per aspera ad astra

Wie anders ist doch diese Geschichte als das betulich erzählte «Unterm Rad» von Hesse oder die verstörenden Erlebnisse, von denen Musil in «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» berichtet! In mehr als zehn Jahren entstand über die Zwischenstufe der eher konventionell erzählten Erstfassung «Stephen Hero» schließlich der Roman «Ein Porträt des Künstlers als junger Mann», welcher als Debüt nun aber literarisch bereits vieles enthält, was James Joyce als Schriftsteller kennzeichnet. Sogar die Figur des autobiografisch inspirierten Protagonisten Stephen Dedalus findet sich später als eine der drei Hauptgestalten im «Ulysses» wieder, dem Jahrhundertroman, der seinen irischen Autor weltberühmt gemacht hat. Ist nun dieser Entwicklungsroman mit seinem deskriptiven Titel, der gleichermaßen auf die Kategorie Künstlerroman hinweist, eine empfehlenswerte Erstlektüre zur Entdeckung dieses großen Schriftstellers? Eindeutig ja, sie könnte sich literarisch sogar als eine Einstiegsdroge erweisen!

Stephen scheint unrettbar im Sumpf eines orthodoxen Katholizismus gefangen. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte beginnt mit der frühen Kindheit in einem wohlhabenden Elternhaus, das später allmählich verarmt, nicht zuletzt auch durch die Trunksucht des Vaters. Er besucht ein katholisches Internat, wo er einer streng religiösen Erziehung unterworfen ist, die ihm keinerlei geistigen Spielraum lässt in ihrer ebenso unbeirrbaren wie unnachsichtigen Dogmatik. Mit einem für Atheisten wie mich geradezu lachhaft anmutenden Ernst lässt der Autor die geistlichen Lehrkräfte in ausgedehnten Passagen naiv dümmlich zum Beispiel über die Hölle erzählen. Jenem Ort, ohne den die monotheistischen Kirchen den mit Abstand gewichtigsten Teil ihrer selbst angemaßten Legitimation verlieren würden. In endlosem Palaver wird über die großen Figuren der Kirchengeschichte berichtet, jene Heiligen und Seligen, die den Schulknaben als Vorbilder dienen sollen, wortreich wird über Sünde, Beichte, Reue und Absolution gefaselt und gelogen. Es grenzt an ein Wunder, dass unser Held, auf der Suche zu sich selbst, zu seiner ganz eigenen Gefühlswelt, dieser Zuchtanstalt und dem anschließenden jesuitischen College geistig und seelisch heil entkommen kann. Die Aufnahme in den Mönchsorden lehnt er ab, entflieht den Autoritäten und Konventionen, wählt stattdessen die geistige Freiheit eines Studenten der Künste in Dublin.

Dieses Abstreifen von familiären und religiösen Zwängen und nicht zuletzt auch von den sexuellen Nöten eines Pubertierenden führt im weiteren Verlauf der Geschichte zu tiefsinnigen, köstlich freimütigen Disputen unter den Kommilitonen über irische Geschichte und Politik, über philosophische Themen, das Wesen und die Funktionen der Kunst, über Theorien der Ästhetik von der Antike bis zur Neuzeit. Joyce brilliert hier mit kühnen Gedankengängen und intelligenten Folgerungen in einer hoch komplexen Sprache. Die nun allerdings dem Leser nicht nur einiges abverlangt an geistiger Mitwirkung, sondern zu vollem Verständnis und mentalem Genuss auch eine adäquate Wissensbasis voraussetzt, die andernfalls durch fleißige Recherche ersetzt werden muss. Sprachlich ist hier ein Könner am Werk, der metaphernreich zu erzählen weiß, äußerst stimmige Bilder erzeugt im Kopf des Lesers, immer wieder überraschende Assoziationen hervorruft.

Dazu benutzt er als einer der Ersten wirkungsvoll den Bewusstseinsstrom, ein Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts neues Stilmittel, das den Beginn des modernen Romans markiert. Es verleiht dem Erzählten hohe Authentizität, dieser Roman zeugt eindrucksvoll davon. Lustvolle Lautmalereien mit Wörtern und eigene Wortkreationen, die man in keinem Lexikon findet, ergänzen all dies und stellen nicht nur an die Übersetzer der Prosa von Joyce hohe Ansprüche, sie beflügeln auch – per aspera ad astra – den geneigten Leser, sofern er Antennen hat für sprachliche Finessen jenseits des Konventionellen.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Wein und Haschisch

Wein und Haschisch von Charles Baudelaire

Wein und Haschisch von Charles Baudelaire

Charles Baudelaire war Zeit seines Lebens Dandy und Genießer. Sechs geistreiche Essays, die anläßlich seines 150. Todestag am 31. August 2017 unter dem Titel »Wein und Haschisch« veröffentlicht werden, belegen dies anschaulich. Weiterlesen


Genre: Essays
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Die Gärten der Finzi-Contini

„Papa“, fragte Giannina, „Warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue?“. „Weiß Du“, antwortete er (der Vater), „die vor kurzem Verstorbenen sind uns noch näher, und darum haben wir sie lieber. Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot“ – und wieder erzählte er ein Märchen -, „daß es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen.“
Wieder entstand eine Pause, noch länger als zuvor. Aber dann (wir waren inzwischen bis kurz vor den weiten Platz am Eingang zur Nekropole gekommen, wo in dichter Abfolge Wagen und Reiseautobusse standen) war die Reihe an Giannina, uns eine Lektion zu geben.
„Aber, so wie du das sagst, glaube ich jetzt, daß die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen.“

Im Prolog zu seinem Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ erzählt Giorgio Bassani diese kleine Geschichte, die sich während eines Ausfluges zum etruskischen Gräberfeld von Cerveteri, umweit von Rom ereignet. Der Dialog zwischen dem kleinen Mädchen Giannina und ihrem Vater über die Bedeutung der Erinnerung an die Toten deutet auf eines der Hauptmotive der Literatur des Ferrareser Autors Bassani hin: „auch die Dichter, falls sie wirklich welche sind, kommen immerzu aus dem Totenreich zurück. Sie sind drüben gewesen, um Dichter zu werden, um sich von der Welt zu lösen. Sie wären aber keine Dichter, versuchten sie nicht, von dort zurückzukommen, in unsere Mitte…“ So zitiert Ute Stempel in ihrem hervorragendem Nachwort Giorgio Bassani. Aber natürlich hat die Erinnerung für den jüdischen Autor eine nicht nur künstlerisch-ästhetische Bedeutung, sondern vor allem auch eine sehr perönliche, menschliche und politische.
1916 als Sohn einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie im oberitalienischen Ferrara geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend in dieser wunderschönen Stadt. 1934 legte er hier sein Abitur ab und studierte ab 1935 an der Universität der Stadt Bologna Literaturwissenschaft. Trotz der auch in Italien 1939 eingeführten faschistischen und antisemitischen Rassengesetze konnte er seine Abschlussarbeit an der Universität Bologna vorlegen. Nach dem Studium wurde er im antifaschistischen Untergrund aktiv, fiel den Faschisten in die Hände und kam 1943 für kurze Zeit in Haft. Wie durch ein Wunder geriet er nicht den deutschen Besatzungstruppen in die Hände. Damit blieb ihm nicht nur das Schicksal eines Großteil seiner Familie, sondern der gesamten jüdischen Gemeinde Ferraras erspart. 1943, nach dem die deutsche Wehrmacht Italien besetzte, wurden sie von diesen in deutsche Vernichtungslager deportiert und dort ermordet.
Bassani geht 1943 nach Rom und bleibt bis zu seinem Ableben im Jahre 2000. Seine Literatur allerdings dreht sich nur um seine Heimatstadt Ferrara. Seine Bücher fasste er unter dem Sammeltitel „Il romanzo di Ferrara“, „der Roman von Ferrara“ zusammen.

Sein Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ gilt als sein gelungenster. Sein persönlichstes Buch ist es auf jeden Fall. Autobiographisch geprägt stellt es uns die jüdisch-bürgerliche Welt Ferraras aus der Perspektive eines jüdischen Kindes vor, das sich im Laufe der Handlung zum jungen Erwachsenen entwickelt. Wir lernen eine Welt kennen, die durch den Antisemitismus zusammenbricht – und die sich darauf nicht vorbereitet hat. Der Antisemitismus erreichte auch in Italien mit den durch die faschistischen deutschen Besatzungstruppen ab 1943 durchgeführten Deportationen italienischer Juden in deutsche Vernichtungslager seinen unfassbaren Höhepunkt.
Der italienische Faschismus war, weit davon entfernt ungefährlich zu sein, nicht von vorneherein und in gleicher Intensität wie der Nationalsozialismus vom Antisemitismus motiviert und geprägt.
Der Vater des Ich-Erzählers wird uns als italienischer Jude, „Doktor der Medizin und Freidenker, Kriegsfreiwilliger und Faschist mit der Mitgliedskarte von 1919“ vorgestellt. ER ist alles andere als ein Antifaschist. Im Gegenteil. Er ist Mitglied der faschistischen Partei
Italiens. Wir erfahren, dass sich ein Großteil der jüdischen Gemeinde (des männlichen Teils, genauer gesagt) den Faschisten angeschlossen hatte. Wir werden mit der Lektüren auch erfahren – was wir aus der Historie längst wissen – dass es Ihnen trotzdem nicht genutzt hat.
Dieser jüdische Faschist, der Vater des Ich-Erzählers, wird zudem als Antagonisten zu eines weiteren, weitaus wohlhabenderen Mitglied der jüdischen Gemeinde Ferraras dargestellt. Professor Finzi-Contini, ein sich aristokratisch gerierender Großgrundbesitzer und Bewohner eines großen Anwesens in Ferrara, Eigentümer riesiger, teil landwirtschaftlich genutzter Gärten, entzieht sich diesem Assimilierungsdruck, ist nicht Mitglied der Faschisten, lässt seine Kinder von Hauslehrern unterrichten und besucht eine eigens für ihn und mit seinen finanziellen Mitteln restaurierte Synagoge.
Dessen Tochter, Micol, hat es dem Ich-Erzähler angetan. Schon als Junge lugt er in der Synagoge unter dem Betgewand seines Vaters hervor um dieses Mädchen zu beobachten.
Micol lädt ihn – unerlaubterweise – ein, über den Zaun zu klettern und in den Garten zu kommen. So beginnt eine über Jahre sich entwickelnde Liebesgeschichte. Eine unerfüllte allerdings. Der Antisemitismus, der Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben und das Zurückgeworfensein auf einen Mikrokosmos lassen diese Liebe nicht erblühen.

Giorgio Bassani schildert diese Geschichte auf eine eindringliche Art und zugleich mit einer unsentimentalen Klarheit. Vielleicht berührt diese Geschichte gerade deshalb. “Die Gärten der Finzi-Contini” ist große Literatur.


Genre: Romane
Illustrated by Manesse Zürich