Ein wenig sterben

Flammer liegt nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus und kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Gehirn ist mangels Sauerstoffzufuhr irreparabel geschädigt. Georg, ein Jugendfreund, wird von Flammers Vater alarmiert. Schritt für Schritt taucht er darauf in die Welt seines Kumpels ein, um dessen Handeln zu verstehen. Dabei prallen zwei gegensätzliche Lebensentwürfe aufeinander.

Georg ist als selbständiger Versicherungsmakler erfolgreich. Mühsam hat er sich sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erkämpft und möchte niemandem Rechenschaft ablegen. Er pflegt einen gehobenen Lebensstil und nimmt gern mal eine Nase Koks. Studienabbrecher Flammer hingegen hielt sich derweil mit miesen Jobs über Wasser. »Alles ist eine große Gleichgültigkeit«, lautete sein Credo. »Aus dieser Kälte gibt es kein Entkommen«.

Der Freund besucht den Platz im Wald, wo Flammer versucht hatte, sich aufzuknüpfen. Er inspiziert Flammers muffige Wohnhöhle und fragt sich, warum er nicht einfach vom Balkon gesprungen sei oder sich in den eigenen vier Wänden seiner Zelle aufgehängt habe.

Georg spürt die Spuren seines Jugendfreundes auf und reflektiert dabei sein eigenes Leben, das von Flucht vor Einsamkeit und daraus resultierender Arbeitswut geprägt war. Er lebte stets so, als bestünde die einzig erträgliche Methode mit dem Leben fertig zu werden, es permanent abzuwehren und sich so gut wie möglich gegen alle Risiken abzusichern. Georg spürt aber auch, dass das Leben, das Flammer geführt hat, stets ein Teil von ihm selbst war, und zwar jener Teil, den er bewusst verdrängte. Stück für Stück beginnt er sich zu häuten und streift die Vergangenheit ab.

Stefan Kalbers entwickelt mit seiner Erzählung ums mehr oder weniger freiwillige Sterben einen spannenden Dialog zwischen einem, der sich nicht mehr erinnern kann und einem, der alles verdrängt hat und sich langsam wieder besinnt. Dabei versteht er es, den Leser in die Gedankenwelt seines Protagonisten zu führen und die dunklen Seiten der eigenen Existenz zu belichten. Nun ist der Text alles andere als eine trocken-philosophische Abhandlung. Im Gegenteil. Kalbers schafft es, dem Stoff eine unerwartet spannende Wendung zu geben, die schrittweise den Grund für Flammers Unglück erhellt.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Pornostern

PornosternNamenlos jobbt ohne Erfolg und Anspruch in einer Versicherungsagentur und fristet ein eher erbärmliches Junggesellendasein. Lediglich Ex-Freundin Andrea dringt gelegentlich telefonisch zu ihm durch und erkundigt sich nach seinem Zustand. Ansonsten ist sein einziger Gesprächspartner ein kleiner braungrüner Kaktus, der aus einem Müllhaufen stammt. Diesen stacheligen Mitbewohner tauft er »Rod«, weil dies auf einem Etikett an dessen Unterseite steht.

Seine Zeit verbringt der Ich-Erzähler am liebsten vor dem Fernseher oder in seiner Stammkneipe »Peaches«. Dort verpasst er sich die tägliche Dröhnung. Eines eintönigen Tages lernt er einen Goldkettchenträger kennen, der ihm wie eine Mischung aus Zuhälter und Ramschkönig vorkommt. Der neue Bekannte entpuppt sich als Betreiber eines Pornolabels und bietet ihm einen Job an. Nach einem kurzen Disput zwischen seiner ständigen Trägheit und einer beklemmenden Ebbe des Kontostandes nimmt er das Angebot an und tritt seinen Dienst als Deckhengst des Filmchenmachers an. Künftig darf er willige Novizinnen vor der Kamera vögeln und wird dafür sogar noch gut bezahlt.

Skrupel sind ihm fremd, und über Geschmack macht er sich keine Gedanken. Besonderen Genuss bietet ihm lediglich ein Wiedersehen mit einer Beraterin einer Arbeitsvermittlung, der er nach Vollzug ins Gesicht spritzen und sagen darf, er habe jetzt den seiner Qualifikation entsprechenden Job gefunden.

In seiner neuen Tätigkeit geht er voll auf und findet dabei sogar zu einer eigenen Identität. Als Hommage an seinen Kaktus wählt er den Künstlernamen Rod Reptile. Regelmäßige Nasen Koks, die ihm seine neuen Arbeitsgeber versorgen, tragen dazu bei, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Sein Geld trägt er weiterhin in seine Stammkneipe, in der er eines schönen Tages sogar seine Traumfrau kennen lernt. Mit der knackigen Jasmin ist er bald fest zusammen und genießt die Zweisamkeit.

Da er ahnt, dass seine neue Liebe wenig erbaut auf seine Erwerbstätigkeit reagieren würde, täuscht er sie mit Lügengeschichten. Wenn das Telefon klingelt, steht er weiterhin stets zur Verfügung, um neue Damen, wie die 24jährige Fitnesstrainerin Claudia, die »neue Herausforderungen« sucht und sich als Filmsternchen bewirbt, einem gründlichen Leistungstest zu unterziehen. So kommt es, wie es kommen muss: eines bösen Tages wirft Jasmin ihrem geliebten Rod eine DVD mit dem prosaischen Titel »Ehehuren«, in der er als Hauptdarsteller wirkt, vor die Füße und verlässt ihn tief enttäuscht.

Rod Reptile ist wieder mutterseelenallein und steigt noch tiefer ins Pornobusiness ein. Er träumt von einer Solokarriere mit professionellen Darstellerinnen und entwickelt sich allzeit bereit, immer bereit, zum Pornostern. Koks, Aufputschmittel, Alkohol und Potenzpillen helfen ihm, in jeder Situation als Mann zu bestehen. Dabei bricht er charakterlich immer tiefer ein und führt bald nur noch ein Leben auf Speed. Seine Auftraggeber lassen ihn fallen. Als eines schlimmen Tages zu allem Übel auch noch sein einziger Freund, der Kaktus Rod, wegen mangelnder Aufmerksamkeit sein Leben aushaucht, will er endgültig alles ändern. Er springt in einen Zug und folgt Jasmin. Ein Happy-End bleibt aus.

Strasser baut die Geschichte von Rod Reptile geschickt und nachvollziehbar auf. Im Dialog mit dem Kaktus bedient der 34-jährige Düsseldorfer Autor sich eines Kunstmittels, das literarische Qualität hat. Er erzählt seine Story in lakonisch-distanziertem Stil und verzichtet auf die klebrige Ausschmückung eines Soft-Pornos. Damit enttäuscht er vermutlich die Hoffnungen der Voyeure, die zu dem Buch greifen, weil sie hinter dem Titel eine saftige Sexstory wittern. »Pornostern« lüftet hingegen einen Zipfel des Vorhangs der Sexindustrie und liest sich als eigenwilliger und durchaus nachvollziehbarer Bericht.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Bernemann wird alt. Inzwischen hat er die 30 deutlich überschritten und ist immer noch auf der Suche nach sich selbst. Als Autor möchte er weder schubladisierbar noch schubladesk sein und behauptet, seine Literatur führe eine Art Angriffskrieg. Davon ist in seiner nunmehr vierten Buchveröffentlichung leider wenig zu spüren.

Ubooks hat seinen bisher einzigen Bestseller-Autor dazu verdammt, Neues auf den Markt zu werfen. So greift der geforderte Autor in die Ablage und zaubert einige halbgare Texte hervor, um sein Publikum zu beglücken. Er nennt sie »persönlich«. Alle, die seine Texte kennen, meint Bernemann, hielten ihn für einen Depressiven, manisch Fingernägel kauenden und ewig beunruhigten Alptraumtänzer, einen weit draußen Stehenden, der so far out of space zu sein scheint, dass er »nur an Weltraumbahnhöfen verweltreist«. Tatsächlich will er ein »Kopfkrieg-Youth« sein. »Ich bin ein Modeschmuckgeschäft, in dem es lediglich Assoziationsketten gibt«, brüllt er die Alleen entlang, wenn er zwischen Leipzig, Herne und Trier auf die Suche nach dem Leser geht.

Zum Beweis publiziert er einige kurze Geschichten im Genre Fuckrockblutkotzeliteratur. Das Material füllt kein Buch, Bernemann greift zur Technik, die er schon in seinem Erstling »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« anwandte: er schiebt dreißig Seiten Gedichte und Songtexte ein, die er »lyrische Manifeste« nennt. Und tatsächlich: mehr als Assoziationsketten bietet er nicht.

Seiner Zielgruppe, der «schwarzen« Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung, mag das vielleicht genügen. Mit Hilfe eines Lektors, der sein Potential fordert, könnte aus ihm jedoch deutlich mehr werden. Geschichten wie »Der Campingstuhl« jedenfalls zeigen das literarische Vermögen des Autors: ein 18jähriges Mädchen zieht mit einem frisch erworbenen Sitzmöbel auf ein wildes Rockfestival und definiert sich darüber. Auf diesem Klappstuhl sitzt sie als ultimativ Gerockte und betrachtet das Universum, das sich ihr bald in Form von Bier, Schnaps, Haschisch und fröhlichen Freiern vorstellt und findet sich dabei maximal cool und extravagant.

Die eindrucksvolle Beschreibung der Fete rund um das Klappmöbel beweist auch, dass sich im Selbstverständnis junger Leute und ihrer Erlebniswelt in den zurück liegenden 30 Jahren wenig geändert hat und auch die Subkultur immer noch in ihrem Wesen beständig ist. Insofern ist die Lektüre dieses literarischen Kleinods auch für die Altersgruppe 30+ durchaus geeignet. Ob eine Story allerdings genügt, das Buch zu kaufen, mag jeder selbst entscheiden.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Ich hab die Unschuld kotzen sehen

Das was mal Unschuld war, meint Dirk Bernemann in seinem Erstlingswerk, nimmt nun Drogen, tötet aus Lust, ist viel zu frei erzogen, um klar und geordnet zu denken, aber entwickelt sich scheinbar natürlich, gar übernatürlich. Und es ist vor allem unaufhaltsam und nennt sich irgendwann, also bald, gar dreist: Die neu definierte Unschuld.

Hinter dieser Unschuld entdeckt der Autor in erster Linie Schlampen, die sich in Discotheken abfüllen, um sich dann kurz vor dem Koma abschleppen zu lassen. Früh erwacht der voll gedröhnte Erzähler neben einer derartigen Göttin, die wie ein flügellahmer Engel bis an den Rand gefüllt mit Alltagsgift auf einem durchgefickten Sperrmüllsofa liegt. Er übergibt sich, tritt in seine eigene Kotze, das Mädchen fällt auf einen Glastisch und erwacht. Er schlägt ihr eine Flasche Bier ins Gesicht, gerät über ihre Nichtreaktion in Rage, prügelt sie brutal nieder, bis sie kein Gesicht mehr hat und keinen Muckser tut.

Der Polizist, der den Mörder der jungen Frau ausmerzen will, hat keinen Erfolg bei seiner Fahndung und wird schon mit einem neuen Fall betraut. Ein Typ bringt seine Frau und deren Lover um, weil dieser seine Gattin um den Verstand ficken konnte, was dem Ehemann aufgrund seiner jämmerlichen Ausstattung nicht vergönnt war.

Ein Familienvater wird ermordet. Der Täter ist ein Serienkiller, der alles für seine Freundin Lydia tut, die in ihm einen Handlungsreisenden sieht. Lydia wiederum lässt sich als Prostituierte für einen Hungerlohn von stinkenden Unbekannten benutzen und erzählt ihrem Freund, sie sei Designerin.

Ein Straßenbahnfahrer reagiert geschockt, als Lydia vor seinen Zug springt, um ihrem sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Er besäuft sich in einer Kneipe, um den Vorfall zu vergessen, gerät mit der Bedienerin in Streit, wird zusammen geschlagen und erwacht am nächsten Morgen neben einer Marion, die den Malträtierten aus Mitleid mit auf ihr Lager schleppte.

Ein Mädchen namens Sophie freut sich über das plötzliche Glück ihrer Freundin Marion und versucht, ihr Befinden mit Koks, Ecstasy und Techno zu verbessern. Sie landet in der Notaufnahme. Der Rettungsfahrer, der sie wieder ins Leben zurückholt, wird zu einer von Attentätern in die Luft gesprengten Chemiefabrik gerufen. Ein guter Freund, der den Anschlag auf den Industriepalast plante und ausführte, wird ihm tot zu Füßen gelegt.

Eine Chemielaborantin, die in der Fabrik arbeitete, empfindet klammheimliche Freude mit dem Attentäter. Sie ist Schlagzeugerin in einer Frauenrockband namens »Gestures & Sounds« mit der lesbischen Franziska am Bass, der magersüchtigen Eva am Keyboard und ihrer besten Freundin Luisa an der Gitarre. Bei einem Auftritt in einem Jugendclub zieht Eva plötzlich eine Knarre und schießt ins Publikum. Luisa schließt die Eingangstür ab und zaubert ebenfalls eine Schusswaffe hervor. Die beiden Frauen zwingen das traumatisierte Publikum zum Applaus. Nach einer dreiviertel Stunde sieht Luisa glücklich aus, setzt sich die Waffe an die Schläfe und bläst sich ihr Gehirn aus dem Schädel. Eva landet in einer Nervenheilanstalt.

»Ich hab die Unschuld kotzen sehen« ist Prosa aus Versatzstücken. Die kurzen Texte spiegeln den täglichen Wahnsinn und sind eng ineinander verwoben. Bernemann übt sich im schnellen Perspektiv- und Rollenwechsel. Im Ergebnis belichtet er auf diese Weise den Bodensatz einer Gesellschaft, die nur oberflächlich heil ist. Seine Kurzprosa ist brutal, brachial und blutig, und sie schwimmt in Körperflüssigkeiten. Diese Literatur verlangt deshalb entsprechend geübte Leser.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Und wir scheitern immer schöner

In Fortsetzung seines Erstlings »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« geht Bernemann auch in seinem zweiten Werk hart zur Sache. Von wem oder was auch immer getrieben sucht er nach einem bescheidenen Seelenasyl, um sich niederzulassen. Diesen Platz suchen auch seine Figuren, und sie glauben wohl, den Seelenfrieden vor allem in der körperlichen Vereinigung finden zu können.

Die schöne Unschöne namens Anne, die sich im Morgengrauen kurz vor dem Alkoholkoma aus einer Dorfdisco abschleppen ließ, fühlt sich für einen Augenblick geliebt. Dabei ist sie in den Händen eines hirnlosen Stechers, der sich nur abreagiert und sie entwürdigt. Wer die grandiose Beschreibung eines seelenlosen Ficks aus der Sicht eines Mannes lesen will, der wird bei Bernemann gekonnt bedient. Gnadenlos geht es in dem Text zu, weil die Darstellung der Reise ins Orgasmusland klar und wahr ist und lächerlich wenig mit Zuneigung oder Liebe und grauenhaft viel mit unterirdischen Trieben gemein hat.

Anne überfährt am Morgen nach der durchfickten Nacht auf dem Weg zur Arbeit ein kleines Kind. Erschreckt verstaut sie den toten Körper im Kofferraum, später in der Gefriertruhe. Sie will nicht schuld sein, sie will nur weg. Der katholische Priester, der den Eltern des verschwundenen Mädchens Trost spenden soll, denkt mehr an wilde Ritte auf seiner Haushälterin und an die Peitsche, mit der sie ihn domestiziert.

Der Sohn, der aus der unheiligen Allianz zwischen Priester und Haushälterin hervorging, gelangte in die Hände von Neonazis und entwickelte sich zu einem gepflegten Arschloch mit Kurzhaarfrisur. Bald hat er den ersten Menschen auf dem Gewissen: einen Türken, dem er mit einer Eisenstange den Kopf spaltete. Nazischläger zu sein, ist dem Siebzehnjährigen egal. Hauptsache, er ist irgendwer und bekommt die notwendige Anerkennung. Irgendwas für irgendwen zu sein, ist zu schwierig geworden, aber überhaupt irgendwer zu sein, ist auch gut. Wie geputzte Zähne. Dann schnappen ihn die Bullen, seine Nazifreunde distanzieren sich von ihm und werfen ihn der Einsamkeit zum Fraße vor. Im Knast lernt er Schausteller kennen. Er reist mit ihnen umher, ist sozial integriert und genießt die Freiheit im Kettenkarussell.

Im Karussell sitzt ein Familienvater. Er kann Frau und Kindern nicht mehr ins Gesicht sehen. Auf einer Geschäftsreise nach Spanien infizierte er sich bei einem einheimischen Kellner mit Aids. Dabei ist er nicht einmal schwul, er suchte nur etwas Nähe und Wärme.

So geht es munter weiter. Bernemann schlüpft in die Haut einer jungen Frau, die in der Disco einen Landschaftsgärtner abblitzen lässt, der sich wenige Tage später das Leben nehmen wird. Er versenkt sich in die Psyche eines Stiers, der in einer Arena abgestochen wird. Er beschreibt die Gefühle einer Frau mit einem durch Unfall entstellten Gesicht, von der sich Freier angeekelt zurückziehen; und er notiert auch noch die letzten Gedanken ihres krebskranken Vaters, der an diesem Gesicht schuld ist, auf dem Sterbebett.

Es ist immer Bodensatz, den der Autor durchpflügt, aufwühlt und beschreibt. Dem Normalbürger bleibt die Welt von Bernemanns Personal weitgehend unverständlich und verschlossen. Es ist die Welt derer, die aus verschiedensten Gründen, die häufig in ihrer Sozialisation zu finden sind, dem Motto huldigen: »Lebe schnell – Stirb jung«. Ein unfreiwilliges Extremsterben also findet in diesem Buch statt, das in der Mythologie Figuren wie Kurt Cobain, Jim Morrison und Che Guevara angedichtet wird. Wieder mischen sich Kotze, Blut, Tränen, Speichel und Sperma in den Texten. Aggressionen, Mordlust, Angst vor Verletzungen und vermeintliche Coolness sind der Treibstoff der gescheiterten Helden, die schemenhaft durch das Buch geistern.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Satt. Sauber. Sicher

Roland, der Protagonist in Dirk Bernemanns drittem Roman »Satt. Sauber. Sicher« lebt in einem »Haus der Lüge«. Darin wohnen Herbert und Karla, seine Eltern, und alles ist sauber. Eine breite Hausfrauenzunge hat die Fugen zwischen den Fliesen im Wohnzimmer geleckt. Der Vater hat alles Unkraut in dem kleinen, bunten Vorgarten an der Wurzel abgehackt. Ein gewaschener Wagen steht vor der Tür. Hier wohnen gute Menschen, die wählen gehen, Freunde zum Grillen einladen und Bioprodukte genetisch veränderten Produkten vorziehen. Hier guckt man die Lindenstraße, die Tagesschau und den Tatort. So scheint es.

Tatsächlich ist der Vater eine lebende Leiche, ein sexuell frustrierter Fettsack, der Inbegriff der Bankrotterklärung der sozialen Fähigkeiten. Ein Bauarbeiter, der an allem außer an sich arbeitet. Ein Mann gemacht aus Inkompetenz, Intoleranz und einer ausgeprägten Selbstmitleidigkeit. Ein Arbeiter mit tiefen Leiden, resultierend aus der Unfähigkeit, die ihn umgebende Scheiße zu artikulieren oder wegzuräumen.

Mutter Karla, die sich wie eine Dose Cola mit abgelaufenem Verfallsdatum fühlt, wird später nach dem Ableben ihres Gatten nach Afrika reisen, weil sie in einem Fernsehbeitrag sieht, wie eine Urlauberin von einem Stammeshäuptling interessant gefunden wurde und jetzt im Inneren eines Zeltes ein Königinnendasein zu haben scheint.

Rolands Familie zählt zur Arbeiterklasse. »Kein Intellekt. Drei Fernsehprogramme.« Erziehung will erst gelernt werden, und bis man da was drüber weiß, wird erst einmal drauf gehauen, wenn die Brut nervt. So gibt es häufig »Überforderungskloppe«. Die Eltern rechtfertigen dies mit dem Nervfaktor, der von den Geräuschen der Kinder produziert wird.

Roland und sein Bruder Peter sind Opfer dieses unausgeloteten Familiensystems. Eine immer frustrierte Mutter, ein ständig malochender Vater, ein Geruch von Bier, Schnaps und Vaterkotze und dazwischen ein klein wenig Missbrauch in der Badewanne.

Beide Söhne brechen früh von zu Haus aus. Roland wird Broker, bleibt dabei aber unglücklich, fühlt sich unterfordert, ungeliebt und ausgebrannt. Sein Liebesleben liegt im Chaos. Polka, Pogo und Pornographie sind die eigentlichen Motive, die ihn treiben. Da gibt es die Krankenschwester Vera, die es mit ihm eine Weile aushielt, ohne zu wissen, warum. Vera bemerkt, dass Roland eine Kälte auszeichnet, die sie nie zuvor erlebt hat. Deshalb trennt sie sich, weil Liebe unter einer bestimmten Temperatur nicht geht. Und kalt und kalt ergibt viel Scheiß. Das kennt Roland schon von seinen Eltern.

Sein Bruder Peter ist bereits früher aus dem Haus weg von der »fucking family« gegangen. Roland hält ihn für glücklicher, tatsächlich ist auch er ein sozial degeneriertes Individuum, der sich als Heimbetreuer die Illusion von familiärer Gemeinschaft schenkt.

Roland ist krank, Darmkrebs wütet in ihm, und als er es endlich zum Arzt schafft, ist es längst zu spät. Es treibt ihn ein letztes Mal nach Hause, er versucht, sich seinen Eltern mitzuteilen, diese versagen erneut. In ihm wächst die Krankheit, in ihm brennt Elend, in ihm verbrennt der Mensch, der er ist. Er geht zugrunde.

Vera hat inzwischen einen neuen Liebhaber gefunden. Es ist ein Afrikaner, der jedoch zu später Stunde auf einem Bahnsteig Bekanntschaft mit drei besoffenen Bauarbeitern macht und von ihnen kaputt geprügelt wird. Sie stürzt sich darauf in den Alkohol und trifft schließlich auf Britta, die ihren in einer Pornoproduktion geschundenen Körper bei ihr wieder auffrischt. Die beiden ziehen zusammen und leben ihre verkorkste Weiblichkeit aus.

Bernemanns Roman ist ein aus verschiedenen Episoden geschickt zusammen gesetztes Mosaik, in der sein Personal sich mehrheitlich nur kurz wahr nimmt oder berührt. Jede Folge ist eine Spiegelscherbe, die über die innere Welt der jeweiligen Figur berichtet und damit Stück für Stück die Handlungsfolge und das Beziehungsgeflecht aufbröselt. Diesen Bau aus Versatzstücken beherrscht der Autor meisterhaft. Lediglich die als Schlusslicht angehängten Kapitel entzaubern sein Werk, das eigentlich bereits abgeschlossen war, und keiner weiteren Berichte aus dem Schauspielhaus der Andersartigkeit bedarf, ganz so, als habe ihm der Umfang seines Werks missfallen, dass er dann noch ein wenig aufblähen musste.

In stilistischer Hinsicht wirkt der Text, als kotze Bernemann seine eigene proletarische Kindheit, ganz besonders die Auseinandersetzung mit dem Vater, aus sich heraus. Unabhängig davon, ob der Text autobiographische Züge trägt, ist er packend und milieudicht geschrieben. Gelegentlich stelzt er allerdings in Wortspielereien und Alliterationen (»Er sieht Menschen rennen und Schweine brennen«; »Sie verrecken in Verstecken. Sie verkümmern unter Trümmern«), die dem Text Wucht und Wut nehmen.

Das Werk versteht sich als ein Stück Untergrund-Literatur und ist in einem Verlag erschienen, der sich in der Gothic-Szene angesiedelt hat. Diese auch als »Schwarze« oder »Grufties« bezeichnete Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung sammelt junge Leute, die sich gern schwarz kleiden, gelegentlich von Brücken springen, Melancholie zelebrieren, und doch nicht genau sagen können, was sie eigentlich sind und wollen. In diesem Segment ist der Autor erfolgreich. Er könnte darüber hinaus wachsen.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf