Vater unser

Vexierbild als Mileustudie

Mit ihrem Debütroman «Vater unser» hat die österreichische Schriftstellerin Verena Lehner auf Anhieb einen beachtlichen Erfolg gehabt, ihr Buch gelangte 2019 auf die Longlist für den Frankfurter Buchpreis und machte sie damit in deutschsprachigen Leserkreisen bekannt. Auch das Feuilleton äußerte sich lobend, nicht zuletzt deshalb, weil hier geradezu ein Musterbeispiel für die narrative Form des unzuverlässigen Erzählens vorliegt. Was nicht verwundert, hatte die Autorin doch als Komparatistik-Studentin ihre Bachelorarbeit genau diesem Thema gewidmet. Um es gleich vorweg zu nehmen: Unzuverlässiger als die unzuverlässige junge Ich-Erzählerin Eva Gruber, die wegen einer ausgeprägten manischen Störung von der Polizei in eine Psychiatrische Klinik Wiens eingeliefert wird, weil sie, wie es heißt, eine ganze Kindergarten-Gruppe erschossen habe, launischer, inkonsequenter, sprunghafter kann man wirklich nicht erzählen.

Dieser nach dem am weitesten verbreiteten christlichen Gebet benannte, dreiteilige Roman spricht ironisch auch die Dreifaltigkeit an, in den drei mit «Der Vater», «Der Sohn» und «Der Heilige Geist» betitelten Abschnitten drückt sich spöttisch eine deutliche Ablehnung der landesweiten, katholischen Frömmigkeit aus. Gleich im ersten Teil liefert sich die manische Patientin selbstbewusst, schlagfertig und gewitzt köstliche Dispute mit ihrem Therapeuten, dem Anstaltsleiter Dr. Korb, dem sie von ihrer erzkatholischen, ländlichen Herkunft erzählt und vom Irrweg ihrer ganzen Familie. Wie sie beispielsweise vom Lehrer geschlagen wurde, weil sie das «Vater unser» nicht auswendig konnte, wie der Vater ihren jüngeren Bruder und zehn Minuten später dann auch noch sie vergewaltigt hat. Was ‹Korb›, wie sie ihn verächtlich anredet, ebenso flapsig damit kommentiert, dann müsse der Vater ja ziemlich potent sein. Arzt und Patient schenken sich nichts in ihren Therapiegesprächen, die in einem stets verschlossenen Behandlungszimmer stattfinden. Eva ist auffallend besserwisserisch, aggressiv und rotzfrech obendrein, hier ein typisches Beispiel für den permanenten, köstlichen verbalen Schlagabtausch: «‹Auch Frau Gruber›, sagt Korb und seufzt, ‹so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären›. Ich nicke. ‹Ja›, sag ich, ‹wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können›.» Die Beiden frozzeln sich genüsslich und lächeln noch dabei.

Was sich zunächst wie eine weitere Variante auf das literarische Genre des Psychiatrie-Romans liest, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einer nachdenklich machenden Anklage gegen das, was angeblich normal ist und gesund. Evas Vater hatte in seinem Zimmer einen Altar, neben dem immer ein Rosenkranz hing sowie ein gerahmtes Foto von Jörg Haider, dem Rechtspopulisten. In diversen Vignetten fragmentarisch erzählt, entwickelt sich allmählich ein Gesamtbild, das die alte Frage aufwirft, wer denn nun verrückt sei, die Patienten in der Psychiatrie oder diejenigen, die draußen sind und dort verrückt spielen. Ist das, was wir für Wirklichkeit halten, Realität – oder doch nur ein Platonsches Abbild davon? Angela Lehner zelebriert in ihrer Geschichte die Ambiguität der Geschehnisse als ein Sammelsurium des Uneindeutigen, man könnte es nach einem klugen Kopf in den USA auch alternative Fakten nennen, – als Widerspruch in sich quasi.

Wie ein Vexierbild erscheint diese klug aufgebaute Milieustudie, die in einer angenehm lesbaren Sprache den Leser absichtsvoll aufs Glatteis führt, ihn im Ungewissen lässt, schnöde die Realität negiert. Als Leser nimmt man allzu gern die Perspektive der manischen Eva Gruber ein, die an der Welt erkrankt ist, und erliegt somit dem Lesesog dieser verqueren Persiflage der Psychiatrie, in deren Verlauf sich aus der spöttischen Überlegenheit der narzisstischen Ich-Erzählerin heraus eine tiefe Verletzlichkeit abzeichnet, an deren Ende eine verzweifelte Flucht steht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Bungalow

Manischer Erzählfuror

In ihrem dritten Roman «Bungalow» hat die Schriftstellerin Helene Hegemann wohl vorsorglich im Anhang vier Quellen benannt und zwei davon als inspirierend bezeichnet. Untrennbar mit ihrem Namen nämlich ist der Buchtitel «Axolotl Roadkill» verbunden, ihr aufsehenerregender Debütroman von 2010. Aufsehenerregend einerseits deshalb, weil die damals Achtzehnjährige auf Anhieb einen originären Bestseller geschrieben hatte, andererseits aber auch wegen der heftigen Plagiatsdebatte, die er wegen falsch verstandener Intertextualität auslöste. Originär ist dieser neue Roman ebenfalls, eine dystopisch gefärbte Coming-of-Age-Geschichte aus dem Prekariat einer ungenannten deutschen Großstadt, die es 2018 immerhin auf die Longlist des deutschen Buchpreises geschafft hat. Und es finden sich auch hier wieder bekannte Motive der Autorin, die Wehrlosigkeit eines Mädchens in der Adoleszenz und ihr verzweifeltes Bemühen um Autonomie inmitten des Chaos, das sie umgibt.

Die zwölfjährige Charlotte, von allen nur Charlie genannt, lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter in einer heruntergekommenen Mietskaserne. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich eine Bungalowsiedlung mit Bewohnern aus dem gehobenen Mittelstand, ein krasser sozialer Kontrast direkt vis-a-vis, den sie vom Balkon aus täglich vor Augen hat. Besonders ein neu dort eingezogenes Schauspielerpaar erweckt Charlies Neugier, sie fühlt sich unwiderstehlich zu den Beiden hingezogen. In weiten Teilen des Romans schildert Charlie als Ich-Erzählerin ihren Alltag zwischen Schule und der total verwahrlosten Wohnung, ein Leben am äußersten Rande der Gesellschaft, in dem sie oft tagelang hungern muss, weil schon Mitte des Monats das Geld alle ist. Sie traut sich auch nicht, ihre Freunde aus der Schule einzuladen in die total versiffte Wohnung, und bewundert andererseits, wie vergleichsweise luxuriös ihr Freund Iskender wohnt, bei dem sie manchmal zum Essen eingeladen ist. Der wendet sich dann auch entsetzt von ihr ab, als er einmal einen alkoholbedingten Gewaltausbruch der Mutter miterlebt. Am Ende des Romans ist Charlie als Siebzehnjährige mit Georg und Maria, dem Paar aus dem Nachbar-Bungalow, eng befreundet, eine zuletzt dann auch sexuelle Beziehung, die schon im Eingangskapitel vorweggenommen wird.

Mit beklemmenden Szenen beschreibt Helene Hegemann in ihrem verstörenden, in der nahen Zukunft angesiedelten Gesellschaftsdrama eine aus den Fugen geratene Welt extremer sozialer Unterschiede. Aus dem Blickwinkel der Underdogs zeigt sie ohne Larmoyanz nüchtern auf, was ist, ohne es deuten oder gar erklären zu wollen. In der eisigen sozialen Kälte erweist sich die jugendliche Heldin als kämpferisch und zäh, sie lässt sich nicht unterkriegen, auch wenn sie oft am Ende zu sein scheint. Rasant wechseln sich groteske Szenen der Gewalt und der moralischen Verrohung ab, eingebettet in eine voyeuristische Medienlandschaft ohne Skrupel. Neben aller verbal ausgebreiteten Brutalität entstehen aber auch schöne aphoristische Bilder, so hält Charlie trotz allem immer wieder zu ihrer am Ende in die Psychiatrie eingewiesenen Mutter, treu und unbeirrt wie einst Petra, der schwarze Schwan vom Aasee bei Münster, zu seinem Schwanen-Tretboot.

Der sprachlich originelle, scheinbar manische Erzählfuror der Autorin produziert hier zuweilen slapstickartig groteske Bilder voller apokalyptischer Verheerungen, ein fast schon brutaler, sezierender Realismus als Fanal nicht abreißender, sozialer Verstümmelungen. Zweifellos misslungen ist das, was im Klappentext als «ihre erste große Liebe» bezeichnet wird, und absolut entbehrlich, sogar eher irritierend sind die vage angedeuteten dystopischen Elemente, denn all das, was erzählt wird, ist auch im Hier und Heute denkbar. Hinzu kommt die fehlende Stringenz, es gibt nichts, wohin dieser misanthropische Roman den Leser führt, «Ich bin dann da irgendwann abgehauen» heißt es sibyllinisch im letzten Satz. Mancher Leser wird es ihr nachmachen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Brüder

Ein Symptom der Zeit

Mit ihrem zweiten Roman «Brüder» hat Jackie Thomae ein Epos geschrieben, das keines sein will, obwohl viele der Merkmale dafür vorhanden sind. Es ist die breit angelegte Geschichte zweier gleichaltriger, unehelich in der DDR geborener Halbbrüder mit einem gemeinsamen afrikanischen Vater, den sie nie gesehen haben. Sie wachsen getrennt auf, wissen nichts voneinander und könnten ungleicher gar nicht sein. Es ist auch die Geschichte zweier Epochen, der Zeit vor und nach der Wende in Deutschland, vor allem aber, wie die Autorin im Interview erklärt hat, eine Hommage an West-Berlin, an Leute, die keine Rassisten sind, und an Alleinerziehende. Die autobiografischen Bezüge sind also unverkennbar. «Wer das Buch liest, wird feststellen, dass meine ‹Brüder› viele Begegnungen haben, bei denen sie eben nicht diskriminiert werden. Das war mir wichtig» hat sie leicht genervt über die immergleichen Interview-Fragen hinzugefügt, und so lautet ihre Widmung denn auch «Für euch, schwarze Schafe», – und damit ist hier wirklich nicht die Hautfarbe gemeint!

Ein solches schwarzes Schaf nämlich ist in diesem zweiteilig aufgebauten Roman Mick, ein sympathischer Taugenichts, gutaussehender Womanizer und arbeitsscheuer Hedonist, für den Partyfeiern der Lebensinhalt ist, der mangels Berufsausbildung allerlei fragwürdige Geschäfte betreibt und schließlich mit zwei Freunden einen Club aufmacht. Auch als er Delia kennenlernt, eine angehende Juristin, die ihn selbstlos mit durchfüttert, ändert das nichts an seinem unsteten Leben mit seinen schrägen Kumpels. Eine leichtfertig eingefädelte Drogengeschichte nimmt beinahe ein schlimmes Ende, und Delia verlässt ihn schließlich, als sie herausbekommt, dass er sich heimlich hat sterilisieren lassen, obwohl sie sich doch so sehnlich ein Kind von ihm wünscht. Er landet ziemlich abgebrannt auf einer thailändischen Insel, beschließt dort eine radikale Wende in seinem Leben und begegnet uns am Ende als Yogalehrer wieder. Ganz anders im zweiten Romanteil Gabriel, sein von wohlhabenden Adoptiveltern großgezogener Halbbruder, ein humorloser Kontrollfreak, dessen Leben immer nach Plan verläuft. Er geht nach London, wird ein weltweit erfolgreicher Stararchitekt und führt mit Frau und lustlosem, schwierigem Sohn ein luxuriöses, straff durchorganisiertes Leben. Bis ein zu Unrecht rassistisch gedeuteter, Burnout bedingter Ausraster den Workaholic aus seinem rastlosen Leben herausreißt und er unfreiwillig eine längere Auszeit in Brasilien nehmen muss.

Beide umfänglich etwa gleichen Romanteile sind chronologisch erzählt. Der erste Teil von Mick umfasst die Jahre von 1985 bis 2000, gefolgt von einem «Intermezzo» genannten Zwischenteil über den Vater der beiden Protagonisten. Im zweiten Teil dann wechselt die Perspektive, in kurzen, getrennt erzählten Kapiteln von der Jahrtausendwende an, jeweils zwischen Gabriel und seiner Frau Fleur als Ich-Erzähler. Es folgt ein im Jahr 2017 angesiedelter Epilog, der, ohne in ein kitschiges Happy-End abzugleiten, eine Art friedlichen Showdown beschreibt.

Die Charaktere der beiden Frauen sind ebenso verschieden wie die der Männer, die auf der Suche nach ihrer Identität, nach ihrem Platz im Leben sind. Jackie Thomae enthält sich dabei aller moralischen Wertungen, vergleicht nicht die sich diametral gegenüberstehenden Wege der Halbbrüder. Sie zeigt uns, geradezu beiläufig erzählt und durchaus ironisch, ein auf bürgerlichem Niveau angesiedeltes soziales Gefüge, das spätestens nach der Wende unaufhaltsam in einen Konsumfetischismus einzumünden scheint. Ein glaubhaft beschriebenes Figurenensemble begegnet dem Leser in diesem vielschichtig angelegten Roman, der in einer lockeren, flockigen Sprache das Zeitkolorit stimmig einfängt und dabei gut unterhält. Mehr aber auch nicht, gedankliche Tiefe sucht man vergebens, Anlässe zu eigenem Weiterdenken finden sich ebenfalls keine, alles bleibt sehr oberflächlich und wirkt dadurch auch nicht nach. Ein Symptom der Zeit?

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Das Feld

Seelisch bereichernd

Nach zwei ebenfalls erfolgreichen Vorgängern ist dem österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler mit dem aktuellen Roman «Das Feld» erneut ein Bestseller gelungen. In Abkehr von seinen bisherigen Themen hat er sich narrativ dabei dem Tod gewidmet, und zwar aus einer ungewöhnlichen Perspektive, es sind die Toten selbst, die da post mortem erzählen. Als Kosmos dient ihm eine fiktive Kleinstadt, und sein Romantitel weist als erzählerischen Quell den Ort aus, auf dem ein alter Mann Stimmen hört, den Friedhof von Paulstadt, dort nur «Das Feld» genannt. Kein gefälliger Erzählstoff also, ein Tabuthema auch noch, und trotzdem ein Bestseller?

Im ersten Kapitel «Die Stimmen» sinniert der alte Mann, auf seiner vermoderten Holzbank inmitten des Gräberfeldes sitzend, über die Toten, die rings um ihn herum ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. «Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden.» Es sind 29 Gestorbene, die da als Ich-Erzähler in ebenso vielen, unterschiedlich großen Kapiteln zu Wort kommen und von ihrem Leben und Sterben erzählen, wobei sich ihre Wege immer wieder kreuzen in einem lockeren Erzählgeflecht. Die Liebe ist natürlich ein Thema, von gescheiterten Beziehungen bis zum Händchenhalten noch im Tod, vom Sex mit einem dicken Geliebten bis zur Frau mit 67 Männern, von denen sie nur einen geliebt hat. Ein verwirrter Pfarrer zündet seine Kirche an, ein arabischer Gemüsehändler bringt die Asche seiner Eltern in die Heimat, ein korrupter Bürgermeister berichtet in Briefform von seinen Schandtaten, ein Spielsüchtiger zerstört sein Leben, ein Junge begeht Suizid im Froschteich, ein anderer erzählt von dem Autounfall, bei dem er stirbt. Wir begleiten den Briefträger auf seiner Runde, der Autohändler erlebt den glücklichsten Tag seines Lebens, der beste Freund verschwindet spurlos für immer, ein Bauer verkauft listig sein wertloses Land. Vom beruflichen Aufstieg eines Zeitungsverlegers wird erzählt und vom Niedergang eines Schuhgeschäfts, vom Sterben einer Hundertfünfjährigen und am Ende auch von einer harmlos scheinenden Verletzung im Urlaub. «Was ist das für ein Strich, Mama? Was meinst du? Der rote Strich an deinem Arm, schau mal, er sieht aus wie eine Straße!» Die Familie ist auf der Heimfahrt, schon kurz vor dem Ziel. «Fred sieht mich an. Dann schaltet er einen Gang zurück und gibt Gas. Von jetzt an geht es schnell» endet das Kapitel lapidar.

Erstaunt hat mich, dass ein Roman über das Sterben und den Tod so entspannend sein kann. Robert Seethaler erzählt sehr gelassenen vom Leben bis zu seinem Ende, wobei es hier kein Totenreich gibt wie bei Dante, weder Himmel noch Hölle, er weist den Toten lediglich eine Stimme zu und lässt sie ganz selbstverständlich mit den Lebenden kommunizieren. Seine Herangehensweise dabei geht konsequent von der menschlichen Würde aus, er diffamiert seine Figuren nicht, sondern beschreibt sie wertfrei mit wenigen treffenden Worten, geradezu plastisch, und zeichnet damit stimmig ein auf seinen Wesenskern reduziertes Panoptikum gelebten Lebens.

Der Autor hat es vorgezogen, seinen Figuren, die ja allesamt das Sterben bereits hinter sich haben, eine einheitliche, klare und treffsichere Sprache zu unterlegen. Bekanntlich macht der Tod alle gleich, und so ist es thematisch angemessen und auch logisch, auf eine unterschiedliche Diktion zu verzichten bei diesen jenseitigen Stimmen. Außerdem reduziert der Autor mit seinem narrativen Kunstgriff das Jenseits gekonnt auf das rein Sprachliche. Und was da episodenweise ziemlich gelassen erzählt wird, das kann man nur als unpathetische Antwort auf die Sinnfrage deuten, es sind jedenfalls überraschende Reflexionen und selten vernommene Lebensweisheiten. Der seines fraktionellen Aufbaus wegen zwar nicht gerade leicht zu lesende, aber versöhnlich stimmende Roman ist insoweit auch existenziell sehr berührend, – seelisch bereichernd ist er als zeitloses Werk allemal.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Letzte Freunde

Vom Kommen und Gehen

Wie die anderen beiden ist auch der letzte Band der Romantrilogie von Jane Gardam mit dem Titel «Letzte Freunde», 2016 auf Deutsch erschienen, völlig eigenständig zu lesen, ohne Cliffhanger also. Mit großem Geschick nämlich hat die Grande Dame der englischen Belletristik ihren üppigen Erzählstoff um die beiden Erfolgsjuristen und die Frau, die zwischen ihnen steht, aus den unterschiedlichen Blickwinkeln auf diese drei dominanten Figuren heraus entwickelt. So steht im ersten Band «Ein untadeliger Mann» Old Filth alias Edward Feathers im Fokus, im zweiten, «Eine treue Frau», seine Frau Betty und im vorliegenden dritten nun der ewige Rivale und Nebenbuhler Terry Verneering. Alle drei sind übrigens tot, wenn der Roman beginnt, im Wesentlichen wird also in ausgedehnten Rückblenden erzählt, und was man da so erfährt, ist oft schon aus den beiden anderen Bänden bekannt, der Reiz liegt in den jeweils verschiedenen Perspektiven.

Als berühmte Juristen der britischen Kronkolonie Hongkong haben die beiden ungleichen Männer schon manchen Strauß vor Gericht ausgefochten. Die hochgeachteten Koryphäen des Baurechts hassen und beneiden sich gleichermaßen, der «untadelige», gepflegte, überkorrekte Gentleman «Old Filth» und der ebenso lebenslustige wie attraktive Frauenheld Terry, den die mit Feathers verheiratete Betty ein Leben lang begehrt. Durch Zufall nach ihrer Pensionierung in einer kleinen Ortschaft der Grafschaft Dorset zu Nachbarn geworden, gehen die ungleichen Männer sich geflissentlich aus dem Weg, ehe sie nach Bettys Tod als einsame alte Herren doch noch zueinander finden. Das alles taucht als narrativer Hintergrund immer wieder auf, wenn Jane Gardam in gewohnt rasantem Tempo die Lebensgeschichte von Terry erzählt. Sie tut dies in verschiedenen Zeitebenen, die sie virtuos wechselt, wobei der Zeitrahmen das gesamte zwanzigste Jahrhundert umfasst mit all den Umbrüchen, die der Niedergang des British Empire mit sich gebracht hat, aber auch die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

Bemerkenswert plastisch ist die Figurenzeichnung, neben den drei Helden der Trilogie tauchen hier ergänzend eine ganze Reihe weiterer Personen auf, die Terrys Lebensweg begleitet haben, allesamt auf ihre Weise originelle, oft auch recht skurrile Figuren. Mit schwarzem britischem Humor durchtränkt wird dabei aber nicht geschwätzig alles haarklein vor dem Leser ausgebreitet, der hintersinnige Plot lebt auch von dem diskret Ausgespartem, vom beharrlichen Schweigen des zumeist hoch betagten Figurenensembles, von den kleinen Geheimnissen in einem kunstvoll geknüpften narrativen Netz. Das Kommen und Gehen als ewiger Ablauf allen Lebens wird hier in den zurückgelassenen eigenen Kulissen, im ernüchternden Faktum des Weiterlebens der vielen anderen gespiegelt, der Nachgeborenen. Die Häuser wurden verkauft, neue Leute sind eingezogen, das ehemalige Leben darin ist schon bald nicht mehr erkennbar, alle Spuren sind inzwischen verwischt.

Und doch keimt in diesem geriatrischen Roman zaghaft noch die Hoffung auf, sind nicht alle Wege verstellt, selbst wenn dies kitschig erscheinen mag am Ende. Vorzuwerfen aber ist der Autorin das Zuviel an Zufällen, wer wem wann ganz unverhofft über den Weg läuft, wer zufällig auf der Suche nach einem Job in ein Büro hineinstolpert, als dessen Erbe er sich dann unerwartet erweist. Die Lebensgeschichte von Terry ist wahrlich märchenhaft geraten, und auch bei den aberwitzigen Todesarten, – und es wird viel gestorben in diesem Roman -, wird die Nachsicht des Lesers auf eine harte Probe gestellt. Letztendlich aber verzeiht man Jane Gardam solche fiktionalen Übertreibungen, denn die Lektüre ist trotzdem bereichernd, anschaulich und humorvoll wird außerdem die oft schrullige Mentalität der Briten dargestellt. Und auch die Weisheit eines langen Schriftstellerlebens ist – last, but not least – eingearbeitet in diesen äußerst vielschichtigen Roman, der genau an seinem Zuviel aber letztendlich scheitert.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Ein untadeliger Mann

gardam-1Old Filth

2015 ist erstmalig ein Roman der inzwischen 87jährigen britischen Autorin Jane Gardam auf dem deutschen Buchmarkt publiziert worden, – daheim wird sie von ihren treuen Lesern schon lange geradezu hymnisch verehrt. «Ein untadeliger Mann» ist Teil einer Trilogie und deutet bereits im Titel auf die Problematik hin, die der Roman behandelt, die Diskrepanz zwischen idealisiertem Habitus eines Mannes und seiner in der Regel weit weniger widerspruchsfreien seelischen Realität, die so gar nicht untadelig ist, aber bestens kaschiert wird. Der vorliegende Roman, dessen Erscheinen die Schriftstellerin in Deutschland überhaupt erst bekannt gemacht hat, wird allenthalben gefeiert, nicht nur als Neuentdeckung.

Edward Feathers, ehemaliger Kronanwalt in Hongkong mit legendärem Ruf, der ihm den etwas gehässigen Spitznamen Old Filth eingetragen hat, Akronym für Failed In London Try Hongkong, ist mit seiner Frau Mitte der neunziger Jahre nach England zurückgekehrt. Das kinderlose Paar lebt sehr zurückgezogen auf dem Land in Dorset in einem komfortablen Ruhestand, als Betty plötzlich stirbt. In der unerwartet entstandenen Leere beginnt der mehr als achtzigjährige Sir Edward, sein Leben kritisch zu überdenken, sucht wieder den Kontakt zu alten Weggefährten, unternimmt sogar noch weite Reisen, um sie wiederzusehen. Diese in der Jetztzeit angesiedelte Rahmenhandlung wird ausgefüllt von zahlreichen Rückblenden bis in die Zeit des British Empire, angefangen von Eddies Geburt in Malaysia, bei dem seine Mutter starb, über seine Jugend bei einer eingeborenen Ziehmutter, bis ihn schließlich der Vater nach England zu einer Pflegefamilie schickt, damit aus ihm ein richtiger Engländer wird. Seine traumatischen Erlebnisse dort enden erst, als er aufs Internat kommt, wo er einen Freund findet, dessen Familie ihn wie einen eigenen Sohn annimmt. Der Zweite Weltkrieg zerstört diese Bindungen, Edward absolviert anschließend mit besten Noten sein Oxford-Studium als Jurist, verliert jeden Kontakt zu seinem Vater, den er als Fünfjähriger zuletzt gesehen hatte, und geht schließlich, als er in London keine Karrierechancen für sich sieht, nach Hongkong, wo er zu Ansehen und Reichtum gelangt und auch seine Frau findet.

Die Autorin hat ihren Roman den Raj-Waisen gewidmet, die wie Eddie als kleine Kinder von ihren in den Kolonien lebenden Eltern nach England geschickt wurden, um dort die Schule zu besuchen, man nannte sie auch Empire-Waisen. Dass in dieser familiären Konstellation die Ursache schwerer Traumata begründet ist, liegt auf der Hand. Der stets die Contenance wahrende Sir Edward jedenfalls ist im Innersten zerrissen, hat vieles aus seinem Leben nicht verarbeitet und versteckt seine psychische Unsicherheit hinter einer snobistischen Fassade. Mit viel Empathie deckt die Autorin Schicht um Schicht das Innerste ihres Helden auf, legt anschaulich die seiner Bindungsunfähigkeit und Asexualität zugrunde liegenden emotionalen Defizite bloß.

Der Plot wird sprachlich kreativ in gut durchdachten, immer wieder Ort und Zeit wechselnden Kapiteln erzählt, die zumeist von realistisch wirkenden Dialogen getragen werden, wobei die Figuren glaubhaft charakterisiert sind und durchaus sympathisch wirken, allesamt very british natürlich. Es gelingt der Autorin mit einer ebenso lockeren wie klaren Sprache, zwei Weltkriege und andere Desaster in ihre Handlung einzubinden, ohne dass ihre Geschichte jemals elegisch zu werden droht. Der von seiner Thematik her nicht gerade neue Erzählstoff von den Brüchen im Leben und den verpassten Gelegenheiten bietet dem Leser ganz nebenbei auch einige Einblicke in historische Zusammenhänge. Für nicht anglophile Leser wie mich anfangs zäh zu lesen, kommt der Roman in der zweiten Hälfte etwas mehr in Fahrt, erfordert jedoch der fragmentarischen Erzählweise wegen einiges an Aufmerksamkeit. Alle rundum begeisterten Leser aber dürfen sich schon auf den nächsten Band der Trilogie freuen, der im kommenden Frühjahr erscheinen soll.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Kompass

enard-1West-östlicher Divan

Als «Anti-Houellebecq» hat der französische Schriftsteller Mathias Énard seinen mit dem Prix Goncourt prämierten Roman «Kompass» bezeichnet. Damit auf Houellebecqs Roman «Unterwerfung» anspielend, stellt er dessen Islamtrauma seine eigene, geradezu ehrfürchtige Perspektive auf Orient und Islam gegenüber. «In diesem Preis steckt eine Botschaft des Friedens» war Énards begeisterter Kommentar zur Preisverleihung. Und tatsächlich ist sein 2015 erschienener Roman geeignet, unser von Horrornachrichten geprägtes Bild vom Orient neu zu justieren, auch ohne dass wir dazu des titelgebenden Scherzartikels bedürfen, jenen Kompass nämlich, der dem Protagonisten von seiner Angebeteten geschenkt wurde und der durch seine trickreiche Konstruktion immer nach Osten weist.

Held des Romans ist der Musikwissenschaftler Franz Ritter aus Wien, den eine noch nicht endgültig bestätigte Diagnose seines Arztes in eine tiefe Krise stürzt. Quasi in Echtzeit erleben wir als Leser eine schlaflose Nacht des Ich-Erzählers, der sinnierend zurückblickt auf sein womöglich bald endendes Leben. Dabei rekapituliert er seine Forschungen über den Einfluss des Orients auf europäische Komponisten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse. Seine obsessiv betriebenen Studien erfahren eine kulturelle Erweiterung in Richtung Literatur, Malerei und Architektur, als er die französische Orientalistin Sarah aus Paris kennen lernt. Immer wieder trifft er sie auf seinen Forschungsreisen, begleitet die geradezu besessene, brillante Forscherin auf Exkursionen an abgelegene historische Stätten, begegnet ihr auf Konferenzen und Kolloquien rund um den Erdball. Obwohl er die schöne Französin begehrt, bleiben seine zaghaften Annäherungsversuche erfolglos, ihre überaus innige Beziehung ist rein freundschaftlich geprägt, sie basiert auf dem gemeinsamen Faible für alles Orientalische. Erst gegen Ende des Romans kommt es in Teheran endlich doch zu einer Liebesnacht, bei diesem einen Mal bleibt es dann allerdings auch. Immer wieder bedauert Ritter bei seiner nächtlichen Grübelei seine Zaghaftigkeit ihr gegenüber, er hat es vermasselt, war nicht beherzt genug. Sarah wendet sich mit ihren Studien dem Buddhismus zu und verschwindet schließlich in ein Lamakloster, er hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, erkehrt nur noch schriftlich mit ihr.

Diese nur im Hintergrund des Erzählten zuweilen durchscheinende Liebesgeschichte sowie die Ungewissheit über Ritters Krankheit verleihen dem ansonsten fast handlungslosen Roman eine gewisse Spannung. Im Wesentlichen lebt der Roman von einer unglaublichen Fülle von Berichten, Erkenntnissen, Fakten, Anekdoten, Reiseerlebnissen, Inspirationen und Reflexionen über die Beeinflussung westlicher Kultur durch den Orient, wobei die Studierstube des Wissenschaftlers in Wien durchaus symbolträchtig als Tor zum Orient fungiert. Énards Material ist so umfangreich und tiefgründig, dass er viele Leser damit eindeutig überfordern dürfte. Sein Studienobjekt ist zudem derart speziell, dass man seinen fragmentarisch aneinander gereihten Erzählungen unmöglich in all die vielen Verästelungen folgen könnte. Trotz unvermeidlicher Verständnislücken also ist die Lektüre gleichwohl sehr bereichernd, nicht nur weil man, neben kaum bekannten Künstlern und Geistesgrößen des Orients, auch vielen berühmten Europäern aus Kultur und Politik begegnet und dabei unvermutet Querverbindungen entdecken kann, sondern auch, weil man en passant seinen Horizont beträchtlich erweitert, viele neue Einsichten gewinnt.

Dem Autor geht es mit seinem Roman nicht um das aktuelle Trauma im Verhältnis zum Islam, sondern um die verschiedenartigen Kräfte, die vom Okzident aus den Orient beeinflusst haben, sowie vice versa um die Rolle als Inspirationsquelle, die der Orient für den Westen gespielt hat und noch immer spielt. Insoweit ist Wien als kulturelles west-östliches Tor in beide Richtungen offen, der Roman endet denn auch beziehungsreich mit dem Wort «Hoffnung».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin