Andalusien. Eine literarische Einladung

Andalusien. Eine literarische Einladung. Die reiche Kulturlandschaft Andalusiens bot sogar dem Spaghetti-Western Platz. Denn neben großen Städten bietet eine der abwechslungsreichsten Regionen des Kontinents einen über die Jahrhunderte hinweg gewachsenen Schmelztiegel der Kulturen und ist und bleibt ein Sehnsuchtsort romantischer Reiselust.

Sonne, Strand um mehr

Costa del Sol, Skifahren in der Sierra Nevada oder Wochenendtrip, die “literarische Einladung nach Andalusien” bietet auch mal einen guten Sherry, Kobolde und andere Flamenco-Fans, den Traum eines jungen Marokkaners an der Straße von Gibraltar sowie das Córdoba der Kalifen und das der Touristen an. Aber auch die Verwirrungen einer Austauschstudentin in Sevilla kommen hier zur Sprache. Andalusien war lange Zeit auch Heimat des Islams und eben dort entstand auch eines der eindrücklichsten Traktate über die Spielarten der menschlichen Liebe, wie die Herausgeber im Vorwort betonen.

Andalusien. Eine literarische Einladung

Von Andalusien aus wurden auch die amerikanischen Häfen erstmals in der Geschichte angesteuert, um dort das sagenumwobene Eldorado zu finden. Literarisch kann Andalusien immerhin mit der Erfindung des Schelmenromane (novela picaresca) punkten oder später in der Romantik mit einem Boom an Texten über Gitanos, Stierkampf wie etwa “Carmen”, das später auch als Oper umgesetzt wurde. Eine weitere Blütezeit war die Zeit vor dem Bürgerkrieg und später Jahrzehnte nach dem Krieg. Die vorliegende Anthologie ist nach den unterschiedlichen Provinzen Andalusiens geordnet und beginnt mit Sevilla, Cadiz, Huelva, Cordoba, weiter über Malaga, Granada, Jaén bis Almeria und Coda.

Andalusien: In vino veritas

Ein Brief von Nancy an Betsy, einer amerikanischen Austauschstudentin, von Ramon J Sender zeigt humorvoll Missverständnisse zwischen beiden Kulturen auf, die zumeist auf Stereotypen beruhen. Aber immerhin lernt Nancy warum es in Spanien keine Gorillas braucht, um Guerilla-Kriege zu führen. In “begnadetem Zustand” wandeln die Protagonisten in Arturo Perez-Reverte’s Geschichte über die Brücken Sevillas hinein in die Kneipen, von einer zur anderen, “wie ein Rudel Wölfe in der Finsternis der Nacht”. Federico Garcia Lorca klärt uns auf, warum kein Flamenco-Künstler Südspaniens jemanden “berühren” kann, “solange sich der Kobold nicht zeigt”. Die mythische Figur ist eine Art Muse auf dessen Existenz alle Künstler Andalusiens schwören. Bei Maria Duenas erfährt man, was einen guten Wein ausmacht. Es sind die fünf F: fortia, formosa, fragantia, frigida et frisca (Stärke, Schönheit, Duft, Frische und Reife).

Bellavista auf Stadt und Land

In “Punta Marroqui” von Nieves Garcia Benito pfeift der Protagonist Hilario ununterbrochen dasselbe Lied, wenn er fischen geht. Seine Frühpension erlaubt ihm bei weniger Geld ein angenehmes Leben, wenn nur die Möwen nicht so schreien würden. “Nicht ein einziges Mal hörte ich jemanden das Wort Liebe aussprechen”, beklagt eine Stimme in “Bellavista” (Juan Cobos Wilkins). Es sei das einzige Wort, das wirklich heile. Liebe. Juan Eslava Galan beschreibt in seinem Beitrag Cordoba als Stadt mit einem Naturschutzgebiet mitten im Zentrum, das Isabella I. anlegen habe lassen. Der Ritter Dia Sanchez de Jaen soll allerdings darin im Wasser ertrunken sein, obwohl er Zeit seines Lebens nur Wein getrunken haben soll. Auch die Frauen kommen zu Wort. Maria Sanchez beschreibt in “Land der Frauen” warum diese das Land meiden und die Stadt bevorzugen. Im Anhang befinden sich Kurzbiografien und Werkangaben zu den zitierten Autor:innen. Mit weiteren Texten von María Dueñas, Ildefonso Falcones, Federico García Lorca, Almudena Grandes, Sara Mesa, Antonio Muñoz Molina, José F. A. Oliver, Arturo Pérez-Reverte, María Sánchez, Ramón J. Sender und vielen anderen.

Marco Thomas Bosshard (Hrsg.), Volker Jaeckel (Hrsg.)
Andalusien
Eine literarische Einladung
SALTO [279].
2023, 144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1378-8
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Anthologie, Literatur, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Irland. Eine literarische Einladung

Irland. Eine literarische Einladung

Irland. Eine literarische Einladung. Im keltischen Kalender bezeichnet der Vollmond im November die Geburt eines neuen Jahres und symbolisiert einen Endpunkt, den Tod des alten Jahres. In der heidnischen Tradition ist er unter dem Namen “Klagemond” bekannt. In vielen Kulturen wird dieser Vollmond mit Tod und Verlust assoziiert, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Manche nennen ihn “Schneemond” oder “Nebelmond” und heute, da ich in einem Seenebel fröstele, der die Sonne verbirgt, kann ich beides nachvollziehen.”, schreibt Kerri Ní Dochartaigh in ihrem Beitrag, “Dünne Orte”, zu vorliegender Anthologie. Die Tage von Samhain, bei uns auch als Halloween bekannt, lüften die Schleier zwischen den Welten, der Mond ist der letzte vor der sog. Wintersonnenwende. Der Schilfmond wurde auch nach den Schilfgräsern, den Wächtern, benannt, die botanische Zeichen für Samhain sind. Ihre “dünnen Orte” erlauben uns, innezuhalten im Fluss der Zeit. So wie wir am Tag der Toten, Allerseelen, innehalten, um unseren Vorfahren zu gedenken und sie zu ehren.

Irland im Ausverkauf

Kevin Barry eröffnet in vorliegender von Paul McVeigh zusammengestellten Anthologie den Reigen irischer Literatur. In Ox Mountains Todeslied, das im Stile einer amerikanischen Pulp-Short Story verfasst ist, sind die Männer noch aus Hartholz geschnitzt und leiden unter den Frauen.”Ein Canavan kannte auch den größten Trost, der einem Mann zuteil werden kann – dass man ein Mädchen zum Lachen bringen konnte.” Barry stammt aus Limerick. Ox Mountains Todeslied erschien erstmals im New Yorker und in seiner Anthologie “That Old Country Music“. Einen ganzen Berg muss der Protagonist in Jan Carson’s Beitrag, “Nur ein besserer Hügel”, versetzt werden. Der Slemish Mountain in Ballymena wird abgetragen, um nach Japan verschifft zu werden. Darren’s Dad kriegt deswegen einiges zu hören, aber es hilft alles nichts, er braucht das Geld. Vom inzwischen kosmopolitischen Belfast berichtet Riley Johnston in “Gemeinsamkeiten”, wo sie eine Dating-Situation beschreibt, wie sie wohl nicht nur Englischlehrerinnen passiert. Herausgeber Paul McVeigh ist mit einem Auszug aus seinem Roman “Guter Junge”, der ebenfalls bei Wagenbach erschienen ist, vertreten. Sein Mickey Donnelly schafft es, freihändig auf Napoleon’s Nose zu stehen und das Gleichgewicht zu behalten.

Here Are the Young Men

Nach Derry, Londonderry oder Doire entführt uns Darran Anderson mit seinen “Kartographien“. Auch hier geht es um die Zeit: “Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr werden wir zu einer Art Fiktion, sogar für uns selbst.” Ein Spiegel könne das Verstreichen der Zeit nicht so verheerend offenbaren wie eine Fotografie. Und obwohl wir alle Exilierte, ja Kosmopoliten, seien, würde der Mittelpunkt des Universums stets jener Ort bleiben, an dem wir aufgewachsen sind. “Vielleicht ist Stolz nicht das richtige Gefühl, doch überlebt zu haben und dabei im Großen und Ganzen anständig geblieben zu sein – das ist nicht wenig.” Mit ganz anderen Problemen kämpft die Protagonistin in Evelyn Conlon’s “Verstörende Worte”. Binnen eines Tages sterben beide ihrer Eltern und anfangs ist es nicht so klar, wer aus Liebeskummer oder wer zuerst starb. Dave Lordan, ein Gen-X-Poet, erzählt vom Fall der Mauer und den Bomben in Bagdad, die fielen, während er in seiner Jugend in West Cork die “time of his life” hatte. Die Leute in Cork sind stolz darauf, dass sie den Unabhängigkeitskrieg gewannen, während ihn der Rest des Landes verlor. Auch huldigt Lordan den Cureheads, Grufties und New Romantics, die den Weg für die heute weit verbreitete Akzeptanz von Nicht-Cis-Menschen vorbereitet hätten. Auch der aus Dublin stammende Rob Doyle bläst in ein ähnliches Horn. Sein Beitrag “Matthew” stammt aus seinem zweiten Roman “Here Are the Young Men”.

Weitere Beiträge von Darran Anderson, Kevin Barry, Evelyn Conlon, Rob Doyle, Liam O’Flaherty, Riley Johnston, Dave Lordan, Frank O’Connor, Éilís Ní Dhuibhne, Jan Carson, Kerri Ní Dochartaigh und nicht zuletzt Paul McVeigh selbst.

Paul McVeigh (Hrsg.)
Irland
Eine literarische Einladung
Aus dem irischen Englisch von Hans-Christian Oeser u. a.
SALTO [268]. 17.3.2022
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1367-2
Wagenbach Verlag
20,– €


Genre: Anthologie, Irland, Literatur, Sammelband
Illustrated by Wagenbach

Hinterher

Hinterher – vielversprechendes Debüt

Hinterher. Liebeskummer. Wie kann man sowas überhaupt überleben? Wer dachte dieses Lebensgefühl, Liebeskummer, sei nur ein Problem von Pubertierenden wird in “Hinterher” eines besseren belehrt. Im Debüt des in Hannover geborenen Finn Job wird dem guten alten Liebeskummer ein trashiges und gleichzeitig intellektuelles Denkmal gesetzt, das so richtig reinhaut. Ein Roman wie ein Film, kurz und schmerzlos und direkt in die Arterien. So mag man Literatur.

Wir Kinder von Neukölln

Chaim, die große Liebe von “Boy”, wie ihn sein Freund Francesco liebevoll nennt, hat sich nach Israel abgesetzt. Boy bleibt allein in Berlin-Neukölln zurück und wird von einem Fahrrad angefahren, das ihm seine missliche Lage erst so richtig zu Bewusstsein bringt. Als im selben Moment Francesco mit dem Porsche Cayenne seiner Mutter um die Ecke schießt, steigt Boy ein und es beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip in die Normandie. Dort soll er für Gédéon, einem Freund Francescos, ein altes Hotel wieder herrichten. Stattdessen hilft er dann aber Francesco, der eine verfallene Kirche mit Alufolie verkleiden will, um damit eine ganz bestimmte Botschaft zu transportieren. Da die beiden aber schon während ihrer Autofahrt in die Normandie nicht zu koksen aufhören konnten, gelingt schließlich weder das eine noch das andere Projekt.

Dem Leben & der Liebe “Hinterher”

Dazwischen erfährt der Leser viel über die Diskurse in der sich die Neuköllner junge Erwachsenenwelt befindet. Dass Schwulsein in Neukölln immer noch ein Problem zu sein scheint und es besser ist, sich dort nicht auf der Straße zu küssen, müssen Chaim und Boy am eigenen Leib verspüren. Aber dass dann selbst die eigene WG zum “Pack” gehört, das andere aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgrenzt, wiegt noch schwerer. “Pack” ist nämlich genau das Wort, das Boy für ihre Verfolger verwendet und auch ihn aus dem Kreis seiner politisch (über)korrekten Freunde ausschließt. Auch deswegen versprach die Flucht mit Francesco in die Normandie ein neues L’Chaim, ein neues “Leben”.

Wilde Flucht im Cayenne

Il n’y a pas de hors-texte“. Als dann die Drogen ausgehen – oder zumindest deren Qualität nachlässt – wird alles noch viel schwieriger und es gibt bald kein Entrinnen mehr. Dass man mit Anfang zwanzig schon so kaputt sein kann, ist kaum zu glauben, aber wohl in den Großstädten dieser Welt längst bittere Realität, wie wir ja schon seit Christiane F. wissen, die sogar noch viel jünger war, als sie auf den berühmten Hund kam. Finn Job hat seine surreale Reise in einer packenden Sprache geschrieben, die richtig über die Seiten fliegen lässt und bis zur letzten Sekunde spannend und hochtrabend bleibt. “Es war, als hätte ich mein Leben angehalten und wäre dennoch sehr alt geworden.” Finn Job bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Populärkultur wie Songs u.ä., sondern auch viele literarische Vorbilder und kennt auch einige gute Maler.

Hinterher: vielversprechendes Debüt

Seine Referenzen sind gut nachvollziehbar und lohnen dem Nachverfolgen. Einer, der seine Hausgaben gründlich gemacht hat. Denn seine sprachlichen Bilder sitzen auch farblich. Er begibt seine Protagonisten in absurde und aberwitzige Situationen und es ist ein wahres Vergnügen, dabei förmlich zuzusehen, wie den beiden alles entgleitet. Vieles mag als purer Zynismus abgetan werden, aber hat ein Mensch, der vor enttäuschter Liebe buchstäblich zerbricht, nicht jedes Recht der Welt?

Ein Roman-Ende das förmlich nach einer Fortsetzung schreit. Bitte mehr!

Finn Job
Hinterher. Roman
2022, 192 Seiten. Klappenbroschur
ISBN 978-3-8031-3348-9
Wagenbach Verlag
Buch 22,– € / E-Book 18,99 €


Genre: Große Liebe, Kultur, Popkultur, Roman
Illustrated by Wagenbach

Ein Tag wird kommen

Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen

 

Ein Tag wird kommen. Vergriffen, aber als WAT wieder erhältlich ist diese Geschichte der Römerin, die auch mit “Das Wasser des Sees ist niemals süß” (in 20 Sprachen übersetzt) bei Wagenbach vertreten ist. Caminito ist in Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano aufgewachsen. Sie arbeitet auch als Herausgeberin und Lektorin und lebt in Rom.

Italien zwischen Katholiken und Anarchisten

Ein Tag wird kommen” (Original: Un giorno verrà) ist eine italienische Familiengeschichte in Zeiten des aufkeimenden Faschismus. Einer Zeit in der mehr als die Hälfte der Ernte an den Padrone ging. Er entschied auch was Gesetz war, wer am Feld arbeitete, wer heiratete und welche der überzähligen Kinder bleiben durften. Bis eines Tages ein gewisser Lupo beschließt nicht mehr zu arbeiten, auch Petri und Paoletto sowie Gaspare schließen sich an. Bruno der Sozialist lächelt. “Sie lassen uns fürs Paradies bezahlen, sie verlangen Geld von denen die keins haben, für etwas, das nie jemand gesehen hat.” Anhand der beiden Bäckerssöhne Nicola und Lupo, die verschiedener nicht sein könnten, erzählt die Autorin die Lebenswelten zweier verschiedener Brüder, zwischen denen eine Lüge, verborgen hinter Klostermauern, steht. Lupo (ital.:Wolf) adoptiert übrigens einen Wolf, den er Cane (ital.: Hund) nennt. Aber was ihn wirklich an sein Dorf bindet, das er so gerne verlassen würde, ist sein Bruder, der “Krumenbub“, für den er sich verantwortlich fühlt.

Ein Tag wird kommen – als WAT noch erhältlich

Ein Tag wird kommen: un giorno verrà

In den Anmerkungen am Ende ihres Textes erzählt die Autorin auch von ihrem Urgroßvater, der Anarchist war. Er war irgendwo verschollen, aber sie hatte längst beschlossen ein Buch über die Anarchisten in den Marken zu schreiben, ein Buch über Nicola Ugolini und jene wie er, die an die Anarchie geglaubt und das Vorurteil von den Anarchisten als Bombenlegern, sinnlos Gewalttätigen und unheilbringenden Brisanten widerlegten. Aber gleichzeitig hat sie auch ein Buch über die Nonnen des Klosters von Serra und La Moretta (Maria Giuseppina Benvenuti, geboren als Zeinab Alif) geschrieben, den Protestakt des Augusto Masetti, die Settimana Rossi, den Ersten Weltkrieg und das Überlaufen der Sozialisten zur Fraktion der Kriegsbefürworter. Die Spanische Grippe, die revolutionären Bewegungen, die Zensur und auch die Auswanderung nach Amerika spielen ebenso eine Rolle, wie ihre Fantasie, die jene Lügen straft, die nur an die eine Wahrheit glauben. Wer lieber im Original liest, sei auf den Reclam Verlag verwiesen, wo “Caminito, Giulia: Un giorno verrà. Un romanzo di fede, speranza e anarchia” auf Italienisch erschienen ist. Der Untertitel lautet im Original: Ein Roman der Treue, Hoffnung und Anarchie.

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Quartbuch. 2020 272 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8031-3325-0
Vergriffen. Als WAT-Ausgabe erhältlich.
oder im Original: Un giorno verrà. Un romanzo di fede, speranza e anarchia.
Ital. Hrsg. von Sabrina Maag
Niveau B2 (GER) 347 S.
ISBN: 978-3-15-014122-9


Genre: Geschichte, Roman
Illustrated by Wagenbach

Alphabet

Peinlich

Der 2004 erschienene, sechste Roman der britischen Schriftstellerin Kathy Page ist nach siebzehn Jahren unter dem Titel «Alphabet» nun auch auf Deutsch erschienen. Wie die Autorin im Nachwort erklärt, war sie ein Jahr lang als «Writer in Residence» in einem britischen Männergefängnis tätig, machte sich eifrig Notizen über ihre Erfahrungen dort und begann mit einer ersten Niederschrift. Sie legte den Entwurf schließlich aber anderer Projekte wegen zur Seite, fand ihn erst zehn Jahre später bei ihrem Umzug nach Kanada wieder und stellte dann dort den Roman fertig. Herausgekommen ist dabei eine tiefgründige, psychologische Studie über einen jugendlichen Mörder und sein schwer nachvollziehbares Tatmotiv.

Simon Austen sitzt wegen Mordes lebenslänglich im Hochsicherheits-Trakt eines Gefängnisses. Als Vierjähriger wurde er von seiner Mutter einfach in einem Park allein zurückgelassen, sie nahm sich wenig später das Leben. Der kleine Junge kam in verschiedene Heime und wuchs bei Pflegeeltern auf. Im Knast lernt der ehemalige Teppichleger Lesen und Schreiben, holt seinen Schulabschluss nach und beginnt, verbotener Weise und auf verschlungenen Wegen an der Zensur vorbei, eine heimliche Korrespondenz mit einer kunst-interessierten, verwitweten älteren Frau, die einen Brieffreund sucht. Er verschweigt ihr seine wahre Identität, und als sie ihm schließlich eine gemeinsame Kunstreise vorschlägt, beendet er den Briefkontakt. Der inzwischen 29Jährige findet nun auf offiziellem Weg mit Tasmin eine angeblich 17jährige Brieffreundin, die sich sehr für seine Tat interessiert, nach Einzelheiten fragt und ihm sogar eine Schreibmaschine schickt, die er sich sehnlichst wünscht.

Auf ihr tippt er nun die Geschichte, die ihn zum Mörder machte: ‹Im Jahre 1979 lernte er bei der Arbeit die 20jährige Amanda kennen, lud sie spontan zum Essen ein und ging mit ihr anschließend in seine Wohnung. Dort forderte er sie auf, ihr Oberteil abzulegen, und danach, nun ihre Brüste anzufassen. Auf ihre erstaunte Frage, ob er denn nicht mehr von ihr wolle, antwortete er: «Das ist meine Art, es zu machen». Sie ging daraufhin ins Bad und kam splitternackt zurück, hatte sogar ihre Brille abgesetzt und trug stattdessen Kontaktlinsen. Ihr eigenmächtiges Handeln aber machte ihn rasend, er wollte allein bestimmen, was geschah, und so warf er sie wütend zu Boden und erwürgte sie!› Weil dieser ausführliche Brief aber viel zu umfangreich war, wurde er vom Zensor zurückgeschickt, und außerdem beendet Tasmins Vater endgültig ihren Briefkontakt, weil seine Tochter erst 14 Jahre alt ist und unter Depressionen leidet. Als Simons neue Betreuerin ihn nach seiner Tat befragen will, übergibt er ihr dann einfach den Brief, in dem ja alles drinsteht. Es folgen Verlegungen in andere Gefängnisse, er absolviert verschiedene Therapien und beginnt sogar ein geistes-wissenschaftliches Fernstudium.

Trotz aller eigenen Bemühungen und seiner manipulativen Fähigkeiten wird es Simon letztendlich wohl nicht gelingen, sich nach dreizehnjähriger Haft psychisch wirklich soweit zu verändern, dass er irgendwann tatsächlich Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung hätte. Zu rätselhaft erscheinen seine Motive, zu unabänderlich seine fest verankerten Verhaltensmuster. Dieses psychologische Drama glänzt vordergründig durch die entlarvenden Einblicke in das britische Haftsystem und all die verstörenden Gewaltexzesse, denen seine Insassen ausgesetzt sind, vor allem aber auch durch die seelischen Abgründe, in die der Leser hier zu blicken hat. Äußerst fragwürdig erscheint bei alledem aber der Transgender-Teil am Ende des Romans, bei dem sich Simons grobschlächtiger Zellengenosse Victor mit Hilfe von Medikamenten und durch Operationen nach seiner Entlassung zu einer lieblichen Charlotte umwandeln lässt. Das hat als spezielle Form der Selbstfindung rein gar nichts mit Simons Problemen zu tun, und dass die Zwei auch noch Gefallen aneinander zu finden scheinen, ist dann nur noch peinlich. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Leben mit dem Stern

Leben mit dem Stern. “Gestern wurde ich 53 Jahre alt, denn ich bin so alt wie dieses seltsame Jahrhundert“, schrieb Weil 1953 an einen Freund. Diesen Satz liest man mit Freude, denn so weiß man sogleich, dass der Autor sowohl die nationalsozialistische als auch die stalinistische Katastrophe “dieses seltsamen Jahrhunderts” überlebt hat. Für bedeutende tschechoslowakische Schriftsteller wie Josef Škvorecký, Ladislav Fuks, Ivan Klíma oder Jiří Kolář ist Jiří Weil heute ein großes Vorbild. Allerdings galt er in der ehemaligen Tschechoslowakei, seit der Veröffentlichung seines hier vorliegenden Romans 1949 bis zu seinem Tod 1959, als Unperson, ja sogar als “Schädling“.

Zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus

Wer diesen Roman “Leben mit dem Stern” liest, wird alsbald verstehen warum. Die totalitäre Katastrophe, die er in seinem Roman beschreibt, könnte sowohl eine kommunistische als auch eine faschistische Diktatur meinen. Tatsächlich saß der Autor schon in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion im Gulag, später dann als Jude im “Protektorat Böhmen und Mähren” ebenso in der Falle, wenn auch nicht im Lager, dem er sich zu entziehen wusste. 1933, vom Kommunismus begeistert, ging er nach Moskau, um dort als Journalist und Übersetzer marxistischer Literatur zu arbeiten. Nach dem Ausschluss aus der Partei und der Deportation nach Mittelasien im Zuge der ersten stalinistischen Säuberungen kehrte Weil 1935 dann aber doch wieder nach Prag zurück. “Leben mit dem Stern” beschreibt minutiös den Zeitraum der Umsiedlung bis zur Flucht in den Untergrund des Protagonisten Josef Roubíček. Dabei geht es aber vor allem um den Bewußtwerdungsprozess, ob er sich – so wie die anderen – in sein Schicksal fügen soll oder doch dagegen aufstehen soll. Hätte Jiří Weil es dann nicht getan, könnten wir dieses unglaubliche Zeugnis der wohl größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr lesen. Wie sich dann der Protagonist Josef Roubíček entscheidet, erfahren Sie auf den letzten Seiten des Romans. Jiri Weil gelang es durch einen vorgetäuschten Selbstmord.

Erschütternd authentisch über den Alltag des Holocaust

Philip Roth nannte “Zivot s hvezdou“, so der tschechische Originaltitel, “einen der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis. Ich kenne keinen vergleichbaren“. Weils Roman ist nämlich nicht nur ein sprachlich exzellent geschriebener Roman, sondern auch ein großes Stück Literatur mit seltenem Tiefgang. Josef Roubíček, ein ehemaliger Bankangestellter, darf aufgrund der Rassengesetze im besetzten Prag nicht mehr arbeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich sein Essen zum Überleben selbst zu organisieren. Da es ein kalter Winter ist, verheizt er nach und nach alle Möbel seiner kleinen Mansarde am Stadtrand. Zigaretten dreht er sich aus gefundenen Kippenresten und getrocknetem Laub, als Angehörige hat er nur noch einen Onkel und eine Tante, die im Prager Zentrum leben. Tagsüber ist er mit der Essensbeschaffung beschäftigt, abends füttert er einen ihm zugelaufenen Kater und träumt von Růžena. Sie kann nicht bei ihm sein, da sie verheiratet ist. Es wird aber nie ganz klar, ob sie nicht nur ein Tagtraum ist. Auch wenn sie es ist, die ihm stets rät zu fliehen. Rührend ist die Geschichte von seinem Kater, den er den (ungläubigen) Thomas nennt. Denn ebenso ungläubig und absurd ist das, was Josi (so nennt ihn Růžena) jeden Tag passiert. Auf allem liegt ein feiner Hauch von (absurdem) Humor und das, obwohl Jiří Weil das Schrecklichste beschreibt, was Menschen anderen Menschen je angetan haben. Angesichts des unglaublichen Leids, das ihm und anderen Verfolgten widerfahren ist, staunt man über die feine Feder dieses Schriftstellers, der beschreibt ohne anzuklagen, ohne Wut oder Hass, aber mit sehr viel Liebe und Verständnis für die Seinigen.

Gemeint: Totalitarismus von links und rechts

Die Sprache in der Jiří Weil den Weg in den Untergang des jüdischen Volkes schildert ist sehr schön und steht in krassem Widerspruch zur Handlung. Denn die Dystopie, die er beschreibt ist präzise beobachtet und könnte  in jedem Jahrhundert in jedem Land der Welt spielen. Natürlich ist das Protektorat und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei gemeint, aber stets vermeidet es Weil, die Deutschen direkt anzusprechen. Selbst wenn er von “ihrer Sprache” spricht, nennt er “sie” nie beim Namen. Dieser dramaturgische Kniff macht seine schreckliche Gegenwart zu einer noch erschreckenderen Zukunftsvision als etwa “1984” oder “Fahrenheit 451”. Der Totalitarismus und die Verfolgung einer Minderheit, im vorliegenden Fall die Juden, ist austauschbar und könnte überall passieren: Es kann jeden treffen. In der Absurdität der Anordnungen der Behörden liegt der eigentliche Terror und Schrecken. Die Besetzer behandeln die Bewohner der besetzten Gebiete wie Tiere, ihr Interesse und ihre Gier gilt allein ihren “Dingen”. Sie sehen keine Menschen, sondern nur Mittel zur Bereicherung und wen sie daran beteiligen, der wird mitkorrumpiert. “Teile und herrsche” wird zu einem Schreckensszenario des Alltags und schuld daran ist nur die “Hoffnung“. Und das perfideste daran ist, dass jene, die Widerstand leisten, zu den eigentlichen Schuldigen erklärt werden. So funktioniert eine totalitäre Gesellschaft.

Jiří Weil arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Jüdischen Museum in Prag. Als Redakteur und Autor, war er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch ein siebenjähriges Publikationsverbot stark eingeschränkt. Erst 1956 wurde er rehabilitiert, starb aber leider schon drei Jahre später an Leukämie. Aber seine Stimme ist immer noch zu hören: in seinen Büchern. Seit 2020 wird an einer ersten Gesamtausgabe seines Werkes in Prag gearbeitet. Im Wagenbach Verlag ist auch sein Buch “Mendelsohn auf dem Dach” erschienen und hoffentlich bald auch seine anderen Werke, wie etwa “Moskau – Die Grenze” (1937) u.a. Ein großes Werk, das mehr Beachtung verdient.

Jiří Weil
Leben mit dem Stern
Aus dem Tschechischen von Gustav Just
2020, Broschur, 256 Seiten
ISBN 978-3-8031-2825-6
Wagenbach Verlag
14,– €


Genre: Holocaust, Nationalsozialismus, Protektorat, Roman, Stalinismus, Tschechoslowakei
Illustrated by Wagenbach

Häsin in der Grube

Der Nanabozo erscheint seither all jenen, „die sich verirrt haben“. In Gestalt eines Hasen. Mireille Gagné, die auf der Isle-aux- Grues geboren wurde und in Québec zur Schriftstellerin avancierte, beschreibt in ihrem Debütroman die Geschichte eines Abschieds, die sie mit einer alten indigenen Fabel über einen Schneeschuhhasen verbindet. Mireille Gagné, Jahrngang 1982, studierte Kommunikationswissenschaften und hat zuvor allem Lyrik und Kurzgeschichten veröffentlicht und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.

Ein Abschied für immer

Die Geschichte von der Schneehäsin, die die Protagonistin Diane erzählt, ist mit ihrer Freundin Eugène verbunden, die sich ein Notizbuch und eine Polaroid-Kamera mitnahm, bevor sie spurlos verschwand. Eines Tages wacht Diane nach einer Operation auf und ihr wird vom Arzt empfohlen, sich die nächsten Tage zu schonen und keinesfalls zu schonen. Doch ihre Erinnerungen an Eugène verfolgen sie und machen sie immer wacher und aktiver. So lernt sie etwa über das System der Caecotrophie, das Schneeschuhhasen das Überleben in der Wildnis garantiert. Sie spricht von einer Transformation, denn ihr Körper verändert sich nach der Operation und erst sehr langsam erfährt der Leser, warum das so ist. Der Schneeschuhhase kann jedenfalls bis zu drei Meter hüpfen und erreicht beim Laufen eine Geschwindigkeit von bis zu achtzig Kilometern pro Stunde. Ob sie jemals auch so leistungsfähig sein wird? „Sie fühlt sich wie ein Baum im Herbst, der noch alle Blätter hat, vor den großen Stürmen. Bald entblättert.“

Abschied und Aufbruch

In einer poetischen und dennoch kurzen und prägnanten Sprache erzählt Mireille Gagné die Geschichte des Lepus americanus, die bald zu ihrer eigenen wird. In kurzen Kapiteln, manchmal ganz ohne Satzzeichen über Seiten hinweg, um die Atemlosigkeit der Erzählerin zu veranschaulichen, lernen wir, wie Diane wieder in ihr Leben zurückfindet. Wie sich ihre Gedanken sortieren und die Transformation schließlich stattfindet. Eine Erzählung als Metapher? „Das war ihr Wunschziel gewesen. Nie mehr müde zu sein.“ Diane will arbeiten. Arbeiten, um zu vergessen. Denn das Unbehagen liegt in den Erinnerungen. Und nur wer rastet, hat Erinnerungen. Erinnerungen an Eugène. „Diane erlebt einen Augenblick der Fülle bei dem Gedanken endlich dem Horizont gewachsen zu sein.“ Wird der neue Aufbruch, der Abschied von ihrer Insel ihr auch die Zeit verschaffen, um sich wieder zusammenzuflicken? Der Epilog am Ende der Geschichte erklärt einiges. Aber das meiste findet sich zwischen den Zeilen. Ein jeder kann es finden. Vor allem die, „die sich verirrt haben“.

Mireille Gagné
Häsin in der Grube
Aus dem kanadischen Französisch von Birgit Leib
SALTO [262].
2021, 120 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1361-0
Wagenbach Verlag
17.-€


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Ein Tag wird kommen

Mit persönlichem Bonus

«Ein Tag wird kommen», der erste auf Deutsch erschienene Roman der jungen italienischen Schriftstellerin Giulia Caminito, ist von der eigenen Familiengeschichte inspiriert. Ihr Urgroßvater war Anarchist und liefert damit die Vorlage für einen der beiden Protagonisten dieses politisch geprägten Romans. Den religiösen Widerpart dazu bildet als ebenfalls historische Figur die aus dem Sudan verschleppte Zeinab Alif, sie hatte als Nonne den Namen Maria Giuseppina Benvenuti angenommen, das Volk nannte sie nur La Moretta. Die Erzählung mit dem neugierig machenden Titel ist in der italienischen Region ‹Marken› angesiedelt und schildert das Leben der vom Unglück verfolgten Familie des Bäckers Luigi Ceresa in der kleinen Ortschaft Serra de’ Conti. Den historischen Hintergrund bilden Anfang des 20ten Jahrhunderts Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, die anarchistische Bewegung von Errico Malatesta und das Aufkeimen des Faschismus unter Mussolini.

Ein Roman über zwei ungleiche Männer, zum einen der kämpferische Anarchist Lupo, dem die Autorin allegorisch gleich zu Beginn den auf dem Titel abgebildeten Wolf zugesellt. Der von ihm verletzt aufgefundene und großgezogene Welpe wird, symbolisch leider deutlich überzogen, ‹Cane› genannt, künftig sein treuer Begleiter. Zweiter Protagonist ist sein schwächlicher und ängstlicher Bruder Nicola, der zum Arbeiten absolut nicht taugt. Die ungleichen Brüder lieben sich inniglich, sie bilden ein unzertrennliches Paar mit dem Kraftprotz Lupo als unermüdlichem Beschützer, der seinerseits von der Bildung des introvertierten jüngeren Bruders profitiert. Im Prolog legt Nicola das Gewehr auf Lupo an und schießt, ein gekonnt Spannung erzeugender Beginn, dem allerdings eine anfangs ziemlich verwirrende Geschichte folgt, die erst ab der zweiten Buchhälfte geläufiger lesbar wird. In getrennten Handlungsfäden wird, mit diversen Rückblenden und Vorgriffen, die Geschichte der Familie Ceresa erzählt, die in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Nach vielen Totgeburten sind dann auch noch zwei ihrer überlebenden fünf Kinder früh gestorben, außer den beiden Söhnen gibt es nur noch die rebellische Nella, die aber als junges Mädchen ins örtliche Kloster gehen musste. Hinter all dem verbirgt sich, das wird dem Leser schon bald klar, ein düsteres Familiengeheimnis, auf das ja schon der Buchtitel hindeutet.

In dieser elegischen Geschichte der Hungerleider geht es sehr rau zu, alle fristen ihr karges Dasein in dem zutiefst ungerechten Halbpächter-System Italiens. Der Widerstand gegen dieses verhasste Relikt aus feudalen Zeiten eskaliert in der «Settimana Rossa», den Unruhen und Streiks in Ancona im Juni 1914, an denen auch Lupo in vorderster Front beteiligt ist. Sein Bruder Nicola wird als 1899-Geborener blutjung in den sinnlosen Krieg geschickt, dessen Grauen die Autorin eindrucksvoll schildert. Ebenso eindrücklich sind die Beschreibungen des Klarissinnen-Klosters, in dem die unglückliche Nella wie eine Gefangene lebt. La Moretta hat dort als Äbtissin unerbittlich ein strenges Reglement etabliert, zu dem besonders das unbedingte Schweigegelübde gehört, aber auch die ausnahmslose Klausur. Was der Krieg nicht geschafft hat, das vollendet die Spanische Grippe, die weite Teile der Bevölkerung dahinrafft und ganze Landstriche entvölkert, weitaus schlimmer als das, was wir zur Zeit mit Corona erleben.

Diese in dreizehn Kapitel sowie Prolog und Epilog gegliederte Geschichte wird in einer dem freudlosen Geschehen angepassten, schlichten Sprache erzählt, wobei die verwendeten Metaphern manchmal alles andere als überzeugend sind. Vom Plot her reizvoll ist der gut herausgearbeitete Gegensatz zwischen politischer Anarchie und naivster Religiosität. Der Roman erscheint thematisch jedoch ziemlich überfrachtet, Giulia Caminito hat sich regelrecht verzettelt mit ihrem multi-thematischen Sujet. Wer lange in den ‹Marken› gelebt hat wie ich, wird ihr das aber, als persönlicher Bonus quasi, gerne nachsehen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Die Insel Capri. Ein Portrait

Autor Dieter Richter ist ein glänzender Essayist, der die Neugier beim Leser nicht nur anregt, sondern auch befriedigt. Detailreich und voller Verve und wertvoller Informationen und intellektueller Anregungen widmet er sich in dieser Monographie der Insel im Golf von Neapel, die schon unter Kaiser Tiberius eine Luxus-Destination und ein Traumziel, eine Marke und ein Mythos verkörperte.

Utopia Capri

Einst einmal das Regierungszentrum des Imperium Romanum, dann verarmt und vergessen wurde Capri im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung der Blauen Grotte zur ersten klassischen europäischen Tourismus-Insel-Destination. Seither verkörpert die Insel Capri den Zauber einer Insel schlechthin: Robinson-Eiland und Insel Utopia, Toteninsel, Liebesinsel und Neue Welt. Bevor Capri aber zur Destination des Massentourismus wurde, besuchten Abenteurer und Revolutionäre, Künstler, Schriftsteller und Philosophen, Geflüchtete und Emigranten aus den Diktaturen der Welt das Eiland. Der Autor bearbeitete zahlreiche unbekannte und ungewöhnliche Quellen, darunter Grabsteine und Gästebücher, Polizeiakten, Urkunden, Briefe und Tagebücher, und hat hiermit die facettenreichste Biographie einer Insel verfasst und Capri selbst damit ein Denkmal gesetzt.

Isola Futurista

Der Professor für Kritische Literaturgeschichte an der Universität Bremen und Verfasser zahlreicher kulturwissenschaftlicher Bücher, die ebenfalls im Wagenbach-Verlag erschienen sind, widmet sich der „Ziegeninsel“ (capra, ital. für Ziege) voller Liebe und Leidenschaft. Denn gerade im Kopf lässt sich das ländliche Arkadien errichten von dem viele Aussteiger, die nach Capri reisten, einst träumten. Es ist faszinierend mit viel Kenntnis und Detailreichtum der Autor das Eiland zu einem Platz der schönsten Theorien und Anekdoten macht. So weiß er etwa von Lenins Aufenthalt auf der Insel ebenso wie vom cimitero acattolico auf dem sich Tote von 21 Nationen aus verschiedensten konfessionellen Spektren wiederfinden, was gleichzeitig auch den Kosmopolitismus der Insel wiederspiegelt. Aber auch Künstler haben sich in die Geschichte und Landschaft der Insel eingegraben. Etwa der „Einsamkeitswürfel“ des Berliners Willy Kluck oder das Haus des Schriftstellers Curzio Malaparte werden angeführt, aber auch die Futuristen, die Capri als „isola futurista“ feierten.

Kenntnis- und aufschlussreich liest sich diese Monographie einer Insel wie ein Roman aus mehreren Essays. „Oggi siamo/Domani fummo/Percio fumo“ (heute sind wir/Morgen waren wir/ Daher rauche ich) dichtete einst August Weber und brachte damit das Lebensgefühl von Capri deutlich auf den Punkt: „Jetzt“!.

Dieter Richter
Die Insel Capri. Ein Portrait
WAT [795]. 2018
224 Seiten. 12 x 19 cm. Mit vielen Abbildungen
ISBN 978-3-8031-2795-2
Wagenbach Verlag


Genre: Monographie, Reisen
Illustrated by Wagenbach

Spitzentitel

Nestbeschmutzer

Mit «Spitzentitel» weist der italienische Schriftsteller Antonio Manzini in seiner gleichnamigen Novelle auf ein in der Branche beliebtes Schlagwort hin, das den Verlagen in ihrer Werbung für Neuerscheinungen dazu dient, ein Buch schon vor seinem Erscheinen hochzupushen. Dabei stehen jeweils die Starautoren im Fokus, Schriftsteller also, die eine Art Markenstatus besitzen aufgrund ihres Renommees und der bisherigen Verkaufserfolge, ihre Bücher selbst rücken dadurch immer mehr in den Hintergrund. Sie werden zu Bestsellern allein durch den Namen des Autors, egal wie es um ihre literarische Qualität bestellt ist. Der Fachhandel spricht von ‹Selbstläufern›, Bücher also, die problemlos ohne verkäuferisches Zutun über die Theke gehen.

Ein solcher Bestsellerautor ist der italienische Schriftsteller Giorgio Volpe, einer der bedeutendsten Autoren seines Lande, der nach zweieinhalb Jahren harter Arbeit das Wort ‹Ende› unter sein achthundertseitiges Manuskript schreibt. Es ist die Geschichte seiner Familie, und er schätzt, «dass ihn dieses Buch entweder ins Grab bringen oder heiligsprechen würde». Er hat niemanden in sein neues Buch schauen lassen, nicht einmal seinen Freund Maurizio, der «ein ebenso beeindruckender Listenerklimmer und Preiseinheimser war wie er selbst». Auch seiner Lektorin beim größten Verlag des Landes hat er keinen Einblick gewährt, obwohl sie schon seit fünfundzwanzig Jahren mit ihm bestens zusammenarbeitet. Er überrascht sie also am nächsten Morgen damit, dass sein neues Buch fertig ist, und schickt es ihr als PDF-Datei. In den Nachrichten ist die Fusion der drei größten Verlage Italiens das Hauptthema, Giorgio aber packt seine Koffer, um endlich mal eine Woche Urlaub mit seiner Frau zu machen, – das Handy bleibt ausgeschaltet, hat er ihr versprochen. Als er zurückkommt, beglückwünscht ihn seine Lektorin telefonisch, sein Buch sei ein Meisterwerk, das sie in zwei Tagen ausgelesen habe. Frohgemut fährt er nach Mailand zu einem Treffen beim Verlag, wo ihn der Big Boss und alle an der Veröffentlichung beteiligten Mitarbeiter als ihren wichtigsten Autor feiern.

Statt seiner Lektorin, die für drei Tage zu ihm kommen wollte, um an letzten Feinheiten des Romans zu feilen, suchen ihn zwei merkwürdige Typen auf. Sie seien in dem neu entstandenen Großverlag nun für ihn zuständig und wollen die erforderlichen Korrekturen mit ihm besprechen, – einer der beiden ist Russe und beherrscht kaum die Landessprache. Es wehe nun ein neuer Wind in dem Großverlag, erklären sie ihm ungerührt. Zum Beispiel würde Tolstois «Krieg und Frieden», um die ja nur negativen Kriegsszenen gekürzt, unter dem Titel «Frieden» neu herausgebracht, «Oblomow» ist in der neuen Fassung ein umtriebiger Unternehmer, und «Anna Karenina» landet nicht vor dem Zug. Die Neuübersetzung von Alessandro Manzonis berühmtem Roman «Die Verlobten» würde radikal modernisiert in einem massentauglichen Neusprech erscheinen, und aus dem «Zauberberg» würde alles gestrichen, was mit Tuberkulose zu tun hat und nur die Stimmung vermiest. Giorgio Volpe fühlt sich, als sei er ein Opfer der TV-Sendung «Versteckte Kamera».

Diese dystopische Satire auf die Buchbranche weist mit ihren scharfen Seitenhieben auf das radikal profitorientierte Marketing der Konzerne einen erschreckend hohen Realitätsgehalt auf, auch wenn sie zum Teil so grob überzeichnet ist, dass sie ins Lächerliche abgleitet. Gleichwohl stimmt es, dass Autoren letztendlich, wie hier in dieser amüsanten Novelle, gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, die heraufbeschworene Banalisierung ist längst bittere Realität geworden. Der Roman übrigens, den der tragische Protagonist geschrieben hat, trägt den bezeichnenden Titel «Am Rande des Abgrunds», und so fühlt sich sein gedemütigter Autor auch. Gott sei dank aber gibt es heute und in der Realität noch engagierte Verlage, die ein amüsantes Buch wie dieses frei von Bestsellererwartungen herausbringen, ganz ohne Angst, als Nestbeschmutzer zu gelten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Novelle
Illustrated by Wagenbach

Buenos Aires literarisch

Buenos Aires. Eine literarische Einladung: Timo Berger hat für den vorliegenden literarischen Spaziergang Autorinnen und Autoren ausgewählt, die sämtlich in Buonos Aires geboren oder beheimatet sind. Für Wagenbach hat Timo Berger auch Anthologien zu argentinischer und brasilianischer Literatur herausgegeben. Die vorliegenden Ausschnitte aus längeren Texten stammen aber natürlich von jeweils anderen Übersetzern.

Die Stadt der Gegensätze

Buenos Aires das ist Tango, Fußball, die höchste Psychoanalytiker-Dichte der Welt und: …Cartoneros. Die Müllsammler von Buonos Aires fingen nach der Krise von 2001 damit an, Kartons und Papier zu sammeln und wurden bald zum bleibenden Symbol der krisengeschüttelten argentinischen Hauptstadt. Drei Millionen leben in ihr und 12 Millionen um sie herum. Denn die Viertel der Mittelschicht werden von den Marginalisierten in ihren Villas Miserias quasi umzingelt, wie Martín Caparrós in seinem Beitrag, „Die bedrückte Stadt“, schreibt. Auch der Himmel habe sich verdunkelt, denn eine Menge Kabel, durch die gestohlener Strom fließt, hängen über den Gassen der Elendsviertel. Die nach Fett riechende Luft, das Geschrei der Verkäufer und der Lärm der Cumbias und anderer in den Villas populärer Lieder erfreut aber alle „porteños“ – ob arm oder reich. Aber vielleicht gibt es ja bald Roboter. Nur wohin dann mit den Armen, frägt der Autor provokant?

Die Farben der Avenida Corrientes

Robert Arlt beschreibt eine lebendige Straße, die Corrientes, bei Nacht, „die Straße des Tangos, der Schwärmerei; Straße, an die sich bei Tagesanbruch bläulich färbt und dunkel wird, weil ihr Leben nur im künstlichen Methylenblau, Kupfersulfatgrün und Pikrinsäurengelb möglich ist“. Auch Gabriela Cabezón Cámara schwärmt von ihrem Viertel, kämpft sie als Hausbesetzerin doch für den Erhalt der alten Bausubstanz und die Schönheit des ursprünglichen Buenos Aires, das nicht umsonst übersetzt „gute Luft“ bedeutet. Ob es ein Fehler war, frägt sich wiederum Martín Kohan in seinem Beitrag mit dem Titel „Der Fehler“. Seine Geliebte verlässt ihn Richtung Uruguay mit einem Schiff, das in einer knappen Stunde Fahrzeit das andere Ufer erreicht. Der Protagonist leidet so sehr unter seiner Sehnsucht, dass er sich den Nordwind herbeisehnt, der selbst den Río de la Plata (den Fluss aus Silber) trocken legt. Aber was tun, wenn man mit den Füßen mitten im Schlamm des Flussbettes feststeckt und die Flut wieder zurückkommt?

Europa in Lateinamerika

Buenos Aires hat für alle etwas zu bieten. Europa und Lateinamerika treffen sich hier wie nirgends anders: Das Spanische klingt hier italienisch; englische, polnische oder deutsche Namen sind so häufig wie Empanada-Stände neben eleganten Kaffeehäusern und Art-déco-Gebäuden nach Wiener oder Pariser Vorbild. Wer die vorliegende „literarische Einladung annimmt“, erlebt eine lebhafte linke Protestkultur und frenetische Fußballfans, die bildschönen Buchhandlungen auf der Avenida Corrientes oder den Schelmenroman eines Hausmeisters und das intime Tagebuch eines Flaneurs.

Mit zahlreichen erstmals ins Deutsche übersetzten Texten von César Aira, Roberto Arlt, Jorge Luis Borges, Martín Caparrós, Julio Cortázar, Gabriela Cabezón Cámara, Leila Guerriero, Pola Oloixarac, Alan Pauls, Ricardo Piglia, Samanta Schweblin, Tamara Tenenbaum u.v.a.m.

 

Timo Berger (Hg.)
Buenos Aires
Eine literarische Einladung
SALTO [245]. 2019
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
18,– €
ISBN 978-3-8031-1344-3
Wagenbach Verlag


Genre: Literatur, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Mendelssohn auf dem Dach

Die einzig wahre Verheißung

In seinem letzten, 1960 posthum erschienenen Roman «Mendelssohn auf dem Dach» beschreibt der heute weitgehend vergessene tschechische Schriftsteller Jiří Weil die Zeit nach der Annexion von Böhmen und Mähren durch die Deutschen. Der titelgebende jüdische Komponist stand neben vielen anderen als Statue auf dem Dach des zum «Haus der deutschen Kunst» umgewidmeten Konzerthauses Rudolfinum in Prag. Das war dem berühmt-berüchtigten Reichsprotektor Reinhard Heydrich natürlich ein Dorn im Auge, sie musste auf seinen Befehl hin umgehend entfernt werden. Als Leitmotiv zieht sich somit gleich von Beginn an die Musik durch die grauenvolle Geschichte der kleinen Leute, aus deren Opfer-Perspektive vom Wüten der Besatzer berichtet wird, ein Fanal geradezu menschlichen Schöngeistes auch in Zeiten dieser unsäglichen Barbarei. Der jüdische Autor hat Terror dieser Art nicht nur unter den Nazis selbst erlebt, er hat auch während der stalinistischen Säuberungen unter Verfolgung gelitten und war ab 1949 bis kurz vor seinem Tod mit einem Publikationsverbot belegt.

Im Stil eines Schelmenromans wird im ersten Drittel von der Entfernung des steinernen Juden erzählt, die sich insofern als unerwartet schwierig erweist, weil sich an den aufgestellten Statuen keine Namensschilder befinden. Der einfältige SS-Mann, der diesen Auftrag auszuführen hat, ist nicht schwindelfrei und traut sich nicht aufs Dach hinaus, seine beiden jüdischen Helfer aber, nicht minder ungebildet, sind nicht in der Lage, Mendelssohn Bartholdy zu identifizieren. Als er sie anweist, die Statue mit der größten Nase zu suchen, das müsse nach der herrschenden Rassenideologie der gesuchte Jude sein, hätten sie beinahe Richard Wagner umgerissen, der hatte nämlich die größte Nase unter den dort oben versammelten Musikern. Nach einigem Hin und Her und unter viel Gebrüll in den beteiligten NS-Dienststellen findet sich letztendlich dann eine tschechische Musikerin, die Mendelssohn eindeutig identifiziert. Die beiden Helfer beschießen spontan, die Statue nicht zu zerschlagen, sondern nur umzustürzen, so könne man sie später mal wieder aufstellen, wenn sich die Zeiten geändert haben, – ein verdeckter Akt des Widerstandes.

Schon in dieser einleitenden Episode dominiert neben der amüsanten, für die beteiligten NS-Schergen jedoch äußerst blamablen Aktion sinnloser Kunstschändung das bedrohliche Unheil für die tschechische Bevölkerung und die ständige Todesangst der von Deportation bedrohten Juden. In einem perfiden System werden Tschechen als Hilfskräfte in die Verwaltung mit einbezogen, müssen bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung mitwirken, deren beschlagnahmten Besitz in Lagerhäusern sortieren und für das «Tausendjährige Reich» verwerten. Jiří Weil erzählt vom Wüten der Ursupatoren von Gestapo, SS und Wehrmacht, von dessen Auswirkungen auf das Leben in Prag, vom Widerstand beherzter Tschechen und von dem sensationellen Attentat, mit dem der vom «Führer» persönlich mit der «Endlösung der Judenfrage» beauftragte Massenmörder Reinhard Heydrich seine gerechte Strafe erhielt. Er erzählt vom Ghetto in Theresienstadt, das als KZ und als Transitstation für die Vernichtungslager im Osten gedient hat, und von den Hoffungen, die nach Stalingrad und dem Vormarsch der Roten Armee in all der Ausweglosigkeit aufzukeimen beginnt, auch wenn Prag schließlich als «judenfrei» nach Berlin gemeldet wird und das herbeigesehnte Ende noch lange auf sich warten lässt.

In einfach strukturierten, kurzen Sätzen entwirft Jiří Weil ein Bild des Grauens, bei dem Gut und Böse allzu klar unterschieden wird. Die Deutschen sind ausnahmslos brüllende Bösewichte übelster Sorte, Tschechen und Juden versuchen in ihrer Not, irgendwie zu überleben, wobei sie sich selbstlos gegenseitig beistehen. Tief betroffen von seiner Erzählung verzeiht man dem Autor diese arg idealisierende Darstellung in einem Roman, der die Kunst als einzig wahre Verheißung preist.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Der tragikomische Kafka

Wagenbach, prononcierter Kafka-Kenner und ehemaliger Verlagsleiter des gleichnamigen Verlages hat sich Zeit seines Lebens über „die Schulweisheit vom dunklen Kafka geärgert“ und immer wieder einen Kafka voll hintergründigem Humor, unerwarteter Wendungen, mit einer Vorliebe für das Paradoxe und mit einer Neigung zur Ironie des Absurden ausgegraben und hervorgekehrt. Dies ist auch das Anliegen dieser Auswahl an Auszügen aus seinen Romanen und Kurzgeschichten, die der Herausgeber hier zusammengestellt hat.

Der tragikomische Kafka

In „Der Verschollene“ – besser bekannt unter dem Titel „Amerika“ kommt Kafkas Hang zu spitzbübischem Humor besonders gut zur Geltung handelt das Romanfragment doch von dem sechzehnjährigen Karl Roßmann, der einem modernen Simplicissmus gleich die Tücken der Neuen Welt kennenlernt. Ein Auszug aus „Der Verschollene“ ist in vorliegender Publikation unter dem Titel „Slapstick“ abgedruckt und erzählt die Episode von der Reinigung der Wohnung der Opernsängerin Brunelda in gewohnt süffisant-witzigem Ton, so wie wohl auch Wagenbach „seinen“ Kafka gerne sieht. Aber auch sonst gibt es mannigfaltige Beweise für Wagenbachs These von einem „lustigen Kafka“. Man erinnere sich nur an den „Ein Bericht für eine Akademie“ in dem Kafka – oder der Erzähler – in die Rolle eines Affen schlüpft, um von seiner Menschwerdung zu erzählen: „Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich freier Affe, fügt mich diesem Joch.“

Kafka voller Humor

Eine andere Geschichte erzählt von der tragikomischen Sorge des Trapezkünstlers, dem die eine Stange nicht reicht und der sich zu viele Gedanken macht. „Erstes Leid“ ist eine Episode aus seinem Leben übertitelt, die von seiner Weigerung vom Trapez zu steigen erzählt und seinen Impresario ernsthafte Sorgen bereitet, selbst als er ihm endlich eine zweite Stange und Trapez besorgt. In einem Ministeriums- oder Versicherungsbüro wiederum spielt die Geschichte von dem Beamten, dem seine Kollegen die täglichen Aktenberge neiden. „Warum wurde er gerade hier so unbeherrschbar müde, wo niemand müde war oder wo vielmehr jeder und immerfort müde war, ohne das dies aber die Arbeit schädigte, ja es schien sie vielmehr zu fördern“. Wen diese Worte vom witzigen Kafka nicht überzeugen, der kann sich in vorliegender Anthologie mittels der anderen Auszüge aus Kafkas Werk gut Appetit machen auf das eigentliche große Werk Kafkas, das jeder einmal gelesen haben sollte.

Franz Kafka
Ein Käfig ging einen Vogel suchen
Komisches und Groteskes
Zusammengestellt von Klaus Wagenbach
SALTO. 2018
144 Seiten. 11 x 21 cm. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
18,– €
ISBN 978-3-8031-1335-1
Wagenbach Verlag


Genre: Anthologie, Humor, Komik, Kurzgeschichten
Illustrated by Wagenbach

Faber

Vom Wunsch nach intensivem Leben

Schriftsteller und Philosoph in einem ist der junge Franzose Tristan Garcia, dessen neuer Roman «Faber» nicht nur formal ein Meisterwerk ist als furioses Spiel mit Erzählperspektiven und Zeitebenen. Die in sechzig Kapiteln erzählte Story ist in ihren zwei retrospektiven Teilen die Coming-of-Age-Geschichte eines charismatischen Schülers und seiner beiden Freunde, die in ihrer Rebellion gegen die dröge Mittelmäßigkeit der Gesellschaft ein unzertrennliches Trio bilden. In die narrativ als Klammer fungierende, dreiteilige Gegenwartshandlung, deren fesselndes Thema eine späte Rache ist, schieben sich zunehmend phantastische Elemente hinein, der Unruhestifter mit immanentem Todestrieb mutiert zum Dämonen, er wird «Der Zerstörer», wie es im Untertitel heißt.

Mehdi Faber, ein Waise maghrebinischer Herkunft, kommt als Neuer in eine Klasse der Schule einer fiktiven französischen Kleinstadt. Der ebenso intelligente wie unnahbare Junge, der darauf besteht, nur Faber genannt zu werden, brilliert als Schüler und mischt völlig unerschrocken auch die Strukturen der herrschenden Hackordnung im Schulhof auf. Als Rebell, den eine geheimnisvolle Aura umgibt, wird er schnell zur unumschränkten, von allen bewunderten Führungsfigur unter den Pennälern, eine Lichtgestalt geradezu. Zwei Außenseiter, die toughe Madeleine und der schüchterne Basile, helfen ihm anfangs dabei, in ihrer Adoleszenzphase bilden sie mit ihm eine sich ergänzende und wie Pech und Schwefel zusammenhaltende Clique, ein Trio mit dem intellektuell deutlich überlegenen Faber als Mentor. Im zweiten der beiden retrospektiven Teile des Romans eskaliert das Geschehen in einer offenen Rebellion, bei der 1995 unter Fabers Führung die während längerer Streiks und öffentlichem Tumult von Schülern besetzte Schule zur «Autonomen Zone» erklärt wird. Als diese Unruhen ihr Ende finden und die Besetzung schließlich aufgegeben werden muss, flieht Faber für immer aus der Stadt.

Der in fünf Teilen zeitlich verschachtelt und abwechselnd aus der Ich-Perspektive seiner drei Protagonisten erzählte Plot beginnt mit «Er kommt zurück», in dem die inzwischen verheiratete Madeleine den seit fünfzehn Jahren verschwundenen, total verwahrlosten Faber aus seinem Versteck in den Pyrenäen zurückholt in ihre Kleinstadt. Basile und sie hatten Briefe mit einem geheimnisvollen Code von Faber erhalten, der einst zwischen ihnen verabredet wurde als Signal, wenn einer je Hilfe bräuchte. Im mittleren Teil «Er ist da» kommt es zu Problemen mit dem unzugänglichen, total verrückt wirkenden Faber, der sich nach dieser langen Zeit nicht mehr zurechtfindet in seiner Stadt, dem auch die inzwischen angepasst lebenden Gefährten von einst fremd geworden sind. Im letzten Teil «Er geht fort» kommt es zu einem rätselhaften, mystischen Showdown. Mehr soll hier aber nicht verraten werden von dieser äußerst spannenden Geschichte, – in der auch gemordet wird übrigens!

Am Ende tritt überraschend Tristan Garcia in persona auf und berichtet davon, dass er das Manuskript eines Romans von Basile gefunden habe, welches von ihm leicht überarbeitet genau den Text darstelle, den der Leser da gerade in Händen halte. Und er sinniert: «Wie der Gott der Christen eines Tages Mensch geworden ist, so hat vielleicht der Teufel eines Tages einen Körper und einen Geist gefunden. Er war nicht das Böse an sich, aber der Verfall und die Zerstörung, für die anderen und für sich selbst. Von diesem Standpunkt aus kann man annehmen, Faber sei ein Teufel wider Willen, eine vollkommen negative Macht, aber in menschlicher Gestalt». Das verfehlte Leben der Protagonisten ist Auslöser für ein bedrückendes Geschehen, das, im Stil der «Fantastischen Literatur» erzählt, von seinem Autor in einem Schwebezustand belassen wird. Der wiederum dem Leser viel Freiraum gibt beim Nachsinnen über das Gelesene, über Utopien, – und über den hoffentlich nicht ganz utopischen Wunsch nach intensivem Leben.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach