Bonita Avenue

bonitaAvenueCoverIst es vorstellbar, dass Menschen anfang der Nuller-Jahre mehrere Tausend Euro für ein paar Nacktbilder ausgeben, wo man doch heutzutage, etwas mehr als nur 10 Jahre später, geballte Erotik umsonst im Netz bekommt? Peter Buwalda spielt in seinem Roman Bonita Avenue mit der Zeit. Logisch, dass wir uns diesen Familienroman aus der Sicht zweier Generationen vornehmen.

Jan Gocha, 19 Jahre:

Kurz vor Silvester stürmen tausende Niederländer grenznahe deutsche Supermärkte, um günstig verfügbare Feuerwerkskörper zu kaufen. Der Grund für die rigide Handhabung von Silvesterknallern im Nachbarland ist die Katastrophe in Enschede, bei der 2000 eine Feuerwerksfabrik explodierte, mehrere Menschen starben und fast ein ganzes Stadtviertel verschwand. Man kann es ohne Übertreibung ein niederländisches Trauma nennen, dass Peter Buwalda in seinem hochgelobten Debütroman Bonita Avenue benutzt, um die persönliche Implosion einer nach außen hin erfolgreichen und angesehenen Familie metaphorisch einzubauen. In den Niederlanden wurde Bonita Avenue hochgelobt und geradezu euphorisch gefeiert, man nannte Buwalda sogar den niederländischen Jonathan Franzen. Nach der Lektüre bleibt eine Frage allerdings offen: Warum?

Im Zentrum der Geschichte steht die Patchwork-Familie Sigerius, deren Oberhaupt Siem, Mathematik-Genie, ehemals erfolgreicher Judoka, Rektor der Universität und später als Politiker ein angesehenes Mitglied der niederländischen Upper-Class ist. Seine Frau Tineke brachte zwei Töchter mit in die Ehe, von denen nur die Ältere Joni relevant für den Verlauf der Geschichte ist. Ihr Freund Aaron ist Fotograf und geisteskrank. Die beiden verdienen ziemlich viel Geld mit einem geheimen Unternehmen und auch wenn zunächst nicht verraten wird, welches, so deutet Buwalda doch hier und da an und es braucht nicht mehr als gesunden Menschenverstand, um zu erahnen, welche Unternehmung in einer eigentlich liberalen und offenen Familie geheim gehalten werden muss, wenn Joni schön und Aaron Fotograf ist. Zu dieser Familiensituation gesellt sich noch Siems Sohn Wilbert aus erster Ehe, der als verurteilter Mörder im Gefängnis saß und nun freigelassen wird, dabei allerdings nicht vergessen hat, wer ihn die ganze Zeit verleugnet und verlassen hat. Zeitgleich mit der Explosion der Feuerwerksfabrik fliegt Siem sein fragiles Familiengebäude um die Ohren, als er eine erste Ahnung von Jonis und Aarons Geheimnis bekommt.

Die Erzähltechnik ist zunächst so einfach wie wirkungsvoll konzipiert. Buwalda ist so von der Stärke seiner Geschichte überzeugt, dass er das Ende einfach schon am Anfang verrät. Im Verlauf des Buches kommen allerdings noch Drehungen und Wendungen hinzu, die das Lesen trotzdem nicht langweilig werden lassen. Zeitlicher Ausgangspunkt sind die Jahre 2000-2002, die aber durch Vor- und Rückschauen sinnvoll ergänzt werden.
Auch wenn immer neue Facetten das Ende ergänzen, so kommt man nicht umhin, eine gewisse Zwangsläufigkeit zu entdecken, die dem Buch nicht gut tut. Der Autor ist vollkommen mit der Zerstörung seiner Charaktere beschäftigt, so dass der Moment, in dem man das Buch aus der Hand legt und sich denkt: “Krass” völlig fehlt. Buwalda zerstört jedes einzelne Leben, jede glückliche Lebenssituation mit Konsequenz und Härte. Das bekommen auch die Figuren zu spüren, zu denen meine Einstellung von gleichgültig (Joni) über vollkommen unsympathisch, weil lächerlich und die üble Sorte des totalen Verlierers (Aaron) zu anfangs sympathisch aber dann von Buwalda auf kranke und perverse Art charakterlich zerstört (Siem) reicht. Man kommt nicht umhin, Buwalda eine gewisse Arroganz zu unterstellen, weil er dem Leser auch nur die kleinste Anteilnahme am Schicksal der Figuren direkt wieder versaut.

Die Kritiker lobten vor allem Buwaldas rhetorische Fähigkeiten, die in der Tat vorhanden sind. Man möchte allerdings des öfteren sagen: Manchmal ist weniger mehr. Zu einer Figur wie Siem, der zwar ein angesehener und sehr intelligenter Mann, gleichzeitig aber einen so körperlichen Sport wie Judoka betreibt und im Grunde seines Herzens immer das arme Unterschichtskind aus der Utrechter Arbeiter-Siedlung geblieben ist, passt ein einfacher Vergleich oder eine schlichte Metapher besser als das ausgefeilteste Paradoxon. Eine Stelle im Buch möchte ich hier ganz besonders hervorheben, weil ich sie unglaublich misslungen finde. Als Aaron endgültig verrückt wird, verfällt Buwalda in eine Art Gedankenstrom, der sich aber nicht nur auf Aaron, sondern auch auf dessen Umwelt erstreckt. Das Ziel, das Buwalda damit verfolgt, ist klar: Er möchte uns das Wesen einer Geisteskrankheit näher bringen. Wenn man dies allerdings so offensichtlich möchte und dazu wenig subtile Mittel wählt, liegt die Gefahr des Misslingens nahe. Hier braucht der Leser Joni, um zu verstehen.

Wenig subtil auch immer wieder die Sprachebenen.So wird die Sprache an mehreren Stellen, an denen es um Porno geht, derb und vulgär. Nun könnte man meinen: Passt doch. Passt hier aber nicht, da die Figuren nicht so sind, weder von ihrem Wesen noch von ihrem Vokabular. Es sind auch nicht die Figuren, die anschaulich beschreiben, wie man einer Person Gegenstände anal einführt, sondern nur der Erzähler, der einmal mehr destruktiv aktiv wird. Die insgesamt gelungene Sprache wird so immer von Negativeffekten zerstört. Hat wahrscheinlich Methode.

Über das Buch verteilt sind kleine Easter-Eggs für den Leser. So benannte Buwalda jeden Amerikaner nach einer Figur, die Elvis Presley in einem Film spielt. Buwalda bestätigte diese Theorie eines niederländischen Literaten und begründete mit zu viel Zeit, unbestätigt ist hingegen meine Theorie zu Jonis Namen: Ist es Zufall, dass der Name der freizügigen Tochter in der Tantra-Lehre die Vulva der Frau benennt? Wohl kaum.
Insgesamt ist dieses ganze Buch vollkommen auf Zerstörung aus, niemand findet ein glückliches Ende, alle stehen mit leeren Händen da. Bei allen Kritikpunkten, die ich nun so aufgeführt habe, denke ich, dass man auch durchaus würdigen sollte, wenn man so herrlich erfrischend mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten um sich wirft, wie Buwalda es tut, und sei es, nur um der Zerstörung zu huldigen.

Britta Langhoff, 49 Jahre:

Ja. So ist das. Es läuft alles auf Zerstörung hinaus. In diesem Buch. Im Leben. Viel zu oft: Keine Hoffnung, nirgends. Bewahren und zusammenhalten ist oft die herausfordernste Aufgabe. Und ja – die Protagonisten in Bonita Avenue haben diese Aufgabe nicht bewältigt. Bonita Avenue ist kein harmloser Familienroman. Gleich einer antiken Tragödie ist das alles beherrschende Thema Schuld an sich. Rahmenhandlung ist ein Schreckensjahr voller Intrigen, Verderbtheit und Korruption, endend in Mord und Wahnsinn. Fokus der Erzählung liegt auf dem sich als moralische Instanz inszenierenden Vater, der dennoch durch sein Vorbild zerstört. Zwei Generationen zerreiben sich durch unvereinbare Weltanschauungen, die Väter Generation, die sich über Arbeit und Disziplin definiert, die der Kinder, die sich vor allem einer elastischen Moral bedient.

Um diesen Überbau herum porträtiert Buwalda ganz unterschiedliche, nicht zusammengehörige Welten. Die Welt der Judoka – ein Sport, der einen mit sich selber konfrontiert, die Welt der Universitäten, die Haager Regierungswelt und schließlich die moralisch flexible der Pornoindustrie. Nicht nur die Generationen, auch diese Welten prallen aufeinander, die Explosion ist so unausweichlich wie die der Enscheder Feuerwerksfabrik. Neben der Fabrik bemüht Buwalda auch im Verlaufe weitere visualisierende Bilder, das offensichtlichste das der titelgebenden Bonita Avenue, der Straße, in der die Familie in früheren Jahren glücklich war. Ein Bild, welches immer wieder den Bogen zurück schlägt zur auch in diesem Buch unterschwellig drängenden Frage, eine der am meisten gestellten unserer Zeit. Der Frage nach Heimat. Nicht umsonst trägt der Blog zum Buch den Titel Nirgends so fremd wie zu Hause. Eine der Schlüsselfragen des Buchs ist “Was wissen wir wirklich voneinander, was wissen wir von unseren Kindern” und man ahnt, dass ist es, woran Siem Sigerius zerbricht: An der Suche nach Zugehörigkeit und daran, dass er sie nirgends fand.

Bonita Avenue ist das amerikanischste aller Bücher der niederländischen Literatur, das ich jemals las. Buwaldas Sprache ist robust, kraftvoll und dennoch präzise, ähnlich der Eigenschaften, die man den Judoka nachsagt, die eine nicht unwichtige Rolle im Buch spielen. Am auffälligsten ist, dass er auf Chronologie keinen Wert legt. Flashbacks, Flash Forwards entwickelt er nahezu zu einer eigenen Kunstform. Das geht auf Kosten des traditionellen Spannungsaufbaus. Auch wenn man einwenden mag, dass sich erst aus der Rückschau bessere Schlüsse generieren lassen – entweder ist dieser Stil einfach arrogant oder dem Wunsch des Autors geschuldet, seine Leser unter Kontrolle zu halten. Aber gerade vor dem Hintergrund des Fehlens jeglicher Chronologie ist die Menge an Fakten und Ereignissen erdrückend. Dazu wird das Leben eines jeden gnadenlos ausgebreitet, nicht darf verloren gehen, jeder Gedanke, jedes Detail – alles muss berücksichtigt werden. Hingegen setzt der Autor einfach voraus, dass die Enscheder Explosion als historisches Ereignis bekannt ist. Zumindest außerhalb der Niederlande grenzwertig vor dem Hintergrund, dass Bonita Avenue auch eine Geschichte mit klarer Coming-of-Age Thematik ist und der Autor diesen Hintergrund dieser Zielgruppe vorenthält.

Bringt uns zurück zu Jans Frage: Warum? Fragte auch ich mich am Ende der Lektüre. Warum ist es Buwalda so wichtig, der zerstörerische Erzähler zu sein, warum reicht ihm nicht der neutrale Beobachterposten? Er vermeidet die direkte Meta-Ebene, Partei ergreift er auch nicht, also warum nimmt er die Spannung, warum lässt er seinen Lesern nicht die Freude am Entdecken, warum bleibt dem Leser nur die mühsamere Freude des Interpretierens? Er selbst als Autor gönnt sich das, was er dem Leser versagt, den Spaß am Spiel mit Sprache – siehe den ergiebigen Gebrauch von Easter Eggs.

Bonita Avenue ist eine verstörende Lektüre, die den Leser mit vielen Fragen zurücklässt, dennoch ist das Buch lesenswert. Schon alleine, weil es für ein Debütwerk erstaunlich und mutig ist, dass ein Autor sich an so einen vielschichtigen und anspruchsvollen Roman wagt, an einen Roman von so viel zerstörerischer Sprengkraft.

Bonita Avenue ist der erste Roman des niederländischen Journalisten und Essayisten Peter Buwalda. Als sein Vorbild nennt er Ian mc Ewan, er selbst sagt, er schreibe, weil ihm die Welt der Fiktion eine dringende neben der realen Welt zu sein scheint. Für Bonita Avenue zog er sich 4 1/2 Jahre weitestgehend aus der realen Welt zurück – mit einem erstaunlichen, verstörenden Ergebnis. Namhafte Feuilletons in den Niederlanden und Deutschland überschlagen sich vor Begeisterung und formulieren enorme Erwartungshaltungen. Bleibt zu hoffen, dass Buwalda ob diesen Drucks gelassen bleibt und seinen Stil so unbeirrbar weiter treibt wie in Bonita Avenue die Zerstörung seiner Charaktere.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Der 7. Tag / das 5. Gebot

Die Kritik feiert sie gerne als E-Book-Queen. Die Autorin Nika Lubitsch ist einer der Stars in der deutschen Self-Publisher-Szene. Ihr Krimi der 7. Tag führte lange die Kindle Bestsellerliste an, dankenswerterweise gelang es ihm sogar, die Shades of Grey von der Spitze zu verdrängen. Wie man hört, hat sich Oliver Berben bereits die Filmrechte gesichert. Im Frühjahr legte Nika Lubitsch mit dem Krimi das 5. Gebot nach. Der große Erfolg führte dazu, dass beide Bücher nunmehr auch als Taschenbuch und der 7. Tag sogar als Hörbuch erhältlich sind.


Beide Bücher sind im Genre Krimi/ Thriller angesiedelt.  Der 7. Tag ist auf den ersten Blick ein klassischer Gerichtskrimi. Es geht um eine junge Frau, Sibylle,  die des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt ist. Sie kann sich an nichts erinnern und während sie auf der Anklagebank sitzend die Zeugenaussagen verfolgt, zieht vor ihrem geistigen Auge ihr Leben an ihr vorbei – immer ohne dass sie selbst weiß, ob wirklich sie ihren Mann ermordet hat. Am siebten Tag des Prozesses  erkennt Sybille plötzlich die Wahrheit. Sie muss sie nur noch beweisen.

 

Der 7. Tag ist zweigeteilt plus Epilog. Der erste Teil ist in den Handlungsrahmen Gerichtsprozeß eingebettet, neben diversen Zeugenaussagen und Sybilles Gedanken beschliesst ein Zeitungsartikel mit einer Zusammenfassung des jeweiligen Prozesstages die einzelnen Kapitel. Der zweite Teil des Buches bedient sich noch einmal eines ganz anderen Stils, dem einer Dokumentations-Serie eines Magazins.  In diesem Buch ist es weniger der eigentliche Plot als der häufige Stilwechsel, der für Spannung sorgt. Man ahnt relativ schnell, worauf die Geschichte hinausläuft, aber das bereitet dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Auch die bei dieser Art des Aufbaus ständigen Wiederholungen sind nicht störend, im Gegenteil – das Buch bezieht seine Spannung daraus, dass man mehrere Seite ein und derselben Medaille zu betrachten bekommt.

 

Im  5. Gebot geht es ebenfalls um klassische Krimi Plots. Diesmal um eine junge Britin, die im Berliner Grunewald die Leiche einer Frau findet, die ihr wie ein Ei dem anderen gleicht. Die Protagonistin ahnt bald, dass es dunkle Familiengeheimnisse gibt und ein mörderischer Wettlauf quer durch Europa beginnt. Das 5. Gebot ist stilistisch einheitlicher, vom Tempo her aber nicht weniger rasant. Hier hat Nika Lubitsch sich mehr auf die eigentliche Handlung konzentriert. Allerdings sind die Handlungsverläufe manchmal arg konsturiert und erwecken den Eindruck, ihr wären die Ideen ausgegangen. Ganz ehrlich – hätte der Ehemann auch nur noch ein einziges Mal sein Handy verloren, ich hätte das Buch zugeklappt und die Auflösung wäre mir egal gewesen. Eine relativ einfach gestrickte Auflösung im übrigen. Wenn man die Energie bedenkt, die der Täter im Vorfeld aufgewandt hat, dann ist das Ende schon arg dürftig. Ebenso wie die Auflösung der Einschübe, welche eine falsche Fährte legen sollen. Nichts gegen falsche Fährten, aber die Auflösung der – nennen wir sie “Luder- Einschübe” hinterlässt einen faden Nachgeschmack. Sie macht einen Mann, der an und für sich so angelegt  war, dass er einer der interessantesten in der ganzen Geschichte hätte sein können, komplett unsympathisch und vergällt einem auch die Freude am kleinen Happy End, dass man zumindest diesem Mann ganz und gar nicht mehr gönnt.  Dafür allerdings entschädigt die Auflösung des Familiengeheimnis mehr als genug. Die Einbindung in den geschichtlichen Kontext hat die Autorin wirklich gut hingekriegt, diese Zusammenhänge liest man mit großer Neugier, welche dann auch befriedigt wird.

 

Beiden Krimis gemein ist die nicht sehr tiefe Charakterzeichnung, aber für einen Krimi ist das gerade noch ok. Beide Bücher sind durchaus spannend, auch wenn die Plot-Auflösungen beide Male zu schnell und zu glatt vonstatten gehen. Da ist noch gut Luft nach oben. Nika Lubitsch Schreibstil ist versiert und lässig zugleich, nur manchmal rutscht sie da ein wenig ab, der – wenn auch seltene – Gebrauch von Umgangssprache wirkt bemüht und fehl am Platz. Beispiel: Victoria, die Heldin im 5. Gebot ist einfach nicht so angelegt, als dass sie für ein Handy ausgerechnet den Begriff “Quatsche” benutzen würde. Ebenfalls störend sind dauernde Wiederholungen. Nicht in der Handlung, (s.o)., aber in der Erklärung von Begleitumständen. Da kann man dem Leser ruhig etwas zutrauen. Der kann sich durchaus merken, dass Heldin A von Beruf Pressesprecherin ist und welche Joggingrunde Heldin B. nun genau gedreht hat.

 

Man verstehe mich nicht falsch – ich habe beide Bücher gerne gelesen und fühlte mich prima unterhalten. Meine Kritteleien sind Kritteleien an einem guten Niveau. Es steht Krimi drauf, es ist Krimi drin – mehr braucht es eigentlich nicht, um beide Bücher gerne als entspannende Urlaubslektüre zu empfehlen. Nika Lubitsch liefert beileibe keine Mogelpackung, ihre Bücher sind eine echte Alternative zu den allseits bekannten Krimiautorinnen, zumal sie in ihren Geschichten komplett auf das oftmals anödende Polizei-Hickhack verzichtet. In beiden Geschichten durchlebt die Heldin aufgrund der Geschehnisse eine Art Katharsis und man kann sich auch durchaus eine Art Moral aus den Büchern mitnehmen: Die Erkenntnis, wie sehr sich Freundschaften im Laufe eines Lebens und unter dem Eindruck von dramatischen Ereignissen verändern können. Das hat die Autorin wirklich gut herausgearbeitet.

 

Was mich bei beiden Büchern gefreut und letztendlich auch zu einer Rezension bewogen hat, ist ihre generelle Machart. So sorry, aber ich bin derbe enttäuscht von sehr vielen Self-Publishing-Werken. Da bin ich komplett humorbefreit, ich empfinde es als eine grobe Missachtung des Lesers, wenn einem -auch hochgejazzte- Machwerke begegnen, die in erster Linie erst einmal durch eine ausgeprägte Grammatikscheu auffallen und vor allem nach der Regel Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten, geschrieben zu sein scheinen.Die Titel der Nika Lubitsch hingegen sind von Anfang an – auch schon als E-Book – sorgsam gearbeitet und gut lektoriert und so war es mir eine Freude, auch einmal eine Erfolgsgeschichte aus dem Self-Publishing vorzustellen.

 


Genre: Kriminalromane
Illustrated by MVG Verlag München

Das Amulett

ErbenderaltenZeitCharlotta ist das Kind, das aus dem Nebel kam. Die Dreizehnjährige selbst weiß nichts von den geheimnisvollen Umständen ihrer Herkunft. Sie weiß nur, dass sie ein Findelkind ist und nach dem Tod ihrer Pflegeeltern kreuzunglücklich. Nirgends zugehörig befindet sie sich auf einer Odyssee von Kinderheim zur nächsten Pflegefamilie und zurück. Eines Tages hält sie das Gefühl ihres Andersseins nicht mehr aus, bricht ins Jugendamt ein und entwendet ihre eigene Akte. In dieser liest sie erstmals liest von den verwirrenden Umständen ihrer Herkunft und findet ein geheimnisvolles, fremdartiges Amulett, welches ihr zu gehören scheint.

Sie beschließt die Flucht und gerät nach kurzer Zeit mitten im Wald in einen dichten Nebel. Plötzlich findet sie sich in einer ganz anderen Welt wieder. Eine Welt mit zwei Monden, Fabeltieren, unbekannten Gottheiten und Gesetzen und zum Glück auch mit Tora, Kunar und Biarn. Drei junge Menschen, die sich um das verwirrte Mädchen kümmern und ihr zu echten Freunden werden. Charlotta hat auf ihrer Flucht beschlossen, sich als Junge auszugeben, nennt sich fortan Charlie und offenbart den neuen Freunden ihre wahre Identität sowie die verwirrenden Fähigkeiten ihres Amuletts lange nicht. Schnell wird ihr und den Freunden in der neuen Welt aber klar, dass sie über magische Fähigkeiten verfügt. Fähigkeiten, nach denen diese Welt dringend sucht, um sich von der grausam herrschenden Gottheit Odin zu befreien.

Das Amulett ist der erste Teil der als Trilogie angelegten Erzählung Die Erben der alten Welt. Die Autorin Marita Sydow Hamann vermengt in der von ihr geschaffenen Welt Elemente aus bekannten Mythologien, vorwiegend aus der nordischen Mythologie ihrer Heimat und integriert als erste Ebene das reale uns bekannte Leben. Bei dieser Mischung belässt sie es jedoch nicht, sondern führt noch eine dritte Welt ein. In dieser Welt, der unseren um mehr als 14000 Jahre voraus, erwacht die junge Sora nach einem mehr als 15000 Jahre währenden Schlaf. Sie trägt ebenfalls ein Amulett und ist auf die Hilfe von Freunden angewiesen, um sich zurecht zu finden. Diese dritte Welt ist ein befriedeter futuristischer Staat. Doch die Einwohner sehnen sich nach mehr Kenntnis über ihre Wurzeln. Ist die wieder erwachte eigentlich uralte, doch jung gebliebene Sora die dort geweissagte Retterin, die alte und neue Welten wieder zusammenführt? Was hat es mit den Amuletten auf sich? Was mit den Visionen? Wie gefährdet sind all diese Welten und wie gehören sie zusammen?

Die gebürtige Norwegerin Sydow Hamann wuchs unter anderem auch in Deutschland, Österreich und Spanien auf. Derzeit lebt sie in einer schwedischen Hof-Idylle in Smaland und widmet sich dort den kreativen Künsten. Vor der Erben-Trilogie hatte sie sich bereits einen Namen als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern gemacht und zumindest der erste Teil das Amulett ist ebenfalls nicht eindeutig ein Buch nur für Erwachsene. Es dürfte Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene mit Freude an Fantasy gleichermaßen ansprechen. Nicht immer ist die Handlung so komplex, wie sie sein könnte, auch ist ihre Sprache zuweilen sehr einfach gehalten. Auf jeden Fall aber hat sie Mut zum Stil- Mix. Sie wirft nicht nur die verschiedensten Mythologie Elemente in die Waagschale, sondern vermengt dazu unbeeindruckt von gängigen Genre-Regeln Fantasy, Mittelalter und Science Fiction. Fast schon ein Art Cloud Atlas im Kleinen.

Diese furchtlose Verflechtung gelingt ihr wirklich unterhaltsam. Spannend und anregend, wie sie aus altbewährten Komponenten etwas Neues entwickelt und den Leser mit auf eine Wanderung zwischen den Welten und den Zeiten mitnimmt. Der Leser hat lange nur eine vage Ahnung, wie die drei Welten und Geschichten zusammengehören. Geschickt gemacht dabei die Einbindung staatlicher Stellen der realen Welt in die Vertuschung der Umstände von Charlies Geburt, welche der Autorin ganz en passant den Beweis für die tatsächliche Existenz mehrerer Welten liefert. Zum Schluß hin gibt es eine Klärung des groben Ganzen und man ahnt, wo die Autorin letztendlich hin will. Doch sie lässt genug offene Fragen für die avisierten Fortsetzungen.

Teil eins und zwei waren ein großer Erfolg in der Self-publisher E-book-Szene. So groß, dass die grassroots Edition eines österreichischen Verlages aufmerksam wurde. In dieser Edition sollen sukzessive E-Books, die nach dem Grassroots Prinzip- nicht von oben herab geplant, sondern von unten her getrieben- erfolgreich wurden, auch als Hardcover veröffentlicht werden. Das Amulett ist eins der ersten dort veröffentlichten Bücher und auch ohne die Ur-Version gekannt zu haben, darf man wohl getrost feststellen, dass die Überarbeitung und das professionelle Lektorat dem Werk gut getan haben. In den Rezensionen zur Ur-Version kam bei aller Begeisterung der Leser auch immer wieder Kritik an Grammatik- und Tippfehlern, den Kinderkrankheiten vieler self-publishing Bücher auf. Nun findet man mit dem Amulett nicht zuletzt auch dank der liebevoll gestalteten Illustration eine vergnügliche Entspannungs-Lektüre, durchaus auch geeignet für nicht so fiction-affine Leser .

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Fantasy
Illustrated by Santicum Medien GmbH Villach

Das grosse Los

Winnemuth_MDas_grosse_Los_136656In Hamburg sagt man Tschüss. Dachte sich auch die als experimentierfreudig bekannte Hamburger Journalistin Meike Winnemuth, packte einen Koffer und war dann mal ein Jahr lang weg. Auf Weltreise. Einfach weg war das Ziel. Zwölf Monate in zwölf Städten auf fünf Kontinenten.

Meike Winnemuth traut sich gerne was. Gerne aber auch mit eingebautem Sicherheitsnetz.  Aus diesem Grund traute sie sich zunächst einmal nach Köln. Zu Günter Jauchs Wer wird Millionär, beantwortete dank Publikumsjoker sogar die “verfranzte” 500.000 Euro Frage und gewann eine phantastische halbe Million. Auf Jauchs obligatorische Frage danach, was sie mit dem Gewinn nun anstellen werde, manifestierte sie noch in der Sendung –leicht unter Gewinnschock stehend – ihre bis dahin nur halbgare Weltreiseabsicht.

Keine drei Monate nach Wer wird Millionär war Meike Winnemuths Leben in der Hansestadt eingefroren, in Istanbul feierte sie mit Freunden Silvester und Abschied. Von dort ging der Flieger nach Sydney, ihrer ersten Station. Es sollte keine Reise im eigentlichen Sinne sein. Der Plan war, in den ausgewählten zwölf Städten ihrer Arbeit als freiberuflicher Journalistin weiter nachzugehen, jeweils einen Monat Alltag zu erfahren und mit zu erleben. Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit. Ihre Stationen: Sydney, Buenos Aires, Mumbai, Shanghai, Honolulu, San Francisco, London, Kopenhagen, Barcelona, Tel Aviv, Addis Abeba und Havanna. Wo immer möglich, lebte sie in möblierten Wohnungen – jede schon eine Geschichte für sich, kaufte dort ein, wo die jeweiligen Städter auch einkauften und tauchte ein in fremde Welten. Nicht zuletzt auch dank diverser Dinge, die sie im Auftrag von Lesern des SZ-Magazins ausführte. Ganz wichtig war ihr, in jeder Stadt etwas Neues zu lernen: “Denn das Wunderbare daran, von etwas überhaupt keine Ahnung zu haben: Du machst rasend schnell Fortschritte.”

Während dieser zwölf Monate führte sie ein Blog – vormirdieWelt.de – und ob der großen Resonanz lag die Idee nahe, nach Rückkehr ein Buch über diese Reise zu schreiben. Das grosse Los avancierte in kürzester Zeit zum Bestseller. Und dies sogar völlig zu Recht. Das grosse Los ist ein bewegendes, humorvolles, spannendes, hoch interessantes und informatives Buch geworden, an keiner Stelle langweilig. Meike Winnemuth ist mehr als eine “gelernte Schreiberin”. Sie schreibt mitreißend, aus dem Bauch und dem Herzen heraus, mal nachdenklich, mal witzig, immer ehrlich. Gelegentlich spöttelt sie ganz gerne, dann aber auf hohem Niveau und am liebsten auch über sich selbst. Das Buch setzt sich zusammen aus zwölf Briefen, aus jeder Stadt einen, addressiert an beste Freundinnen, alte Lieben, ihr jüngeres Ich und an ihren Publikumsjoker. Die Kapitel/ Briefe werden jeweils ergänzt durch eine Liste der 10 Dinge, die sie in der betreffenden Stadt gelernt hat sowie durch während des Jahres entstandene Fotos

In den Briefen beschriebt sie mit viel Empathie für die jeweiligen Städte und ihre Bewohner ihre Erlebnisse und Erfahrungen, nicht zuletzt auch die Erfahrungen mit sich selbst. Denn was macht es mit einem, wenn man in eine ganz fremde Welt, eine ganz fremde Umgebung geworfen alleine zurecht kommen ist? Genau diese Erfahrungen und Meike Winnemuths Fähigkeit zum Staunen sind es, die das grosse Los so spannend machen. Kulturschocks, Überraschungen, immer wieder das Glück des Zufalls – Meike Winnemuth erfährt, wie sehr man durch seine Umgebung geprägt wird und erlebt sich in jeder Stadt neu: “Mal entspannter als die Werkseinstellung, mal neugieriger und umtriebiger. Entflammt, genervt, genießerisch, übermütig, überfordert, ich mochte alle meine Versionen.”

Schon unterwegs und erst recht nach “diesem besoffen machendem Jahr ” stellt sich ihr auch die Frage nach Heimat. Ununterbrochen unterwegs zu sein ist in unserer rastlosen Welt ja nicht länger nur ein Markenzeichen der globalen Elite. Die Frage, ob gute Koffer wichtiger sind als Heimat, liegt heutzutage auf der Hand. Heimat ist auch keine Lösung, zu diesem Schluß kommt auch Meike Winnemuth: “Heimat ist nicht da, wo man geboren ist, Heimat ist da, wo man begraben werden will .”

Ihr größter Schock unterwegs: der zwischenzeitliche Kassensturz. Das eingebaute Sicherheitsnetz in Form des WWM Gewinns– sie hätte es gar nicht gebraucht. Es wäre auch so gegangen. Sie hätte jederzeit einfach nur losfahren müssen. Ihre schönste Erkenntnis: “Was alles geht und was es alles gibt, davon habe ich eine kleine Ahnung bekommen. Dass die Welt voller Möglichkeiten steckt, die Dinge anders zu sehen und anders zu machen.” In Summe ist das grosse Los ein Plädoyer gegen zuviel Eindeutigkeit und für mehr sowohl als auch.

Fazit der Autorin: Einfach wagen: “Nicht lang schnacken, Koffer packen.
Glück ist ein Gefühl von Möglichkeit

Fazit der Rezensentin; Unbedingt lesen. Das Buch übertraf meine durchaus
nicht kleinen Erwartungen bei weitem.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Dokumentation
Illustrated by Knaus München