Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich

Hilda. Die Erkenntnis, dass die Väter- oder Großelterngeneration in der einen oder anderen Form in den Nationalsozialismus verwickelt war, trifft schmerzlich. Wie wohl man natürlich nicht genau sagen kann, wie man sich selbst in derselben Situation verhalten hätte. Mit einem fröhlichen „wir-Kramers-hatten-damit-eh-nichts zu tun“ beginnt die bekannte Jugend- und Kinderbuchautorin Irmgard Kramer mit ihrer Recherche zu ihrer Oma Hilda und dem Nationasozialismus.

Nationalsozialismus als (im-)materielles Erbe

Die Autorin ist keine Historikern und beschäftigt sich doch mit Geschichtswissenschaft. Denn das Thema Nationalsozialismus spielt eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen den Generationen, auch wenn die daran beteiligte Generation bald ausgestorben sein wird. Umso wichtiger ist es, jetzt darüber zu sprechen und neue Formen der Aufarbeitung zu verfolgen resp. umzusetzen. Irmgard Kramer hat einen sehr persönlichen Zugang gewählt und sich mit Hilfe ihres Vaters, eines Zeitzeugen, an die Vergangenheitsbewältigung ihrer Familie gemacht, was sicherlich großen Mutes bedarf.

Hilda: Schweres Erbe

Einerseits weil es persönlich betroffen macht, andererseits auch weil es nicht unbedingt begrüßt wird. Die Vergangenheit ist für viele vergangen und wer jetzt noch gräbt, wird gerne als Nestbeschmutzer ausgegrenzt. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass öffentliche Initiativen, die vom Staat oder der Gemeinschaft auch gefördert werden, dieses Anliegen unterstützen und es ebenfalls thematisieren. Die Stadt Dornbirn hat darin mit einer Ausstellung zum Thema “Schweres Erbe” einen wichtigen Anfang gemacht. Bewohner:innen der Stadt brachten Objekt aus der verdrängten Zeit ins Museum und damit ans Tageslicht.

Erinnern: an Anpassung und Widerstand

Ähnlich macht Irmgard Kramar Verborgenes wieder sichtbar und erinnert auch an jene, die keine Opfer des Nationalsozialismus sein wollten, sondern Widerstand leisteten gegen den damaligen Zeitgeist. Aus ihrer Erzählung über ihre Heimatstadt in den Dreißiger Jahren wird eine Geschichte der Täter und Opfer, da sie ihre eigene Geschichte mit Biographien unterschiedlicher Beteiligter immer wieder unterbricht, um dann erneut den Faden wieder aufzunehmen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Dornbirner Marktplatz, der erst Dollfuß-Platz und dann in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, sowie die Sägerbrücke, die zum Exerzierfeld der Nazis wurde.

Familiengeschichte einmal anders

Irmgard Kramer erzählt auch von ihrem Gymnasium und fühlt sich – als spätere Absolventin desselben – in einer Art Re-Enactment in eine Schulklasse der Nazi-Zeit ein. Alle Siebtklässler seien damals zwar in die Wehrmacht eingezogen worden, aber alle verweigerten den – von der Obrigkeit gewünschten – Beitritt zur Waffen-SS. Auch eine Widerstandsgruppe namens AKO gab es im Lande und in Dornbirn. Nach dem Krieg wollte fast niemand mehr mit den Überlebenden sprechen. Die ehemaligen Blockleiter hatten weiterhin wichtige Stellen inne und eine Vergangenheitsbewältigung fand jahrzehntelang nicht statt. Dass der Austrofaschismus den Nationalsozialismus in gewisser Weise vorbereitete wurde lange verschwiegen, um die zweite Republik überhaupt erst zu ermöglichen…

Umso wichtiger sind solche persönlichen Zugänge, wie “Hilda”. Weder sollten die jüdischen Mitbewohner:innen je vergessen werden, die unschuldig getötet wurden, noch die AKO oder die Siebtklässler, die auf ihre Privilegien verzichteten. Auch das war nämlich Widerstand.

Irmgard Kramer
Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich
Erbschaft einer Stadt. Schriften des Stadtmuseums Dornbirn Band 1
2023, Taschenbuch, 128 Seiten
ISBN 9783854397342
Falter Verlag
€ 18,00


Genre: Erinnerungen, Nationalsozialismus, Vergangenheitsbewältigung, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by Falter

SCUM: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer

“scum” bedeutet eigentlich Abschaum oder Schmutz. Aber Valerie Solanas machte daraus das Akronym S.C.U.M.: Society for Cutting Up Men. Ihr “S.C.U.M. Manifesto” – so der Originaltitel – schrieb Geschichte, nicht zuletzt, weil dessen Autorin ihre Anliegen kurzerhand selbst in die Tat umsetzte. Sie erschoss am 3. Juni 1968 Andy Warhol.

scum: inspirative Lektüre

Andy Warhol, der die New Yorker Künstlerkommune “Factory” gegründet hatte, starb zwar erst runde 20 Jahre später an den Folgen des Attentats, aber dennoch wäre es wohl zu dem Ereignis geworden, wäre nicht wenige Tag später auch Robert Kennedy erschossen worden. Valerie Solanas wurde in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher eingeliefert und starb nur ein Jahr später, 1988, nach Warhol. Ihr Manifesto wird seither dennoch mit Andy Warhol und seiner Factory verbunden und inspirierte eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Sogar Nick Cave findet auf dem Buchrücken der neuen Ausgabe des renommierten MÄRZ Verlages einfühlsame Worte für die Autorin. Der Originaltext in der deutschen Erstausgabe erschien übrigens erstmals bei MÄRZ, 1969. Damals noch mit der Autorin am Cover.

S.C.U.M.: Aufruf zur Satire?

Solanas kam aus einem sog. zerrütteten Elternhaus, wurde sowohl von ihrem Vater als auch Verwandten schon sehr früh missbraucht und landete schließlich wie alle Dropouts* jener Zeit in New York City, wo sie standesgemäß im Künstlerhotel “Chelsea Hotel” Unterkunft fand. Dort verkaufte sie ihr Manifest als Hektographie vorerst selbst auf der Straße, schaffte an und lernte die bekannte Drag Queen Candy Darling aus der Factory kennen, die sie auch mit Warhol bekannt machte. Als ihr Manuskript eines Drehbuchs mit dem vielversprechenden Titel “Up your Ass” aus dessen Büro spurlos verschwindet, macht Solanas Warhol persönlich für den Verlust ihres Textes verantwortlich. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein persönlicher Rachefeldzug, der die Veröffentlichung ihres Manifests in Buchform wesentlich beschleunigte und die Verkaufszahlen erhöhte.

Manifest zur Vernichtung der Männer

Das Manifest selbst liest sich wie eine moderne Satire, ist scheinbar auch an Jonathan Swifts “Modest Proposal” angelehnt, in dem die Kinder der Armen zu Wurst verarbeitet und verspeist werden. Solanas geht mit den “Herren der Schöpfung” zwar auch sehr streng ins Gericht, aber nicht ganz so weit wie Swift. Ihre Hasstiraden auf die Männer, die sie allesamt als Versager verflucht (sowohl Hippies als auch Durchschnittsmänner) sind durchwegs nachvollziehbar und lesenswert. Nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Biographie. Denn der Text liest sich unterhaltsam und amüsant und gehört zur feministischen Pflichtlektüre, deren Thesen alle durchdiskutiert gehören.

scum-Neuausgabe mit umfangreichen Extras

Das besondere an der Neuausgabe des MÄRZ Verlages sind nicht nur die Faksimiles von Originalbriefen von Solanas an Jörg Schröder vom MÄRZ Verlag, den sie kurzerhand zum “contact man of the mob” erklärt hatte, sondern auch das informative Nachwort desselben, der über einige Eigentümlichkeiten der wilden Zeit, den Sechzigern, Aufschluss gibt. Anmerkungen im Anhang geben auch Auskunft darüber, was unter *Dropouts zu verstehen ist: “eine moderne Form des Klassenkampfes durch Vorenthalten der Ware Arbeitskraft“.

Valerie Solanas
Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer
(Originaltitel: S.C.U.M. Manifesto)
Aus dem amerikanischen Englisch von Nils Lindquist, mit einem Nachwort von Jörg Schröder,
hrsg. von Barbara Kalender.
2024, 132 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-7550-0005-1
MÄRZ Verlag
18,– €


Genre: Feminismus, Politik und Gesellschaft
Illustrated by März

Löwenherz

Löwenherz. Die Trilogie Bagage-Vati-Löwenherz beschäftigt sich mit ihrer Familie. Der dritte Band ist ganz ihrem Bruder Richard gewidmet, der durch den frühen Tod seiner Mutter mehr aus dem Gleichgewicht rät als seine drei Schwestern. Oder gibt es noch einen anderen Grund?

Putzi: Licht seines Lebens

Eines nimmt die Autorin gleich vorweg: Richard wurde nur drei Jahre älter als Alan Wilson, der Sänger von Canned Heat. Damit gehört er, der Schriftsetzer und Maler eindeutig nicht zum Club 27. Aber sein Leben war ähnlich intensiv und kurz, er beendete es mit nur 30 Jahren. Seine Schwester Monika erzählt seine Geschichte in klaren und einfühlsamen Worten, eine Biografin wie man sie sich nicht anders wünschen könnte. Und doch verheimlicht sie nichts, verschont auch sich selbst nicht, macht sich Gedanken über ihren Anteil an seinem frühen Tod. In herzzerreißenden Episoden erzählt sie, wie sich Richard um “Putzi” aka Rosi kümmerte. Das Kind war ihm von einer wildfremden Frau, Kitti, anvertraut worden und er behandelte sie wie sein eigene Tochter. Eines Winters wird sein Hund, Schamasch, von einem Jäger erschossen und Kitti stürmt mit zwei Henkern seine Wohnung, um ihm Putzi wieder wegzunehmen. Zu dieser Zeit hat Richard zwar eine Freundin, Tanja, die ihn noch fünf Jahre auffangen kann, aber dann geschieht doch das Unvermeidliche. Nach seiner Mutter, Schamasch nun der dritte Verlust. Das kann einen Menschen für immer knicken. Richard entscheidet das “für immer”. Niemand sonst hat schuld.

Löwenherz: Liebe und Angst

Wie soll man mit so einem Verlust umgehen? Mit den Schuldgefühlen, den Versäumnissen, den Vorwürfen? Am schlimmsten wiegt eine ihrer Erinnerungen, als ihr einfällt, dass Richard ihrer Schwester und ihr einmal als Baby vom Wickeltisch gerollt war. Das Geräusch klang noch nach als Richard längst erwachsen war. Aber die Folgen des Sturzes könnten seine autistische Art erklären, denn Richard kann sich nicht mitteilen oder erfindet einfach Geschichten. Ein “Schmähtandler”, Gschichtldrucker. Münchhausen, Luftikus. “Was herrscht für ein Zustand, wenn einer den letzten Knopf zuhat, aber trotzdem keine Krawatte?” frägt sie sich. Vielleicht bringt es dieser Satz auf den Punkt, was Richard ausmachte. Liebe und Angst gehören zusammen, heißt es an einer Stelle, “die eine befördert die andere, die andere verdirbt die eine”. Die Liebe zu Putzi hielt ihn aufrecht, den Richard, aber die Enteignung dieser Lieber war wohl zu viel für sein schwaches Herz. Monika Helfer beschreibt das Leben ihres Bruders, als wäre man selbst dabei gewesen. “Löwenherz” ist ein Buch, das einen in den Sessel drückt und weiterlesen lässt, bis es leider zu Ende ist. Vielleicht ist Bücher schreiben nicht die einzige Möglichkeit ein Trauma aufzuarbeiten, aber wohl die nachhaltigste. Denn so hilft es auch anderen.

Monika Helfer
Löwenherz. Roman
2023, 2. Auflage, 192 Seiten, Format: 11,5 x 19,0 cm
ISBN: 978-3-423-14879-5
dtv
12€


Genre: Biographien, Roman
Illustrated by dtv München

Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters

Wenn dein starker Arm es will, dann stehen alle Räder still“, hieß es in einem Lied der internationalen Arbeiterbewegung. Heute scheint das Industriezeitalter zwar durch die Digitalisierung ersetzt worden zu sein. Allerdings nur in der sog. Ersten Welt, wie u.a. auch Salgados Arbeit zeigt.

Arbeiter: Kämpferische Fotografie

Arbeiter“, die hochwertige Publikation des Kölner TASCHEN Verlages, ist eine Hommage an die Welt der Handarbeit – und gleichzeitig ein Abschied.
Das Buch entstand schon 1993 und gilt bereits als Fotobuch-Klassiker. Es würdigt die traditionellen handwerklichen Arbeitsweisen, während
zu Beginn des neuen Jahrtausends überall in der Welt Maschinen und Computer die Arbeit der Menschen übernehmen. Die Fotografien Salgados sind von beeindruckender Schönheit, da aus ihnen auch die Seele jener Männer und Frauen spricht, die sich ihren unbeugsamen Geist und ihre Würde selbst unter den härtesten Arbeitsbedingungen bewahrt haben. Der Fotograf, der seine Arbeit selbst als „kämpferische Fotografie“ bezeichnet, zeigt in seinem Werk die Armen und Entrechteten der Welt und gibt ihnen so etwas von der Menschenwürde zurück, die sie zu verlieren drohen – von den Hungernden in der Sahelzone bis zu den indigenen Völkern Südamerikas.

Arbeiter: Klassiker des Fotobuchzeitalters

In “Arbeiter” eröffnen 350 Duoton-Fotografien eine archäologische Perspektive auf echte Handarbeit, also Tätigkeiten, die von der Steinzeit über die industrielle Revolution bis in unsere Gegenwart als Inbegriff harter Arbeit gelten. Bilder aus dem Inferno einer indonesischen Schwefelmine oder die Dramatik des traditionellen sizilianischen Thunfischfangs sowie der schwindelerregenden Ausdauer brasilianischer Goldgräber zeigen, wer wirklich für den sog. Fortschritt verantwortlich ist und wem wir ihn zu verdanken haben. Für “Arbeiter” schrieb Salgado selbst einen einleitenden Text, der in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Schriftsteller Eric Nepomuceno entstand. Die teilweise ausführlichen Bildunterschriften stammen ebenfalls von Salgado selbst und erklären den historischen und faktischen Hintergrund.

“Ästhetisiertes Grauen” in XL

Der aus Aimorés, Bundesstaat Minas Gerais, Brasilien stammende Fotograf und Umweltaktivist Sebastião Salgado wurde in unseren breiten auch durch den Dokumentarfilm “Das Salz der Erde“, der gemeinsam mit Juliano Ribeiro Salgado und Wim Wenders 2014 entstand, bekannt. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes wurde er in der Sektion Un Certain Regard mit dem Spezialpreis ausgezeichnet. Sebastião Ribeiro Salgado Júnior – so sein voller Name – gehört mit seinem Werk zu den sozial engagierten Fotografen in der Tradition der sozialdokumentarischen Fotografie. 2019 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Diese Auszeichnung wurde zuvor erst einmal an einen Bildkünstler vergeben. Seine damalige Publikation “GOLD” – ebenfalls im TASCHEN Verlag erschienen nannte der SPIEGEL etwa “das ästhetisierte Grauen”. Es machte den Goldrausch der Armen augenscheinlich und (un)fassbar.

Sebastião Salgado
Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters
2024, Hardcover, 24.5 x 33 cm, 2.85 kg, 400 Seiten
ISBN: 978-3-8365-9646-6
TASCHEN Verlag
80 Euro
taschen.com


Genre: Bildband, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Das Totenschiff

Der Diogenes Verlag gibt einige der Bücher des geheimnisumwitterten B. Traven neu heraus. Eines davon ist “Das Totenschiff” mit einem Nachwort des Krimiautors Volker Kutscher. “Darum soll der schöpferische Mensch keine andere Biografie haben als seine Werke”, zitiert Kutscher Traven, der gleichzeitig weltberühmt und dennoch zeitlebens unbekannt war. Denn keiner kannte seine wahre Identität.

B. Traven: Aufregende Biografie

“Das Abenteuer jeglicher Romantik entkleidet”, so beschreibt Kutscher B. Traven’s Roman im Nachwort der vorliegenden Ausgabe. B. Traven (1882–1969), der bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig war, beteiligte sich an der Münchner Räterepublik von 1919. Nach deren viel zu schnellen Ende wurde er selbst zum Verfolgten, obwohl er laut einigen Hinweisen der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau (und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde) war. Nach seiner abenteuerlichen Flucht nach Mexiko schrieb er 12 Bücher und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden auch verfilmt, etwa “Der Schatz der Sierra Madre” (das Buch ist ebenfalls bei Diogenes in einer Neuauflage erhältlich) oder das eben “Das Totenschiff”. 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.

Totenschiff: Roman ohne Wiederkehr

In “Das Totenschiff” hat B.Traven die Erfahrungen des amerikanische Seemanns Gales niedergeschrieben, die einer Höllenwanderung in Dantes Inferno gleichen. Gales verpasst in den Kneipen Antwerpens sein Schiff, auf dem sich sein einziges Identitätsdokument befindet. Dadurch wird er zum Staatenlosen und seine Odyssee beginnt. Über mehrere europäische Landesgrenzen abgeschoben landet er schließlich in Barcelona und heuert auf dem Schiff “Yorikke” an. Das Schiff hat eine illegale Ladung und Besatzung und zudem höllische Arbeitsbedingungen. Das besondere an diesem Roman B.Travens ist aber nicht nur die Handlung, sondern vor allem die Sprache mit der er sich auf die Seite der Ausgebeuteten und Ausgeplünderten schlägt. Wenn das Schiff, das die Heimat des Seemanns einfach ohne ihn wegfährt, “dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende Gefühl des Überflüssigseins”, schreibt er. Aber die eigentliche Tortur ist nicht dieses Gefühl, sondern die Verzweiflung in der er sich der Yorikke unterordnet, wo er als Kohleschlepper malocht. Die Beschreibung dieser Arbeit ist so plastisch, dass man sich selbst im Purgatorium Dantes wähnt. Aber auch der gleichzeitig dabei transportierte Witz und die ehrliche, schnörkellose Sprache erinnern an andere Meister des Genres. Gleichzeitig strahlt aber auch eine alles durchdringende Lebensfreude durch B.Travens Zeilen, die einzigartig ist. Mit viel Sympathie für die Verlorenen dieser Welt und Weisheit to go: “Aus Liebe kann nicht nur Hass werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden.

Weitere Werke von B. Trafen im Diogenes Verlag: Der Schatz der Sierra Madre, Die weiße Rose, Die Baumwollpflücker, Die Brücke im Dschungel, Der Marsch ins Reich der Caoba, u.v.a.m.

B. Traven
Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
2023, Hardcover Leinen, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles

Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles. Julia Korbik ließ schon 2017 mit “Oh, Simone!” aufhorchen, eine Biografie der ganz anderen Art, die viele Leserinnen und Leser neu für die Autorin, Denkerin und Philosophin begeisterte. Die Wiederentdeckung der Autorin von “Das andere Geschlecht“, dem feministischen Grundlagenwerk par excellence, hat sie nun mit der Illustratorin Julia Bernhard einen neuen Touch gegeben.

Simone de Beauvoir: Der Pakt mit Jean-Paul

Die Geschichte ihres Lebens wird anhand eines fiktiven Interviews aufgerollt. Eine Journalistin besucht Simone in ihrer Wohnung, wo nicht nur eine Installation von “Sartre’s Händen” auf sie wartet, sondern auch einige andere Überraschungen. Simone wuchs mit ihrer Schwester in einem gutbürgerlichen Elternhaus in Paris auf, wo sie sogar ein Dienstmädchen hatten. An einer katholischen Privatschule sollten sie lernen bis ein Mann sie heiraten würde. Doch dann verlor der Vater aufgrund der russischen Revolution 1917 den Großteil seines Vermögens und hatte kein Geld mehr für eine Mitgift. Jetzt hieß es vor allem Arbeit finden, wie die Erzählerin halb ironisch, halb ernst kommentiert. Aber von Armut im eigentlichen Sinne war natürlich nicht zu reden, denn die Familie hatte immer noch ihren Landsitz in Meyrignac-L’Eglise. Als sie schon in jungen Jahren entdeckt, dass Gott tot ist, macht sie sich Gedanken über ihre Zukunft als Mensch und als Frau: Werden wir was wir sind? Oder sind wir? Mit diesen Fragen schließt sie an Blondem an, der die Handlung als Substanz des Menschen bezeichnete. Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht. Diese Gedanken wurden zur selben Zeit auch von einem gewissen Jean-Paul Sartre popularisiert. Mit dem Gründer der Existenzphilosophie verband sie ab 1926 ein “Pakt”, der auch in dem Briefwechsel zwischen den beiden, der ebenfalls im Rowohlt Verlag erschienen ist, dokumentiert wird.

Absolute Freiheit, absolute Wahrheit

“Meine Jugend war durch Mythen gespeist, die von Männern erfunden wurden.” Sartre nannte sie Castor, von Beauvoir=Beaver, aber gemeint war mit dieser liebevollen Anrede wohl ihre Unermüdlichkeit, der Fleiß eines Bibers. Mit Sartre entschied sie sich gegen ein konventionelles, bürgerliches Leben und für die Freiheit. “Der Pakt würde auf Nähe und Distanz basieren, auf Freiheit“, so Sartre mit Pfeife im Mund in der vorliegenden Graphic Novel, die ganz in Gelb und S/W gehalten ist und neben vielen Porträts des Pariser Umfelds der beiden auch einige lustige Tiere und Landschaften abbildet. “Absolute Freiheit, absolute Wahrheit. D’accord.” Diese Freiheit und dieser Pakt waren natürlich auch mit Schmerzen verbunden, denn als sie sich in den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren verliebte und dieser sie nach drei Jahren heiraten wollte, stand sie dennoch zu ihrem Pakt mit Sartre. Andere wichtige Stationen ihres Lebens (der Tod von Zaza) werden ebenso beleuchtet wie ihre Leidenschaft für’s Wandern und ihre Philosophie: “Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.” Die Frau werde nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich, dem Mann, definiert. Nicht als autonomes Wesen, sondern an der Seite des Mannes, werde ihr Platz definiert. Zeit ihres Lebens wollte sie die Mystifikationen beseitigen und die Wahrheit sagen. Dummheit war für sie eine gewisse Art, das Leben und seine Freuden unter Vorurteilen, Gewohnheiten, Täuschungen und sinnlosen Vorschriften zu ersticken.

 

Julia Korbik, Julia Bernhard
Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles
Graphic Novel
2023, Hardcover, 224 Seiten, ab 14 Jahre
ISBN: 978-3-498-00360-9
Rowohlt Buchverlag


Genre: Biografien, Graphic Novel
Illustrated by Rowohlt

Be Useful. Sieben einfache Regeln für ein besseres Leben

SCHWARZENEGGER. Der Terminator hat einen Lebenshilfe-Ratgeber geschrieben. “Der hat leicht reden”, wird es gleich heißen, aber auch er hat einmal klein angefangen und sich stetig, in kleinen Schritten nach oben gearbeitet: vom kleinen Bub aus Thal zum Mister Universum und Olympia, dann zum Hollywood-Schauspieler und schließlich zum Governor of California.

Mehr als neun Leben

Eine unglaubliche Karriere, die vielleicht auch andere inspirieren kann, ihr Bestes zu geben und useful zu sein/werden. Zuletzt konnte man Arnold auch auf Netflix in einer Miniserie bewundern. Er stellte sich als elder-statesman mit Zigarre dar und wehrte sich gegen die Bezeichnung “Selfmademen-man”, was auf mich persönlich sehr sympathisch wirkte. Auch hatte er sich nach dem Sturm auf das Kapitol, am 6.1.2021 mit einem Video zu Wort gemeldet, dass zeigte, dass die steirische Seite sein Herz auf der richtigen Seite hatte, obwohl er als Republikaner kandidiert hatte. Als Gouverneur schaffte er zwei Amtsperioden, aber gerade nach der ersten sah es besonders kritisch aus. Er hatte eine Herzoperation hinter sich, die alles andere als glimpflich verlaufen war und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Dennoch trat er vor die versammelte Fernsehdebatten-Gemeinschaft und konnte das Ruder noch einmal herumreißen (55,9%). In seiner zweiten Amtsperiode gelangen ihm auf umwelttechnischen Sektor geradezu unglaubliche Dinge. Er machte die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt (Kalifornien) fit für die Klimawende und damit das 21. Jahrhundert.

Be useful: Schmerz=Wachstum

Seine sieben Regeln trägt er in einem sehr saloppen, läßigen Umgangston vor, ganz so wie man es von waschechten Amis gewohnt ist. Aber dennoch scheint hie und da die österreichische Seele durch, auch seine liebenswerte Naivität und sein steirischer Eichencharme sind längst Legende. So heißt etwa die dritte Regel “Reiß dir den Arsch auf”. Schwarzenegger weiß, das er sich mit seinem Ratgeber gegen eine Flut an Negativität, Pessimismus und Selbstmitleid in der Welt zu behaupten hat. Aber er hat und hatte von Anfang an eine klare Vision und das legt er auch dem Ratsuchenden als erste Regel nahe. Immer wieder zitiert er diverse Geistesgrößen, Friedrich Nietzsche sogar zweimal. Er räumt auch dem Dazwischen Raum ein, denn das Leben bestehe nicht nur aus Höhepunkten und großen Augenblicken. Auch er hatte schon einige Rückschläge zu verbuchen. 1968 dachte er seine ganze Welt wäre zusammengebrochen, weil sein Mentor Frank Zane gestorben war. Aber er lernte die Lektion die jeder in seinem Leben einmal lernen muss: Schmerz = Wachstum.

Superkraft Neugier und Helper’s High

Sein Appell selbst im Schlechten etwas Gutes zu sehen, weil es einen weiterbringt und man ja eigentlich gar nicht verlieren kann, denn entweder man gewinnt oder lernt etwas dazu, kann eigentlich nur unterschrieben werden. Es spricht schon sehr viel Weisheit aus diesem Mann, der die Neugier zu seinem Motor erklärt und das Schwamm-sein als Bestandteil des Lernens definiert. Denn wer redet wiederholt sich nur, aber wer zuhört, der lernt in jedem Fall etwas dazu. Immer wieder kommt auch Arnolds Humor durch, etwa wenn er von Danny DeVito’s Potgag erzählt oder selbst erzählt, dass er es nicht nur geraucht, sondern auch inhaliert habe. Aus seiner Abneigung gegen die Bezeichnung Selfmademan spricht auch sein europäischer (österreichischer) Hintergrund, denn anders als viele in den USA weiß er, dass er es ohne fremde Hilfe nie geschafft hätte das zu werden was er heute ist. Seine Bereitwilligkeit dies einzugestehen und sein Plädoyer Gutes zu tun machen ihn zu einem sympathischen Menschen, dem man gerne zuhört, wenn er schreibt: “Es ist der Akt des Gebens, der das gesteigerte Glücksgefühl erzeugt“. Welches Leben, welcher Coup kommt wohl als nächstes? US-Präsident?

Arnold Schwarzenegger
Be Useful.
Sieben einfache Regeln für ein besseres Leben
Übersetzt von Bernhard Josef, Ariane Böckler
2024, Hardcover, 286 Seiten
ISBN: 978-3-431-07055-2
Lübbe Live

 


Illustrated by Bastei Lübbe

Honigkuchen. Erzählung

Honigkuchen. Erzählung. Neben seinen beliebten Romanen hat Haruki Murakami auch immer wieder gerne Kurzgeschichten und Erzählungen geschrieben. Um eine solche handelt es sich bei “Honigkuchen“, die in vorliegender Ausgabe zudem von der Illustratorin Kat Menschik bebildert wurde. Ein Fest der Sinne.

Dreiecksgeschichte mit Bär

Ganz so wie Junpei der Schriftsteller, der Protagonist und Erzähler von “Honigkuchen” melancholische Geschichten schreibt, hat auch Murakami eine solche über ihn verfasst. Es geht um eine Dreiecksbeziehung, sein bester Freund, Takatsuki, heiratet die Angebetete Junpeis, Sayoko, und gemeinsam bekommen sie die kleine Sara, der Junpei die Geschichte von Bären erzählt. Masakichi und Tonkichi heißen die beiden Bären, die Honig und Lachs sammeln. Masakichi ist ein gutmütiger Bär, “er hört keine Punk und keinen Hard Rock, sondern Schubert, wenn er allein ist”, so Junpei. Mit Hilfe der Zwischenfragen der kleinen Sara entwickelt Junpei die Geschichte der beiden Bären spontan, denn es gibt sie noch nicht, diese Geschichte. Die Dreiecksbeziehung allerdings gibt es wirklich und hier ist Junpei wesentlich ungeschickter sie mitzuentwickeln. Denn er lässt sich von Takatsuki Sayoko einfach vor der Nase wegschnappen. Eine verhängnisvolle Entwicklung nimmt ihren unabänderlichen Verlauf.

Honigkuchen: Ein Herz für Zweifler

Von wichtigen Dingen hast du absolut kein Ahnung. Nicht die geringste. Ich frage mich, wie so einer Geschichten schreiben kann” wirft Takatsuki seinem immer noch besten Freund Jahre später vor. Junpei weiß es selbst nicht. Er ist genauso ratlos wie belesen. Doch dann kommt das Erdbeben und plötzlich wird alles ganz anders. Manches Mal braucht es so eine Naturkatastrophe, damit sich etwas ändert. Besonders bei den Erwachsenen. Sara leidet nach dem schrecklichen Erdbeben unter Albträumen und nur Junpei kann sie beruhigen, mit seinen Geschichten über einen Bären und seinen besten Freund. Und er ist fest entschlossen, für immer über Sayokos und Saras Schlaf zu wachen. So wie sein Junpei ist auch Haruki Murakami ein Meister der kurzen Form. In “Honigkuchen” zeigt er sein großes Herz für alle Zögernden und Zaudernden, die Zweifelnden und Abwartenden. Kat Menschik bebildert die warmherzige Geschichte in unvergessliche Bilder. Von Junpeis Katze bis Mutter und Tochter, die sich umarmen. Und natürlich die beiden Bären Masakichi und Tonkichi mit ihren Lachsen und ihrem Honig.

Die vorliegende Kurzgeschichte stammt aus dem Sammelband einiger seiner Erzählungen mit dem Titel “Nach dem Beben“, der ebenfalls – so wie viele andere Werke Murakamis – bei Dumont erschienen ist.

Haruki Murakami
Honigkuchen. Erzählung
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
2023, Hardcover, 80 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, UV-Lack, bedrucktem Vorsatzpapier und Lesebändchen, 19 farbige Illustrationen,
Format 134 mm x 208 mm
ISBN: 978-3-8321-6823-0
Dumont Buchverlag
20,00 €


Genre: Illustrationen, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by DuMont

Das Haus verlassen

Das Haus verlassen. Die Regisseurin Jacqueline Kornmüller brachte gemeinsam mit Peter Wolf u. a. die preisgekrönte Ganymed-Serie im Kunsthistorischen Museum auf die Beine. Zuletzt inszenierte sie Die unheimliche Bibliothek von Haruki Murakami im Wiener Odeon Theater und und brachte damit Kat Menschiks Illustrationen auf die Bühne (2022). In vorliegendem bibliophil gestalteten “Pappband” erzählt sie vom Zauber der Dinge und der Freundschaft mit einem alten Haus, das mit ihr spricht. Oder nur sie mit ihm?

Illustrationen wie ein Garten

Band 17 von Kat Menschiks illustrierten Lieblingsbüchern wird verziert von Skarabäen, Fröschen, Blumen oder Puppen und ist eine wahrlich poetische Geschichte über Besitz und das Loslassen davon. Es geht um das alte Feldsteinhaus, das sich nicht so ohne weiteres von seiner Besitzerin trennen möchte. Sie bemüht sich zwar allerhand illustre Gestalten zur Besichtigung in ihr Anwesen zu laden, aber irgendwie will sie selbst nicht so richtig fortgehen. Zehn Jahre lebt sie nun schon in diesem Haus und will sich nun endlich vom Besitz trennen, denn es warten schließlich noch andere Abenteuer auf sie. Aber denkste! Das Haus hat Krallen und hält sie fest, wie ein von Kafka abgeleitetes Zitat über Prag lauten könnte (“Dieses Mütterchen hat Krallen”). Schließlich gibt es auch nicht viele Häuser, die mit einem sprechen. Aber viele Häuser mit denen sprechen kann, ohne dass diese antworten.

Das Haus verlassen: Oder doch nicht?

Die raubeinige Dorfgemeinschaft ist einerseits neidisch, andererseits belächelt sie ihre Bruchbude, die immerhin Jahre auf dem Buckel hat. Aber vom Dachboden bis zum Kellergewölbe, wo sich das Bad befindet, bis zum verwilderten oder den uralten Obstbäumen: es ist ihrs. Die Bewerber und Bewerberinnen, allesamt Immobilientourist:innen, geben die Klinke in die Hand geben. Da gibt es die Belgier, das Ehepaar Salz, oder die Frau aus dem 19. Bezirk, der Herr der Innenminister-Mann, der Samstag-Mann und die Samstagsfrau, die Schwangere, die Suchende u.v.a.m. Bald dämmert es nur dem Haus, dass die Immobilientourist:innen den Wert des Hauses gar nicht wirklich erkennen und ihn auch nicht zu. Aber da draußen wartet das Leben auf die Erzählerin und sie muss einfach mal wieder weg. Aus diesem Dorf vor allem. Diesem Haus. Doch dann stirbt plötzlich die Queen im fernen England und alles wird ganz anders.

Eine hinreißende kleine Erzählung, die zum Nachdenken anregt und gleichzeitig durch ansprechende Illustrationen von Kat Menschik und Liebhaber:innen von Geschichten wie damals.

Kat Menschik, Jacqueline Kornmüller
Das Haus verlassen
Mit Illustrationen von Kat Menschik
2024, bezogener Pappband, Kupferfarbene Prägefolie, Farbschniþ,Lesebändchenca. 96 Seiten
ISBN 978-3-86971-286-4
Galiani Berlin
22 € (D) / 22,70 € (A)

 


Genre: Erzählungen, Illustrationen
Illustrated by Galiani

Nachtfrauen

Nachtfrauen. Die beiden Geschwister Mira und Stanko stehen vor einer herausfordernden Aufgabe. Ihre Mutter ist alt und soll auf den Auszug aus ihrem Haus im kärntnerischen Jaundorf vorbereitet werden. Da weder Mira noch Stanko sich um sie kümmern können, wird es für die alte Dame zu gefährlich alleine zu leben.

Nachtfrauen: Verzeihen und Vergeben

Du wirst dich um Mutter kümmern müssen“, sagt ihr Bruder zu ihr. Aber Mira ist längst aus der Enge des Dorfes in die Weite der Großstadt Wien gezogen, wo sie einen Mann und eine Arbeit hat. Sie kann also gar nicht zurückkommen und sie will es auch nicht. Zwischen ihrer Mutter Anni und ihr bestehen immer noch Differenzen, die nun endlich durch einen neuen Besuch beseitigt werden könnten. So packt sie also ihre Koffer und reist zurück ins “Innere ihrer Kindheit“, wie sie sagt: “Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben“.

Heimat und Sprache

Wenn sie ihr Dorf besucht, erwarten sie die üblichen Vorwürfe, die jeden “Abtrünnigen” treffen, der sich aufmachte, um ein anderes Leben in der Fremde zu finden. Weggehen kann schließlich jeder, das Schwierige ist doch zu bleiben. Sobald sie sich der Jauntalebene näherte, veränderte sich auch ihre Sprache und ihre Haltung, denn der slowenische Dialekt, den sie in Wien nie benutzt, bestimmt nun auch ihr Denken und Handeln. Die Sprache ihrer Kindheit ist auch die Sprache ihrer Verluste, “über die Mira sich selbst nicht recht im Klaren war“. Eine davon ist ihre Jugendliebe Jurij, dem sie prompt in Jaundorf begegnet.

Schweigen (Klage), Geheimnis (Tat)

Einen interessanten Zugang findet Mira auch zur Wahrheit: “(…) dass es vielleicht besser ist angelogen zu werden, nicht die Wahrheit zu wissen. Wir wollen den anderen immer nackt vor uns sehen, nackt und durchschaubar, das ist doch demütigend, es geht doch darum, miteinander auszukommen oder nicht?”, stellt sie Jurij die Frage der Fragen. Auch er, der bewusst Slowene ist, hat darauf eine Antwort. Denn lange galt die Zweisprachigkeit der Region als Makel, auch darüber schreibt Maja Haderlap im ersten Teil ihres Romans Nachtfrauen, der von drei Generationen Frauen erzählt. Der erste ist ganz Mira gewidmet, der zweite, kürzere Agnes und Anni, also Großmutter und Mutter. Der erste Teil ist eine Erzählung und ein Dilemma, wie es nicht besser formuliert werden könnte. Denn das Zerwürfnis mit ihrer Mutter beruht auf einem Unfall bei dem ihr Vater zu Tode kam.

Bedrängte (Nacht-)Frauen

Dieses Unglück schwelte lange zwischen ihrer Mutter und ihr und vergiftete die Beziehung, dabei war sie damals noch ein Kind und konnte gar nichts dafür, was geschah. Schuldgefühle waren es vielleicht auch, die Mira nach Wien vertrieben, aber immerhin war sie auch die erste Frau, die ihr Dorf verließ. Das tat sie auch für die anderen Frauen, die, die zurückblieben. Denn die alleinstehenden Frauen in Jaundorf litten am meisten unter den zudringlichen Händen der Männer. Aber damals galt die Schweigsamkeit einer Frau noch als noble Eigenschaft und so beschloss auch sie, lieber zu schweigen. Ein Schweigen, das vielleicht mit diesem Roman durchbrochen wird. Stellvertretend für all die Schweigenden.

Ein Roman über Zugehörigkeit, Erinnerungen, Verlust und Entscheidungen, die das Leben beeinflussen. Aber auch ein Roman, der Mut macht, darüber zu sprechen, was unaussprechlich ist.

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / Železna Kapla (Kärnten) geboren. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt Engel des Vergessens 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021. Nachtfrauen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag und stand auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2023.

Maja Haderlap
Nachtfrauen. Roman
2023, fester Einband mit Schutzumschlag, 294 Seiten
ISBN: 978-3-518-43133-7
Suhrkamp Verlag
24,00 €


Genre: Biographie, Frauen, Frauengeschichte, Roman, Slowenen, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Content

Content. “Ich schaue aus dem Fenster. Menschen schwimmen auf Schlauchbooten vorbei.” Der sechste Roman des Jungautors, Poetry Slammers und Musikers Elias Hirschl und sein zweiter beim Zsolnay Verlag. Der Vorgänger, “Salonfähig”, machte ihn über Nacht “weltberühmt in Wien“, da er so ca. haargenau das Leben und Milieu eines österreichischen Spitzenpolitikers beschrieb noch bevor dieser wirklich öffentlich bekannt war. Ob Hirschl mit Content eine ebenso prophetische Gabe an den Tag legt, wird wohl die Zukunft weisen, denn bei Content handelt es sich um eine Dystopie: “Kein Gas mehr, kein Strom mehr. Kein Internet mehr. Kein Leben mehr. Das ist niemand mehr. Keine Menschen. Kein Boden. Keine Luft.” Zumindest eine Dystopie für die ChatGPT-Generation…

Content-Farm Smile Smile Inc.

In dieser Zukunft, der Zukunft des Romans, geht nichts weniger als die Welt unter. Aber es ist nicht weiter tragisch, weil die handelnden Personen ohnehin ihr Second Life als Avatare im WWW haben. So auch die namenlose Protagonistin des Romans, die für die Content-Farm Smile Smile Inc. arbeitet und sinn­befreite Listen-Artikel, die Clicks generieren sollen (“Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!”), schreibt. Vielleicht hat Hirschl sogar schon seine Prophetengabe auch mit diesem Roman bewiesen, denn tatsächlich geht es schon um die Generation ChatGPT noch bevor sich diese wirklich generiert hat oder existiert oder formiert. “Politisch, prophetisch und zumindest so lange lustig, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt“, ist wohl die treffendste Beschreibung eines Verlagstextes zur Bewerbung eines Buches, die ich je las.

Form follows function

Denn die Listicles, YouTube-Videos, ChatGPTs, die Hirschl verfasst, entbehren – natürlich absichtlich – genau jenen Contents, nach dem der Roman benannt ist. Wer allerdings nach einer klassischen Handlung in diesem Roman sucht, sucht vergeblich, denn Hirschl springt in seinen Beschreibungen beinahe so auf dem Bildschirm herum, wie wir user, wenn wir durch das WWW surfen. Insofern kann man hier schon sagen: form follows function. Dass die namenlose Protagonistin den ganzen Text hindurch nur eine Zeile aus Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften” zu lesen bekommt, ist vielleicht ein Synonym. Denn ebenso unverständlich wie diese Zeile für sie ist, wäre für Musil wohl ein Text von ChatGPT gewesen. Ihm hätte wohl einfach die Seele gefehlt.

Bot ohne Eigenschaften

Hirschl ist aber so eine Seele, denn er hat einen Roman für seine Generation geschrieben ohne ein Teil dieser Generation sein zu wollen. Das hat auch schon mal ein gewisser Bob Dylan abgelehnt. Aber unweigerlich wird Hirschl zum Sprachrohr seiner Generation, die mit gerade mal dreißig Jahren schon mehr in der Welt rumgekommen ist, als andere in der Pension. Mit dem Finger auf der Landkarte: das World Wide Web ist weit und die Geduld endenwollend. Der Cursor springt weiter, die Maus wird geknautscht (RSI-Syndrom). Das Lokalkolorit für seinen Roman fand der Autor übrigens in der Kohle- und Bergbauregion NRWs, er war dort Dortmund-Stadtschreiber. Bei einem Erdbeben (!) fährt die Protagonistin mit einem Lift so tief in die Grubenschächte, dass man es tatsächlich als Tiefgang bezeichnen kann: den Dingen auf den Grund gehen. Dazwischen zitiert Hirschl natürlich immer wieder die Listen seiner Protagonistin und kommt mit ihr am Ende zu einer buddhistischen Fazit-Liste (Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!).

Kurzum: Hirschl hat sich einen Spaß gemacht und nimmt uns alle auf den Arm oder ist es vielmehr der Alias seiner Protagonistin im Internet, die sogar heiratet und schließlich stirbt? Ein Gastauftritt Ryan Goslings und die langerwartete Erklärung, was ein(e) IKM- Schreiber(in) so macht, sollte man schließlich ebensowenig verpassen, wie die Einträge seines eigenen Bot auf insta. Aber Achtung: das Captcha-Lösen dürfte ziemlich knifflig werden. “Die Aufgabe, ob sie ein Bot war oder nicht, wurde selbst von einem Bot angefertigt.

Elias Hirschl
Content. Roman
2024, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-552-07386-9
Zsolnay
D: 23,00 € Ö: 23,70 €


Genre: Generation, Roman, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Zsolnay Wien

Die einzige Frau im Raum

Die einzige Frau im Raum. In der Reihe “Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte” sind von derselben Autorin schon Biografien zu Lady Churchill, Mrs Agatha Christie, Frau Einstein u.a. erschienen. In vorliegendem Briefroman erzählt sie die Geschichte der Schauspielerin und Erfinderin Hedwig Eva Maria Kiesler besser bekannt als Hedy Lamarr.

Ikone der Frauenbewegung

“Lady Bluetooth” wurde sie in einer Ausstellung, die ihrem Lebenswerk gewidmet war, genannt. Ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten George Antheil wurde mit dem Ergebnis frequency hopping gesegnet. Dieses frequency hopping stellte die Grundlage für das heutige wifi zur Verfügung. Lamarr wollte es während des Krieges auch der US-Armee zur Verfügung stellen, um Torpedos abzuwehren, allein, die amerikanischen Betonköpfe waren nicht intelligent genug das Potential ihrer Erfindung zu erkennen. Und so ging Hedy Lamarr vorerst als “schönste Frau der Filmgeschichte” in die Annalen ein, bis sich findige Journalist:innen mit ihrem Vermächtnis genauer auseinandersetzten. Ein Ergebnis war auch der Film “Calling Hedy Lamas”, der in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Anthony Lauder entstanden war. Oder später auch “Bombshell”, eine Dokumentation über ihre beiden Karrieren vom ersten Nacktmodell der Filmgeschichte zur Ikone der Frauenbewegung als Erfinderin.

Hedy Lamarr Forever

Marie Benedict widmet sich Hedy Lamarr, die durch ihre Heirat mit einem österreichischen Waffenhändler Zugriff auf die Pläne des Dritten Reichs erlangte. Ein Wissen, das sie später nutzte, um an der Seite der Alliierten zu kämpfen. Im Jahr 1937 verließ sie ihren gewalttätigen Ehemann und floh über Paris und London nach Hollywood. Dort wurde sie zu Hedy Lamarr, dem weltberühmten Filmstar. Was keiner wusste: Sie war Erfinderin. Und sie hatte eine Idee, die dem Land helfen könnte, die Nazis zu bekämpfen und die moderne Kommunikation zu revolutionieren. Wenn ihr nur jemand zugehört hätte. Der Hype um die schönste Frau der Welt mit Köpfchen reißt also auch mit diesem Briefroman nicht ab. Denn nach einem nach ihr benannten Wissenschaftspreis, einem Theaterstück von Peter Turrini, einem Song von Johnny Depp über sie, zwei Dokumentationen, einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, was kann da noch kommen? Als Ikone der Popkultur gilt sie übrigens auch spätestens nach der Adaptation als Catwoman in der Comicwelt, wie alte Zeichnungen beweisen. Auch Anne Hathaway berief sich auf Lamarr für ihre Interpretation von Catwoman. Oder Disney’s Snow White? Was kann da also noch kommen? Naja, vielleicht das WonderWoman Hedy Lamarr spielt? Sehen Sie hier selbst!

Marie Benedict
Die einzige Frau im Raum. Roman
Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte, Band 4
Übersetzt von: Marieke Heimburger
2023, KiWi-Paperback, 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2
Kiepenheuer & Witsch


Genre: Biographie, Briefe, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin

Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. “Iowa” – Sargnagels drittes Buch – ist derzeit in aller Munde. Nach “Statusmeldungen” (2018, bei Rowohlt) schrieb sie die ebenfalls sehr autobiographischen “Aufzeichnungen einer Tagediebin”, kurz: Dicht. Aber “dicht” ist nicht nur ein durch Drogen oder Alkohol beeinflusster Zustand der Selbstaufgabe oder -erkenntnis, sondern auch der Stil der Neu-Autorin.

“Dicht”: Vom Feinsten

Gute Beobachtungsgabe, treffende Beschreibungen und herrlich absurde Dialoge im Wiener Regiolekt oder Soziolekt beschreiben ihren ersten Roman, der ganz dem (zu kurzen) Leben eines Freundes gewidmet ist: Michi. Seine Einzimmerwohnung im an und für sich gutbürgerlichen 18. Wiener Gemeindebezirk ist der Zufluchtsort für allerlei Gestalten aus dem Wiener Dranklermilieu, Drugs inklusive. Auch die junge Stefanie findet dort Schutz vor den Zumutungen der Welt, wie der etwas faden Schule oder dem zielorientierten Elternhaus. Ihre Eltern leben zwar in Trennung, aber natürlich haben sie klare Vorstellungen, was ihre Tochter einmal machen soll. Erstmal Matura, dann studieren. Schließlich sollte sie es einmal besser haben, das wünschen sich ja alle Eltern. Und dazu gehört nun einmal vor allem Bildung.

“Nie wieder Faschiertes”!

Aber die junge Stefanie hatte erstmal gar keine Lust auf Schule und Autoritäten und vertrieb sich ihre Zeit lieber im nahegelegenen Votivpark und hing dort mit jenen Leuten ab, die andere in ihrem Alter wohl eher mieden. Mit ihrer Freundin Sarah zieht sie wie schon andere Flaneure durch das Wiener Nachtleben der morgendlichen Tagediebe und entflieht so vor der Verantwortung. Derweil kocht ihnen Michi etwas Geklautes aus dem Supermarkt, “vom Feinsten”, wie er nicht müde wird zu betonen. Mit “Wir motivierten einander dazu, uns nicht leicht beeindrucken zu lassen, und bestätigten uns darin, einfach alles kapiert zu haben” erklärt sie ihre gegenseitige Freundschaft. Von Michi und seinen Freunden lernt sie, dass unterschiedliche Lebensentwürfe auch ihre Berechtigung haben, solange sie auch freiwillig gewählt werden, was natürlich nicht immer der Fall ist. Viele der Dropouts, die sie auf den Streifzügen durch das Wien der Nullerjahre kennenlernt, sind entweder psychisch krank oder drogensüchtig oder beides. Ein atmosphärisch schlecht gewählter LSD-Trip rettet ihr vielleicht das Leben.

Aufzeichnungen aus dem (Wiener) Untergrund

Denn durch ihn hört sie auf zu kiffen und beginnt zu saufen. Das lässt sich dann besser mit schreiben und zeichnen vereinbaren und so wird sie die, die sie heute ist: Stefanie Sargnagel. In einer beeindruckend lässigen und unaufgeregten Sprache erzählt sie vom Erwachsenwerden, der sog. Adoleszenz, und ihrer eigenen Bewusstseinserweiterung: Zeichnen, das war das, was sie eigentlich machen wollte. “Alles was ich wollte, war zeichnen. Das Zeichen hielt mich während des Unterrichts am Leben, neben der Aussicht auf die Nachmittage.” Nach einem Einbruch auf der heute in die Schlagzeilen gekommene Baustelle des Lamarr-Kaufhauses in Wien beginnt für Stefanie eine gelungene Resozialisierung, die plötzlich einen Plan für ihr Leben hat. An der renommierten und gutbürgerlichen Akademie der Bildenden Künsten wird sie auch ohne Matura aufgenommen und ein neues Leben beginnt.

Heute lebt sie als Kartoonistin und Autorin immer noch in Wien und wird von einer Talkshow zur anderen gereicht, dreht einen Doku-Spielfilm, schreibt weiter Statusmeldungen, etc. Ein geradezu dichtes Programm, wie sie sich schon bei Stegmann/Grissemann live beschwerte. Stefanie Sargnagel hat ihr Phlegma erfolgreich kultiviert und liebevoll literarisiert. Sie hat sich selbst als eine “authentische Kunstfigur erschaffen, in die man sich nur verlieben kann“.

Stefanie Sargnagel
Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin
2021, Softcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-499-27483-1
Rowohlt Taschenbuch


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

The Addams Family – Das Familienalbum

The Addams Family. “Man sagt, unter uns ist niemand, in dem kein Roman steckt.” Morticia, Gomez, Lurch, das eiskalte Händchen, Onkel Fester, Granny Frump und die lieben Kinderlein Pugsley und Wednesday: das ist die Addams Family! 1600 veröffentlichte Arbeiten gibt es von Charles Addams (1912-1988), die andere Hälfte liegt in privaten Händen oder Sammlungen.

Fröhliche Schauer des Gruselns

Für »The Addams Family: Das Familienalbum« hat Kevin Miserocchi etwa 200 Cartoons zusammengetragen und mit liebevollen Einführungsstories versehen, selbstverständlich für Fans und Neulinge gleichermaßen aufregend. Denn dass die zweite Staffel von “Wednesday” dieser Tage bei Netflix online geht, wäre ohne das Talent und die Inspiration von Charles unmöglich gewesen. Er war es, der die außergewöhnlichste Familie der Welt salonfähig gemacht hat. Die zwischen 1964 und 1966 ausgestrahlte Serie mit vierundsechzig Folgen, die Kinofilme und schließlich Wednesday für die Next Generation schafft Verbindendes zwischen inzwischen drei Generationen. Aber widmen wir uns doch als erstes gleich den beiden lieben Kinderlein, die so alles andere als artige Gesellen sind. Pugsley, der Bruder von Wednesday, hätte ursprünglich “Pubert” heißen sollen, aber dieser Name war eher eine Bezeichnung seines Tuns und wurde von den Produzenten einhellig abgelehnt.

The Addams Family – Das Familienalbum

Da wurde eben Pugsley, ein Fluß in der Bronx zum Namensgeber. Er sitzt vor seiner Spielzeugeisenbahn und lenkt prompt einen Schulbus Kinder auf die Geleise. Auf einem anderen Cartoon sieht man wie er sich hinter einem Busch eine Haiflosse anzieht, während die anderen Kinder im Fluß schwimmen. Aber auch Lurch hat ähnliche Ambitionen. Der zwei Meter Riese ist der wortlose Butler der Familie und kidnappt auch schon mal die kleine Wednesday bevor er sie in den vorbeifahrenden Schulbus wirft. Da ist Granny Frump (dt.: Vogelscheuche) geradezu harmlos, die meiste Zeit rührt sie mit einem Kochlöffeln in einem Gifttopf. Oder holt für ihre Enkerl Weihnachtskekse in Fledermaus- und Totenkopfform aus dem Feuer.

Eine Familie zum Fürchten

Einer der wohl am meisten geliebten und gleichzeitig fiesesten Charaktere ist sicherlich Onkel Fester. Da die Kinder alle anderen Erwachsenen ohnehin Tante oder Onkel nennen, heißt dies nun aber nicht, dass sie irgendwie verwandt wären. Fester geht schon mal fischen (mit Dynamit) oder fährt im Karacho durch das Parkgaragentor – ohne zu zahlen natürlich. Unter der Dusche dreht er “scalding” (brühend) voll auf und öffnet schon mal die Büchse der Pandora an einem belebten Strand. In ein Vogelschutzgebiet fährt er mit einem Kofferraum voller Katzen… Ihm macht eigentlich nur noch das eiskalte Händchen Konkurrenz. Es ist kein Hausangestellter, aber dreht eventuell die Schallplatte um. Ein eigenes Kapitel ist auch anderen, weiteren Verwandten gewidmet. “Ich finde ja bei Strahlung vor allem die Gedanken be(un)ruhigend, dass is in künftigen Generationen zu Mutationen kommt”, meint abschließend Morticia vor dem Kaminfeuer. Und das ja Weihnachten vor der Türe steht, sei noch besonders auf den Cartoon auf der letzen Seite verwiesen, bei dem die versammelte Addams Family am Dach ihres Gruselhauses mit einem siedenden Öltopf steht. Unten vor dem Haustor: die liebe Verwandtschaft.

Köstliches Amüsement erwartet alle Familienmitglieder unterm Weihnachtsbaum mit diesem Familienalbum der Addams Family. Eine gelungene Hommage an einen der größten Humoristen Amerikas und seine berühmt-berüchtigte Schöpfung, die wohl liebenswerteste amerikanische Familie. Frohe Weihnachten!

Kevin Miserocchi (Hg.)
Charles Addams. The Addams Family – Das Familienalbum
Herausgegeben von H. Kevin Miserocchi
Übersetzt von Conny Lösch
2023, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-95614-567-4
Verlag Antje Kunstmann
Euro 30,00 €


Genre: Biographie, Cartoons, Familiengeschichte, Horror
Illustrated by Verlag Antje Kunstmann

Iowa. Ein Ausflug nach Amerika

Iowa. Ein Ausflug nach Amerika. Nach “Statusmeldungen” und “Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin” schon das dritte Buch der österreichischen Self-Made-Autorin Stefanie Sargnagel aus Wien beim renommierten Rowohlt Verlag. Mit dabei ist dieses Mal auch Christiane Rösinger besser bekannt durch ihre Bandprojekte Lassie Singers und Britta, sowie viele andere kulturelle Aktivitäten im Berliner Underground.

Iowa: Fette Malls, ranziges Essen

Stefanie Sargnagel hat sich im deutschsprachigen Raum bereits einen gewissen Kultstatus erworben. Ihr Ausflug nach Amerika glänzt durch bissigen Humor und Selfbashing – entwaffnend ehrlich eben. Auf Einladung eines amerikanischen Colleges in Grinnell, Iowa fliegt die muntere Autorin mit ihrer Freundin Christiane kurzerhand in die USA. Sie soll dort Creative Writing unterrichten und das ausgerechnet in einem 8000-Seelen Dorf. Das College erweist sich dann aber als multikultureller und diverser als der Ort und Iowa fortschrittlicher als man es erwarten würde. “Über die Realität legt sich ab jetzt ein beugebräunlicher Schleier. Das ist der vergilbte Teil der USA“, sind zwar ihre ersten Gedanken nach der Landung, aber bald bemerkt sie, dass das Örtchen keine Kulisse ist und dort tatsächlich richtige Menschen leben, auch wenn sie oft Klischees entsprechen, die man aus US-amerikanischen Serien selbst zu kennen glaubt. Tumbleweed. Vieles ist ihr dann auch tatsächlich schon bekannt, aus eben diesen Serien oder Filmen. Aber sie entdeckt auch bald die Segnungen des Kapitalismus: Dass ausgerechnet Walmart eine soziale Ader hat und arme Leute auf den Parkplätzen seiner Malls campen lässt, ist doch überraschend. Skurriler noch als unsere westeuropäischen Vorurteile sind auch Sargnagels Beschreibungen der Amish, Amana und Maharishi-Sekten, um nur drei der unzähligen Glaubensgemeinschaften dort zu nennen, auf die sie bei ihren Ausflügen stößt. Die Autorin hat darüber eigene Reportagen eingebaut, auch Chicago und L.A. besucht sie kurz im Mietwagen mit ihrer Mutter und auch wenn der eigentliche Höhepunkt des “Ausflugs nach Amerika” ausbleibt (oder ist es der Abschied von Christiane?) ist das eigentliche Thema ein ganz anderes.

Ausflug nach Amerika: Genug vom “Rumspringa”

Denn es wäre kein Buch von der Sargnagel, wenn man nicht auch sehr viel über sie selbst erfahren würde. So lernt man etwa den Alkoholmissbrauch der Österreicher von dem der Deutschen zu unterscheiden oder begreift endlich den Unterschied zwischen einem Egozentriker und einem Narzissten: “Nur der erstere ist zu wahrem Idealismus in der Lage“. Christiane und Stefanie erkunden die Umgebung im Mietauto oder mit dem Greyhound: Des Moines, die Hauptstadt Iowas, wird durch die Iowa State Fair und den zweitgrößten Skywalk nach Minneapolis beschrieben, der Mississippi durch einen Pelikanflug und Dubuque durch seine Zahnradbahn, die älteste Amerikas. Das Hundebashing und die Macht der Waffenlobby sind noch ein paar Roadside Attractions auf diesem munteren Ritt durch den Midwest der USA. “Wochenlanges zielloses Reisen empfinde ich aber seit ich nicht mehr jugendlich bin eigentlich als stumpfen Konsum privilegierter IdiotInnen“, schränkt sie ihre Neugierde dann aber doch etwas ein und ist dann irgendwie wieder froh, nach Grinnell zurückzukommen. “Aber mit dem Abschied vom Exzess bricht ein ganzer Teil der Wirklichkeit weg. Der Irrsinn der Nacht.”Dafür kann man sich dann – am Ende der Strasse – vielleicht nur noch für Mukbang interessieren? Bei den Amish dürfen die geschlechtsreifen Jugendlichen mit 16 Jahren auf die Pfalz, sie nennen das “Rumspringa“, erzählt Sargnagel und in dieser Zeit dürfen sie alles ausprobieren, was sie wollen: Sex und Drugs und R’n’R. Davon dürfte die Sargnagel, 1986 geboren, inzwischen wohl genug haben. Denn mit kaum etwas mehr als 37 Jahren hat sie schon ihr reifes Alterswerk geschrieben: Iowa. Ein unterhaltsamer, lesenswerter Roadtrip voller Sarkasmus bei gleichzeitig sehr viel Sympathie. Unaufgeregt, abgeklärt und unheimlich witzig.

Zu Lesungen des Buches mit der Autorin lädt der Rowohlt Verlag ab Januar 2024 in Wien, Graz, Köln und vielen anderen deutschsprachigen Städten!

Stefanie Sargnagel
Iowa. Ein Ausflug nach Amerika
Mit korrigierenden Fußnoten von Christiane Rösinger
2023, Hardvoer, 304 Seiten
ISBN: 978-3-498-00340-1
Rowohlt Buchverlag


Genre: Autobiografie, Gegenwartsliteratur, Reise, Reiseabenteuer
Illustrated by Rowohlt