Erst grau dann weiß dann blau

Was nicht erzählt wird, gibt es nicht

Es ist nichts weniger als der Ausbruch in ein anderes Leben, den die holländische Schriftstellerin Margriet de Moor 1996 in ihrem Romandebüt «Erst grau dann weiß dann blau» als Motiv gewählt hat. Und zwar nicht in der sattsam bekannten Form vom Mann, der Zigaretten holen geht und nie wiederkommt, sondern von einer Frau, die plötzlich verschwunden ist und zwei Jahre später wieder da ist. Sie steht in der Küche und fragt ihren von der Arbeit heimkehrenden Mann, ob er draußen essen will bei dem schönen Wetter, – so als ob nichts gewesen ist, als ob sie sich erst morgens noch gesehen haben. Der eigentliche Skandal aber ist, dass Magda kein Wort dazu sagt, wo sie gewesen ist.

Ihren Mann Robert hat sie in Kanada kennen gelernt, er ist nach abgebrochenem Jurastudium Maler geworden. Als sie 1963 heiraten, bricht auch sie ihr Studium ab, folgt ihm in seine holländische Heimat. Bald schon besuchen die Beiden Roberts alten Freund Erik. Dessen hochschwangere Frau Nelli steht unmittelbar vor der Geburt und bringt noch in der Nacht Gabriel zur Welt. Das Kind leidet, wie sich schließlich herausstellt, an Autismus. Robert und Magda verlassen Holland nach kurzer Zeit wieder und kaufen in den französischen Alpen einen alten Bauernhof. Magda erleidet dort mehrere Fehlgeburten hintereinander und bleibt schließlich kinderlos. Elf Jahre später kehren sie nach Holland zurück, Robert übernimmt die vor dem Bankrott stehende Firma seines verstorbenen Vaters und wird ein erfolgreicher Unternehmer. Magda gelingt es, zu dem herangewachsenen Gabriel, der inzwischen in einer Behinderten-Einrichtung arbeitet, über dessen Begeisterung zur Astrologie eine enge Vertrautheit herzustellen. Er hat darin beachtliche Kenntnisse erworben, sie interessiert sich ebenfalls dafür und hilft ihm als Übersetzerin bei der Korrespondenz mit namhaften Sternwarten rund um den Erdball.

Der in vier Teile gegliederte Roman wird aus wechselnden Perspektiven erzählt, zunächst in der Ich-Form aus der von Erik. Darin wird das bittere Ende der Geschichte vorweg genommen. Im zweiten Teil wird geschildert, wie der plötzlich einsame Robert mit dem Verlassenwerden umgeht, wie er mit seinem ungewohnten Single-Leben zurechtkommt. Der dritte Teil beleuchtet in vielen Rückblenden das wechselvolle Leben von Magda, die 1938 in Tschechien geboren wurde, den Vater im Krieg verloren hat und mit ihrer Mutter über Berlin und Neapel nach Halifax in Kanada emigriert ist. In filmschnittartig aneinander gereihten Szenen erzählt die Autorin von ihrer radikalen Aussteigerin Magda und deren vergeblichem Versuch einer Selbstfindung. Sie vermischt die Geschehnisse mit vielerlei Metaphern und raffinierter Symbolik zu einem poetischen Bild der Suche nach Liebe, nach Glück und Freiheit. Wobei sie vieles in der Schwebe hält, was dann auch zu vielerlei Interpretationen verleitet, zumal nicht alles wirklich plausibel ist, was da geschildert wird. Die Autorin hat dazu erklärt: «Ich möchte meinen Leser genau in diesen zweideutigen Zustand versetzen, in dem die Grenzen der Wirklichkeit aufgehoben sind».

Dazu gehört insbesondere die provozierende Selbstverständlichkeit, mit der die Romanheldin nicht nur ihre Identitätssuche betreibt, sondern sich auch noch beharrlich darüber ausschweigt. Damit wird von ihr offensichtlich ein Tabu gebrochen, eine zweite Magda, von der man partout nichts weiß, neben der allen wohlbekannten ersten, ist keinesfalls akzeptabel. Und das gilt nicht nur für die Mitmenschen, sondern insbesondere auch für Robert. In einer ergreifenden Szene bei der Überfahrt nach Kanada berichtet Magda von der bevorstehenden Seebestattung eines gerade verstorbenen Babys in einer Pappschachtel. «Erzähl es mir, bat ich das Baby leise. Stimmt es, dass alles erst grau wird, dann weiß, dann blau, und dass man dann zu den Sternen fliegt?» Und als Credo findet sich an anderer Stelle im Roman der Satz: «Was nicht erzählt wird, gibt es nicht». Wie wahr!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Virtuose

moor-1Ein Trockenstoß

Mit Caravaggios Gemälde I Musici auf dem Frontdeckel und dem Titel «Der Virtuose» ist die Thematik des Romans von Margriet de Moor gekonnt verdeutlicht, auch die Zeit des Barock ist damit bereits benannt. Aber es geht um mehr als nur Musik, zu den Genüssen dieser als sinnenfroh beschriebenen Epoche gesellt sich hier als weiterer Aspekt die Liebe, in der reduzierten Spielart einer bedenkenlos ausgelebten und virtuos praktizierten Sexualität allerdings, beides bedingt sich geradezu. Den besonderen Kick aber erhält diese thematische Gemengelage noch dadurch, dass ausgerechnet ein Kastrat als Protagonist hier Virtuose und Liebhaber in Personalunion ist.

Der Erlös aus dem Verkauf seines Sohnes Gasparo ist der Einsatz in einem Spiel, welches sein spielsüchtiger Vater verliert. Der Sohn, mit einer wunderschönen Stimme gesegnet und von Carlotta maßlos bewundert, verschwindet daraufhin für immer aus dem Dorf, er landet in einem der einschlägig bekannten Internate für Kastraten. Jahre später trifft ihn Carlotta, lebenshungrige Tochter des damaligen Spielgewinners und inzwischen mit dem wesentlich älteren und wohlhabenden Berto verheiratet, in Neapel wieder, er ist ein gefeierter Sänger geworden. Binnen kurzem macht sie den unerfahrenen Jüngling zu ihrem Geliebten, ihr heißes Begehren ist unverkennbar auch musikalisch inspiriert. Denn sein betörendes Äußere als unmännlich schön erscheinender Adonis wirkt ebenso anziehend auf sie wie die himmlische Stimme, mit der er sein ihm zu Füßen liegendes Publikum verzaubert.

Mit viel Sachverstand schildert de Moor den Opernbetrieb jener Zeit, in der das Geschehen auf der Bühne zuweilen skurrile Formen annahm, bis hin zu – auf offener Bühne ausgetragen – Rivalitäten zwischen den Sängern. Allzu häufige Exkursionen in die tiefsten Geheimnisse der Phonetik und in die Besonderheiten zeitgenössischer Partituren, samt deren diverser Varianten der Interpretation, überfordern musiktheoretische Laien wie mich allerdings hoffnungslos, sie tragen daher auch rein gar nichts zum Lesegenuss bei. Eher kommen Voyeure auf ihre Kosten, sie erfahren immerhin, dass Sex mit Kastraten sehr wohl möglich ist, was auch ich nicht wusste, und was ein «Trockenstoß» ist. Carlotta lebt ihre hedonistische Maxime erfrischend offen aus, Musik und Sex, und zwar in Kombination miteinander, bilden nun mal ihr ganzes Lebensglück. Diese Hymne auf die Wollust ist eine Bejahung des menschlichen Daseins ohne Wenn und Aber. Emotional allerdings ist ihr Lover eine herbe Enttäuschung, mehr als freundschaftliche Zuneigung empfindet er nicht für sie, die Musik steht an erster Stelle in seinem Leben, und Frauen als solche sind ihm ebenfalls nicht so wichtig, ein schöner Gesangsschüler lockt ihn nicht weniger, ist am Ende sogar wichtiger für ihn als Carlotta. Sexuelle Anziehungskraft, eine Binsenweisheit ja eigentlich, hat eine kurze Halbwertszeit, sie taugt auf Dauer nicht als Bindemittel.

Der Roman ist in einer lebhaften, kurzweiligen Art geschrieben, sprachlich gekonnt und leicht lesbar mit gedanklichen Sprüngen, die den Leser zuweilen fordern, ohne ihn allerdings je den Faden verlieren zu lassen. Das Lokalkolorit ist plastisch eingefangen, bis auf ein kurzes Intermezzo über das Leben von Carlottas Zofe bildet der Kleinadel Neapels den gesellschaftlichen Hintergrund und die barocke Oper dessen alles beherrschende Projektionsfläche. Dabei wird dann auch klar, warum die Frauenrollen damals mit Kastraten besetzt waren, die man heute bei der Aufführung Alter Musik nur unzureichend durch Countertenöre zu ersetzen sucht. Was jedoch den Sex anbelangt, hätte der musikalischen Kunst eher die Erotik als Liebeskunst entsprochen, mit vergleichbaren emotionalen Empfindungen. Der Roman hingegen fokussiert das Geschehen einseitig auf den fleischlichen Akt, von dem wir ja wissen, dass er im vorliegenden Fall stets mit einem Trockenstoß endet, ein mit der fehlenden Erotik in dieser Geschichte durchaus vergleichbares Manko.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München