Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft

In jedem von uns könnte ein kleines Genie stecken, heißt es, und viele Dichter, Denker, Wissenschaftler und Forscher haben sich bemüht, die Bedingungen und Ursachen der Genialität herauszufinden. In einem sind sich dabei inzwischen wohl alle einig: In unserem Gehirn findet sich keine Antwort auf diese Frage! 

Dabei ist die Idee, dass in jedem Individuum so etwas wie ein Genie steckt, nicht abwegig. Eine Gruppe von Ausnahmemenschen, häufig sind es Autisten, verfügt über unglaubliche Spezialbegabungen.

Diese Wissenden, „Savants“ genannt, können beispielsweise komplexe Rechenoperationen ausführen, die jeden Computer zum Absturz bringen. Sie sind ohne nachzudenken in der Lage, komplexe Pläne und Zeichnungen von riesigen Städten anzufertigen, die sie nur einmal kurz überflogen haben. Sie erinnern alle Daten und Fakten, die ihnen jemals begegnet sind und vieles Wunderbare mehr.

Savants verfügen über keine größeren Festplatten im Hirn als andere Menschen. Sie scheinen eher etwas auszublenden, das uns enorm wichtig erscheint: Das ist die Sprache.

Dient uns „Normalos“ Sprache als Ordnungsmittel, um die Informationsflut zu bändigen und dem Chaos zu entkommen, scheint es bei den Wissenden genau andersherum. Diese Genies, die Klavierstücke nach Gehör inklusive eingebauter Fehler nachspielen oder die Zahl Pi bis auf über 22.500 Stellen hinter dem Komma aufsagen können, verfügen meistens über einen höchst eingeschränkten Sprachschatz. Auch sind sie untauglich, kleinste Vorkehrungen ohne fremde Hilfe zu verrichten. Sie lassen sich offensichtlich gänzlich von anderen Dingen leiten als vom rationalen Denken.

Dabei weist unser Verstand eine äußerst beschränkte Kapazität auf. Fachleute sprechen von maximal 50 Bits/Sekunde, die uns das Hirn bewusst machen kann. Nun schickt aber allein unser Auge mindestens 10 Millionen Bits pro Sekunde an unser Oberstübchen, die Haut etwa eine Million, dazu kommen die Informationen, die unsere anderen Sinne aufnehmen, alles in allem sekündlich elf Millionen Bits. Gehirnforscher leiten daraus die These ab, dass uns weniger als 0,1 Prozent dessen, was unser Gehirn verarbeitet, überhaupt bewusst wird. Der Rest wird abgelegt, im »Bauchhirn« gespeichert, das sich gelegentlich als »innere Stimme« meldet.

Nun spielen aber neben der Ebene des eindimensionalen Verstandes unendlich viele Gefühle und Empfindungen in unser Denken. Wer denken will, muss fühlen. Neben dem Gefühl kommt der Intuition eine tragende Rolle zu, und die vielleicht erste Geige spielt unser „inneres Afrika“, wie Sigmund Freud es nannte, das Unbewusste. Die irrationale Seite unseres Seins wird inzwischen nicht mehr als uns fremdsteuernde innere dunkle Macht, sondern zunehmend positiv gesehen.

Nicht mehr das uns aus dunklen Kellern des Ichs angeblich beherrschende „Es“ (Stephen King betitelte damit einen unglaublich spannenden Roman), steht im Vordergrund. Heute wird das Unbewusste mehr als eine Art Assistent gesehen, der unser Ich vervollkommnet, uns bei wichtigen Entscheidungen hilft, unsere Sehnsüchte, Bedürfnisse und Wünsche ans Licht bringt.

Neben dem Unbewussten spielt unser Instinkt eine tragende Rolle. Warum schrecken wir vor Schlangen zurück? – Unser Instinkt warnt uns. Vorfahren in grauer Vorzeit haben die Erfahrung gesammelt, dass man zu diesen Tieren besser Abstand hält. Wir müssen deshalb glücklicherweise nicht selbst die Erfahrung machen und uns beißen lassen, um im Überlebensfall in Deckung zu gehen. Wir wissen es einfach, es ist evolutionär verankertes Urwissen. Unsere Urinstinkte arbeiten übrigens viel schneller als unser Oberstübchen. Bis wir auch nur einen Gedanken daran verschwenden, ob das Reptil gefährlich sein könnte, ergreifen wir bereits die Flucht.

Obwohl der bewusste Verstand sich also gern für etwas Besseres hält, so der Wissenschaftsjournalist Bas Kast, der ein Sachbuch zum Thema verfasst hat, kommt er, im Vergleich zum Unbewussten, nur mit minimalen Datenmengen klar, und genau das sei seine Archillesferse. Deshalb sollten wir lieber nur bei einfachen Sachen bewusst nachdenken. „Sobald es etwas komplexer wird, sollte man den Verstand möglichst abschalten und das Denken dem Unbewussten überlassen“, meint der Autor.

Eine kluge Lebensstrategie sei, über grundsätzliche Entscheidungen eine Nacht zu schlafen, um dem Unbewussten Zeit zu lassen, den richtigen Weg zu weisen. Während der(Sach-)Verstand alle relevanten Informationen sammelt und verarbeitet, taucht aus dem Unbewussten dann quasi automatisch die richtige Antwort auf.

Kast schaufelt eine Menge wissenswerte Informationen in sein Buch, das er mit kurzen Fallbeispielen und einem für meinen Geschmack zu umfangreichen Exkurs über die philosophischen Auffassungen der alten Athener bis hin zur Immanuel Kant anreichert. Spannend hingegen fand ich seine Gedanken über das turbulente Gefühlsleben kreativer Genies sowie die besonders unter Autoren ausgeprägte bipolare Depression und den damit verbundenen Hang zu Alkoholismus und Suizid. Wie es scheint, öffnen sich bei einer leichten Manie die Kontrollschranken des Gehirns und lassen „verrückte“ Ideen und Assoziationen nach oben steigen. Die Vernunft erweist sich gewissermaßen als Kreativitätskiller.

Um kreativ zu sein, gilt es also, den bestehenden Filter im Kopf zu lockern. Aldous Huxley beispielsweise versuchte das, wie in „Pforten der Wahrnehmung“ beschrieben, durchaus erfolgreich mit Mescalin. Diesen Weg beschreitet der Autor nicht, obwohl ihm klar ist, dass eine gewisse Risikobereitschaft zur Kreativität gehört. Er reiste jedenfalls nach Australien und ließ sich mit TMS, transkranieller Magnetstimulation, einen Teil des Hirns bombardieren, um sich für einen kurzen Zeitraum als Savant zu fühlen. Ob es ihm gelungen ist, erfährt der Leser am Schluß des Buches.

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Genre: Sachbuch, Wissenschaft
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

5 Gedanken zu „Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft

  1. Interessanter Artikel, leider zieht Kast die falschen Schlüsse. Schließlich sind auch rechtsextreme Bewegungen dem “Bauch” und nicht dem Verstand geschuldet, denn auch die Angst vor dem Fremden ist natürlich in unserem Unterbewusstsein verwurzelt durch Angriffe und Kriege in der Geschichte. In vielen Situationen führt der “Bauch” auf falsche Fährten, zu falschen Schlüssen oder zu Mord und Totschlag, also hier tritt der lediglich populärwissenschaftlichen Anspruch des Buches zutage.

    • Danke für deinen Hinweis, liebe Anja! Vor allem bei politischen Entscheidungen wie Wahlen sollte man rechtzeitig das Hirn einschalten und mit dem Denken beginnen, wenn es auch mehr Zeit erfordert. Aus einem dumpfen Bauchgefühl heraus den braunen Sudel zu unterstützen, scheint mir fatal.

  2. „Sobald es etwas komplexer wird, sollte man den Verstand möglichst abschalten und das Denken dem Unbewussten überlassen“.
    Das halte ich für keine gute Lösung. Ich empfehle da lieber die Lektüre von
    Daniel Kahneman:
    Schnelles Denken, langsames Denken

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