Der Tokio-Montana-Express

In seinem 1979 erschienenen »Tokio-Montana-Express« bietet Richard Brautigan ein buntes Potpourri: Tagebucheinträge über Personen, die er beobachtet hat. Kleine Geschehnisse, die ihm widerfuhren. Gedanken, die sich spontan vordrängten, aber keine Durchsetzungskraft besaßen. Gesamt: 131 heterogene Prosabissen formen eine phantasievolle Textcollage mit deutlichen biographischen Bezügen. Schon der Buchtitel deutet auf das häufige Hin und Her zwischen seiner Wohnung in Tokio und seiner Ranch nahe Livingstone, Montana.

Richard Brautigan (1935-1984) war ein brillanter Beobachter. Trotz Wehmut schrieb er nüchtern distanziert über den Weltenlauf. Wie schon in seinen anderen Büchern analysierte er auch in »Der Tokio-Montana-Express« scheinbar lakonisch aus nüchtern-kalter Perspektive. Dabei ist er seltsamen Energien äußerst zugänglich.

So ruft er mitten in der Nacht seinen Fotografen an, um 390 entsorgte Weihnachtsbäume in den Straßen von San Francisco zu fotografieren. Auf diese Weise will er das vorherbestimmte Ende der Frieden und Freude verheißenden Tannenbäume in all ihrem Elend dokumentieren. Er verändert sie nicht oder richtet sie auf, er scannt sie wie tote Soldaten auf dem Schlachtfeld des Weihnachtsfestes. Für ihn besitzen diese Bäume die gleiche arglose Reinheit wie der heilige Sebastian, der von Pfeilen durchbohrt am Boden liegt.

Brautigans Assoziationsketten sind mitunter ebenso irritierend wie schräg. Der Autor bevorzugt zwar die klassische Ich-Perspektive, aber dieses Ich verschwimmt und entzieht sich dem Leser. Zu dem vorliegenden Roman meinte Brautigan: »Das „Ich“ in diesem Buch ist die Stimme der Stationen des Tokio-Montana Express.«

Das Buch beginnt übrigens mit einer feinen Zeichnung der Biographie des tschechischen Goldgräbers Joseph Francl, der 1854 vergeblich im Wilden Westen nach Nuggets schürfte und endet mit einer satirischen Beschreibung eines technischen Weckrufs im Japan anno 1978.

Dazwischen entdeckt der aufmerksame Leser Hinweise auf Groucho Marx, dessen Biographie Brautigan in Japan liest. In Grouchos surrealer Komik findet sich Brautigan mit seinem Werk wieder. Wer die Marx-Brothers liebt, wird auch Richard Brautigan lieben.


Genre: Kurzprosa, Underground
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert