In den Himmel springen und die Sterne fressen

Unter dem Motto »Es regnet Blut und ich habe keinen Schirm« von Karl Kraus versammelt Herausgeber Walter Gerlach in dieser leserfreundlich gesetzten und gestalteten Anthologie 99 Grotesken aus allen Zeiten.

Grotesken? – Diese spezielle literarische Kunstform dient Autoren bevorzugt als Darstellung einer verzerrten Wirklichkeit, die auf paradox erscheinende Weise Alltagssituationen, häufig auch Grauenvolles und Blutrünstiges mit komischen Zügen verbindet.

In der Sammlung findet sich beispielsweise Detlef von Liliencrons Gänsehautballade »Der Hunger und die Liebe« um das zärtlich junge Paar Tunkomar und Teutelinde, das nicht zueinander finden kann, weil er zu zurückhaltend, sie hingegen unnahbar ist. Im Äußersten wird er jedoch zum Feuerwerker und sprengt die Anstandsform, als er seine Angebetete mit Haut und Haaren verspeist. »Der Metzgerlehrling Paul« im gleichnamigen Gedicht von Max Dauthenday hingegen wird von den Augen der Metzgersfrau krank und ersticht sich todesmutig selbst. Adolf Glasbrenner erzählt in »Fürchterliche Ballade« von zwei liebestollen Rittern, die sich gegenseitig im Duell vom Leben zum Tod befördern, worauf das umschwärmte Fräulein Leonore zu einer Haarnadel greift und sich selbst ersticht. Blut lassen also Verfasser von Grotesken bevorzugt regnen und werden damit dem Krausschen Leitgedanken gerecht.

Es geht sowohl komisch wie deftig zu in den Texten, die in der Anthologie versammelt sind und natürlich finden sich dort auch Arbeitsproben von denjenigen Autoren, deren Namen mit dem Genre Groteske unmittelbar verknüpft sind: Da steht an erster Stelle der wundervolle Franz Kafka, dessen eigenwilliger Schreibstil mit »kafkaesk« sogar zum Adjektiv avancierte. Sprachartisten des Dada und frühen Expressionismus wie Richard Huelsenbeck, Hugo Ball, Hans Arp, Kurt Schwitters und Jakob van Hoddis treten auf. Der mitunter derb-bitterböse Wilhelm Busch, der ukrainische Meistererzähler Nikolai Gogol und »Schwejk«-Erfinder Jaroslav Hasek sind mit von der Partie. Mit dem Frankfurter Gisbert Haefs, dem Göttinger Reinhard Umbach und der isländischen Lyrikerin Pórdis Björnsdóttir sind Zeitgenossen vertreten. Selbst bei der schwedischen Erzählerin Selma Lagerlöf (»Nils Holgersson«) entdeckte Herausgeber Gerlach mit »Die Hexe vom Hochgebirge« eine Groteske, in der die Protagonistin von Elstern belagert wird.

Einzuwenden, dass dieser oder jene Wortakrobat in der Sammlung fehlt, fällt bei aller Freude über das 300-seitige Lesevergnügen leicht: Klassiker wie Oskar Panizza, Hermann Harry Schmitz, Fritz von Herzmanovsky-Orlando hätten ebenso wie Lewis Carrol (»Weißt du wie viel Sternlein stehen … Auf dem weiten Kanapee? Statt dass sie am Himmel baumeln, Taumeln sie hier durch den Tee. Taumel, baumel …«) Anspruch auf einen Platz. Eugène Ionesco, Samuel Beckett und Max Frisch wurden übergangen. Und von den jüngeren Autoren gehören eigentlich Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid und Dietmar Wischmeyer in ein derartiges Sammelwerk.

Leider fehlt auch jede Erläuterung, nach welchen Gesichtspunkten die Autoren ausgewählt wurden. Dafür präsentiert der Herausgeber literarische Leckerbissen wie Wolfgang Hildesheimers »Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe«, Gustav Meyrinks Tiefsee-Groteske »Blamol« und Friedrich Dürrenmatts makabren Kurztext »Weihnacht«.

Trotz editorischer Schwächen ist »In den Himmel springen und die Sterne fressen« eine Anthologie, die jedem höchst vergnügliche Lesestunden beschert, der gern im Grotesk-Absurden, der Königsklasse des Humors, badet.

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Illustrated by Marix

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