Das Buch ohne Staben

Virales Marketing nennt sich die Methode, mit der die Vertriebsleute des Bastei-Lübbe-Verlages antraten, „Das Buch ohne Staben“ bekannt zu machen: Dutzende Blogger und Online-Communities, die im weitesten Sinne mit Büchern zu tun haben, bekamen geheimnisvolle Post eines „Bourbon Kid“, der ein „Buch ohne Staben“ ankündigte. Kurz darauf flatterte ihnen dieses Werk auch ins Haus: es war ein vollkommen leeres Buch, das angeblich mit Geheimtinte bedruckt war. Es folgte ein geheimnisvolles YouTube-Video. Da niemand imstande war, die „unsichtbaren“ Buchstaben zum Leben zu erwecken, trudelte bald darauf ein neues „Buch ohne Staben“ ein, das jedoch im Unterschied zum ersten Opus großzügig mit „Staben“ bedruckt war. Nun durfte gelesen werden …

Der „Anonymus“ genannte Autor ohne Namen hatte zuvor bereits ein „Buch ohne Namen“ verfasst und damit gedroht, dass jeder, der das Buch lese, sterben müsse. Das erhöhte den Kitzel vor allem für junge Leseratten ungemein, und da es offenbar doch noch Überlebende gab, kommt der zweite Band der Saga um „Bourbon Kid“ gerade recht. Selbst schreibt der Verfasser über sein erstes Opus, es sei „im Grunde genommen ein Durcheinander verschiedener Geschichten und angeblicher Tatsachen, alles in einem einzigen Band zusammengewürfelt. Es ergibt kaum einen Sinn, größtenteils jedenfalls. … Der Autor ist eindeutig ein Volltrottel, was möglicherweise erklärt, wieso er nicht seinen Namen in das Buch geschrieben hat. … Obwohl das auch daran liegen könnte, dass es möglicherweise mehr als einen Urheber gibt.“

Wer auch immer der Urheber ist, es geht jedenfalls um eine wüste Geschichte, die in einem Städtchen namens Santa Mondega spielt. Eine Mumie aus dem städtischen Museum erwacht zu neuem Leben und verschlingt ihre Wärter. Ein Haufen wilder Vampire erwartet die Nacht. Werwölfe träumen vom Vollmond. Hohepriester halten ein junges Mädchen gefangen, um zu einem festgelegten Stichtag ihr Blut zu trinken. Ein Dunkler Lord geht um, ein kugelsicherer Mönch will Vergeltung, und korrupte Polizisten fordern ihren Anteil am blutigen Mahl. Es ist eine Gesellschaft, in der ein Menschenleben weniger zählt als ein Glas Pisse.

Ihnen allen geht es um den Heiligen Gral, einen goldenen Kelch, aus dem das Blut bestimmter Gestalten getrunken werden muss, um unsterblich und Herrscher über die Welt der Lebenden und Untoten zu werden. Um diesen Kelch sowie um das „Auge des Mondes“, einen blauen Stein mit mächtigen magischen Fähigkeiten, kämpfen die verschiedenen Parteien, die sich meistens in verruchten Kaschemmen, schummrigen Bars und schäbigen Diskotheken herumtreiben. Zwischen ihnen agiert ein geheimnisvoller Massenmörder namens „Bourbon Kid“, der bei jedem Auftritt zuverlässig ein infernalisches Blutbad unter den Anwesenden anrichtet.

Reihenweise werden Leute auf die denkbar brutalste Weise gefoltert und geschlachtet. Blut, Hirn, Gedärm und Scheiße spritzen durch die Kapitel, und es gibt kaum einen Akteur, der im Laufe der Ereignisse nicht zerfetzt am Boden liegt oder besudelt durch die Gegend taumelt. Bourbon Kid will Rache, weil einige seiner perversen Gegner seinen geistig zurückgebliebenen Bruder zu Tode gefoltert haben, und er nimmt sie auf grauenvolle Weise. Aber der Massenmörder hat noch ein anderes Motiv: ein Mädchen. Rahmenhandlung der Geschichte ist nämlich eine Liebesschnulze, die den Lonely Rider mit dem von ihm angebeteten Mädchen zusammenbringt. Sie ist natürlich ein hässliches Entlein, das von allen gemieden wurde, nie einen Freund hatte und jeweils an Halloween (31. Oktober) auf ihren großen Helden wartet. Doch auch ihr Traumtyp trägt seine Narben, und so passen sie in ihrem Einzelgängertum ideal zusammen.

Das „Buch ohne Staben“, im Original mit „Das Auge des Mondes“ wesentlich griffiger betitelt, ist eine Horror-Thriller-Fantasy-Vampir-Gothic-Liebesromanmixtur, in dem es um Rache, Vergeltung und die Einsamkeit im Dickicht der Menschen geht. Der Roman schwimmt auf der Welle okkulter Jugendliteratur, die derzeit starke Resonanz unter Teenagern findet. Dabei werden die Grenzen zwischen Gut und Böse vollkommen aufgelöst. Ordnungshüter entpuppen sich als sadistische Verbrecher, und Massenmörder werden zu Helden. Es ist eine Welt, die jede Bodenhaftung verloren hat, keine Moral kennt und Gemeinheiten zum täglichen Brot kürt.

Der Text hat die unwirkliche Realität und Geschwindigkeit eines Computerspiels, bei dem unbesiegbare Terminatoren und Superhelden mit dem Kroppzeug dieser Erde aufräumen. Verschont wird dabei allerdings kaum jemand, denn alle sind letztlich korrupt und schuldig. Es gibt keine moralische Instanz außer dem eigenen Ich, und das nackte Überleben im Weltuntergangsinferno wird zum puren Glücksspiel. So blutrünstig die Ereignisse in den Handlungssträngen aber auch sein mögen, sie werden vom Leser erstaunlich emotionslos angenommen. Rasanz und Spannung entsteht durch die üppige Verwendung von Cliffhangern, die sprachlich mitunter hölzerne (was aber auch an der Übersetzung liegen mag) 68 Kapitel miteinander verweben.

Aufgrund des Mangels an literarischer Qualität hat der Verlag gar nicht erst versucht, über das klassische Feuilleton Leser zu erreichen. Vielmehr wurde darauf gesetzt, das Web 2.0 zu nutzen, um vollkommen neue Schichten Buchleser anzusprechen. Die vielfältigen Reaktionen im Netz auf das Buch, beispielsweise in zahllosen Amazon-Leserrezensionen, lassen vermuten, dass die Rechnung aufgeht. Ob ein derartiges Buch möglicherweise auch die Gefühls- und Gedankenwelt derjenigen widerspiegelt, die mit einer Pumpgun die nächste Schule stürmen und Gleichaltrige niedermähen, um erlittene Erniedrigungen zu rächen, wäre eine Überlegung wert. Zumindest passt das Werk optimal zum Zauber, der um Halloween veranstaltet wird.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Horror
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

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