Der Besucher

Schauerroman? Gesellschaftsroman? Psychologische Studie? Die britische Autorin Sarah Waters gibt ihren Lesern einige Rätsel auf. Fest steht am Ende, der Besucher ist ein gut unterhaltender, ganz und gar nicht schauerlicher Schmöker.

Der BesucherHauptschauplatz des Geschehens ist Hundreds Hall, ein jahrhundertealtes, vom Verfall bedrohtes Herrenhaus im englischen Warwickshire. Auf der einen Seite haben wir die zum englischen Landadel gehörende Witwe Mrs. Ayres. Sie residiert mit ihren erwachsenen Kindern Roderick und Caroline auf Hundreds Hall. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg versuchen sie verzweifelt, den verwunschenen Familiensitz vor dem Verfall zu retten und einen einstmals als selbstständlich genommenen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Dr. Faraday. Junggeselle und Landarzt, der sich mühevoll aus dem Arbeitermilieu hochgearbeitet hat. Seine Mutter war einst Kindermädchen bei den Ayres und behütete die unter ungeklärten Umständen um Leben gekommene Erstgeborene. Faraday war schon als Kind fasziniert von der prachtvollen, aber auch mystischen Erscheinung Hundreds Halls. Haus und Bewohner erschienen ihm wie aus einer anderen Welt und begründeten seine lebenslange undefinierte Leidenschaft für Hundreds Hall.
Eines Nachts wird der Arzt zum Herrenhaus gerufen. Er nutzt die Gelegenheit, den Kontakt zur Familie zu begründen. Auch wenn sie aus unterschiedlichen Schichten stammen, eine entscheidende Gemeinsamkeit haben Faraday und die Familie. Sie alle suchen ihren Platz in der veränderten Gesellschaft des Nachkriegsenglands. Dr. Faraday wird bald zum Vertrauten der Familie, fühlt sich zugehörig und übernimmt – teils ungebeten – Verantwortung für Hundreds Hall und seine Bewohner. Schon bald erfährt er von seltsamen, unerklärlichen Vorgängen. Es beginnt mit sich verschiebenden Gegenständen und Möbeln, kryptischen Zeichen, die plötzlich an den Wänden auftauchen und unerklärlichen bedrohlichen Geräuschen im Haus und endet schliesslich in Bränden, versuchten und gelungenen Selbstmorden. Der Mann der Wissenschaft versucht, immer wieder natürliche Erklärungen zu finden und drängt die Familie zu unglücklichen Konsequenzen. Der Sohn wird in die Obhut eines Irrenhauses gegeben, doch es hilft alles nichts. Die Schicksalsfäden der Familie sind gezogen und umspannen die Familienmitglieder sowie den Herrn Doktor einen nach dem anderen unerbittlich und ausweglos.

Sarah Waters ist eine preisgekrönte britische Schriftstellerin, die vor dem Besucher vor allem mit Büchern aus dem lesbischen Milieu Aufmerksamkeit erregte. Mit dem nun vorliegenden Roman, erst der zweite ins Deutsche übersetzte, wagt sie sich erstmals in Mystery Gefilde. Sie erzählt die Geschichte gekonnt, ihre flüssige Sprache verdichtet die Ereignisse und bringt dem Leser so die gesellschaftlichen Umstände jener Zeit nahe. Sie lässt sich Zeit, beschreibt detailverliebt die Schauplätze und charakterisiert ihre Protagonisten psychologisch fundiert. Zugegeben, der Spannungsbogen leidet darunter. Das dürfte aber nur denjenigen stören, der einen Horror-Roman in schnellem Tempo erwartet. Meinem Empfinden nach hebt genau dies den Besucher über das Level einer reißerischen Horrorgeschichte hinaus und bestärkt meine Vermutung, dass die Intention der Autorin eher ein Gesellschaftsroman war. Ein Roman, der die Elemente des Schauerromans verstärkend nutzt, um die Geschichte eines schauerlichen Untergangs zu erzählen.

Ich habe mich gut unterhalten, auf mehr als 500 Seiten fein geschmökert und mich anschließend beim Lesen diverser Buchbesprechungen im Netz bestens amüsiert. Da waren sie wieder alle. Die sofort schreien, wenn Fragen offen und Lösungen ungeklärt bleiben. War es nun a) Wahn oder doch b) ein Poltergeist? Es wird diskutiert, man erregt sich, die Diskussion verselbstständigt sich und übersieht das, was wirklich geschrieben steht. Ohne allzu viel verraten zu wollen, weise ich zum einen dezent daraufhin, dass dieses Buch einen Titel hat und dieser Titel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zufällig gewählt wurde. Des weiteren verweise ich auf das Gespräch zwischen Dr.Faraday und dem Kollegen Seeley über die Theorie des Kräfte freisetzenden Traum-Ichs und schlussendlich auf die Traumsequenz Faradays (übrigens der Name!! Nachtigall und so…. ) in der letzten Katastrophennacht sowie seine epischen selbstberuhigenden Rechtfertigungen zum Ende des Romans! Bleibt als offene Frage, ob Mrs.Waters sich nicht heimlich auf ihrer Insel amüsiert, weil keiner Lösung C diskutiert ?

Mein Fazit: Mit dem Besucher begibt man sich auf eine schaurig schöne Reise. Ein Schmöker, wie gemacht für lange Winterabende, aber auch durchaus okay für faule Urlaubstage.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

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