100 Jahre Charles Bukowski

Am 16. August 2020 würde der amerikanische Schriftsteller Charles Bukowski (eigentlich: Henry Charles Bukowski, Jr.) seinen 100. Geburtstag feiern. Der Sohn eines US-Besatzungssoldaten und einer Deutschen veröffentlichte ab 1960 Prosa und bis zu seinem Tod am 9. März 1994 mehr als vierzig Bücher (Romane, Gedichte, Prosa).

Im rheinischen Andernach geboren wurde Bukowski bald zum US-Amerikaner, da die Familie nach Los Angeles umzog. Seine Wanderjahre als Jugendlicher und junger Erwachsener brachten ihn aber auch in Städte wie New Orleans, Miami Beach, New York, Atlanta, Chicago und Philadelphia. Als physisch und mental untauglich für den Militärdienst eingestuft und nach Psychiatrie- und Gefängnisaufenthalten fing Bukowski im Alter von 34 Jahren an zu schreiben. Er arbeitete als Briefsortierer bei der Post von Los Angeles und lebte in East Hollywood deren Bewohnerinnen und Bewohner er in seinen Kolumnen für The Outsider oder Open City liebevoll porträtierte. Im deutschen Sprachraum erschienen diese gesammelten Kurzgeschichten unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Außenseiters“ (Notes of a Dirty Old Man) erstmals bei Fischer 1970.

Bukowski “Mädchen für alles”

Aus seinem umfangreichen Werk habe ich mir drei Romane ausgesucht, die sich jeweils einem bestimmten Jahrzehnt seines doch etwas kurzen Lebens widmen. Der 1975 im amerikanischen Original und 1977 bei dtv auf Deutsch erschienene Roman „Faktotum“ zeigt den Gossendichter als „weißen Penner im Negerviertel“ in seiner Jugend, in der er sich mit „Studentenjobs“ abplagt, da er gerade von zuhause rausgeworfen wurde. Voller Ironie beschreibt er das Verhältnis zu seinen Eltern, wenn er über den Rauswurf schreibt: „Ich konnte mir die Preise im Elternhaus nicht leisten“. Sein Vater verrechnete ihm alle Ausgaben extra. Sein alter ego Henry Chinaski veröffentlicht aber bald seine erste Kurzgeschichte und die Weichen für sein künftiges Leben werden gelegt: „Trinken und ins Bett steigen, das war wirklich alles, was wir tun konnten“. Mit lakonischem Humor arbeitet sich Chinaski durch diverse frustrierende Jobs, aber er erzählt auch von Solidarität, als ihm ein paar Mitarbeiter bei einer Jalousienwette zum Sieg gegen den ausbeuterischen Barbesitzer verhelfen. Bukowski schreibt also durchaus auch von Hoffnung und Menschlichkeit in düsteren, aussichtslosen Zeiten. „Faktotum“ bedeute im Amerikanischen übrigens so viel wie „Mädchen für alles“.

Dilemma: Trinken oder Frauen

In „Das Liebesleben der Hyäne“, 1978 im Original und 1989 bei dtv, ist Henry Chinaski bereits in seiner zweiten Lebenshälfte angelangt und hat schon einige schriftstellerische Erfolge hinter sich, sodass er nicht mehr bei der Post (beschrieben in: Der Mann mit der Ledertasche) arbeiten muss und sein Hobby zum Beruf machen kann.

Als roter Faden zieht sich seine Beziehung zu Lydia Vance durch den Roman, die sich aber bald über seine mangelnden „Steherqualitäten“ beschwert. Der Alkoholismus, dem er seit seinem 40. Geburtstag frönt, fordert seinen Tribut. „Wäre ich als Frau zur Welt gekommen, wäre ich mit Sicherheit Prostituierte geworden“, schreibt er an einer Stelle, denn sein Seelenleben war ihm wichtiger als eine Beziehung. „Frauen, die etwas taugten, machten mir angst, weil sie irgendwann etwas von meiner Seele wollten. Und was mir davon noch geblieben war, wollte ich selbst behalten. Also hielt ich mich an Flittchen und Prostituierte.“ Also widmet sich Chinaski lieber doch dem Alkohol. „Wenn etwas Schlimmes passiert, trinkt man, um es zu vergessen. Wenn etwas Gutes passiert, trinkt man, um zu feiern. Und wenn nichts los ist, trinkt man, damit etwas passiert.“ Wenn man an 300 Tagen im Jahr verkatert aufwacht, werde man eben paranoid, so Bukowski über Chinaski. Seine US-Lesetourneen – von denen dieser Roman hauptsächlich handelt – sorgen jedenfalls immer für Nachschub seines Lebensinhalts: Frauen und Alkohol.

Von Andernach nach Hollywood

Sein Roman „Hollywood“ ist Barbet Schroeder gewidmet und man weiß gleich, dass es hier um sein Drehbuch zu „Barfly“ (1987) mit Mickey Rourke in der Hauptrolle gehen wird. Bukowski ist inzwischen um die 60 Jahre alt und kann sich endlich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Er kann sich mit seiner Frau sogar ein Haus kaufen und bewegt sich im Umkreis von reichen Franzosen, die in den Slums von L.A. leben. „Das Leben beginnt mit 65“, schreibt er 1985. 10 Jahre später, im Alter von 73 Jahren starb der “deutsche Dichter“  Charles Bukowski an Leukämie in einem Krankenhaus in L.A..

Eine “zeitgenössische” Interpretation seiner Werke findet sich auch in Form von Musik und Text bei Steinbach auf der CD “Charles Bukowski. Ein Maulwurf im Karton. Songs und Gedichte” mit Gerd Wameling/Steffen Weßbecher-Newman (62 Min., Juli 2010, ISBN: 978-3-86974-055-3, 17,99 €)

Zum 200. Geburtstag von Walt Whitman

200. Geburtstag Walt Whitman

Wie ein Self-Publisher der berühmteste amerikanische Dichter wurde

Von Ruprecht Frieling

1863 porträtierte Alexander Gardner Walt Whitman

Brooklyn 1855. Die Akzidenzdruckerei der Brüder Rome & Rome stellt für einen befreundeten Dichter ein schmales Taschenbuch her. Auf dem Einband des fünfundneunzigseitigen Büchleins fehlt der Name des Verfassers, aber ein Frontispiz zeigt einen 36-jährigen Mann in Arbeitskleidung mit einem großen dunklen Filzhut schräg auf dem Kopf.

Das Buch mit dem Titel »Leaves of Grass« (»Grashalme«) enthält zwölf Gedichte ohne Überschrift. Der Auftraggeber für Satz und Druck wird viele Generationen später von Literaturwissenschaftlern als »Wegbereiter der modernen amerikanischen Lyrik« bezeichnet und heißt Walt Whitman. Er finanzierte mit seiner Erstveröffentlichung den Grundstein seines späteren Erfolges. Vor 200 Jahren wurde der Dichter geboren. Weiterlesen

200 Jahre Karl Marx

200 Jahre Karl Marx: Der am 5. Mai 1818 in Trier geborene Philosoph wird 2018 vom Reclam mit gleich mehreren Neuauflagen seiner Werke gefeiert. Darunter befindet sich nicht nur eine handliche Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei, sondern auch eine Sammlung seiner philosophischen und ökonomischen Schriften, eine Auswahl aus der deutschen Ideologie, sowie eine 100-Seiten Kurzbiographie (Reihe: „100 Seiten“) zu Leben und Wirken des umstrittenen Gründers des Kommunismus.

Karl Marx: Die deutsche Ideologie

„Die deutsche Ideologie“ wurde 1845/46 veröffentlicht und bekämpfte die Weltabgewandtheit etwa der Junghegelianer ihrer Zeit, die damals vorherrschende Ideologie. Mit dieser Schrift begründeten sie auch den Begriff des historischen Materialismus, der sich gegen den Idealismus Hegels wandte und eine Veränderung der Lebensbedingungen forderte. Nicht das Bewusstsein schafft das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein ist eine der zentralen Thesen des Materialismus. Gefordert wird der „praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse“ aus denen diese „idealistischen Flausen“ hervorgegangen seien.

Jäger, Fischer, Kritiker

Das im Anschluss an das Erscheinen sehr einflussreiche Werk, dessen zentrale Passagen in dieser knappen Auswahl hier angeboten werden, liefert genug Munition auch für das 21. Jahrhundert für diejenigen, die sich der herrschenden Ideologie widersetzen wollen. Aus der „deutschen Ideologie“ stammt auch einer meiner Lieblingsstellen bei Marx. Im Kapitalismus sei der Mensch nur entweder oder „Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker“, „während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je ein Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu werden“.

Philosoph, Ökonom, Kritiker

Die „Philosophischen und ökonomischen Schriften“ widmen

Grundlagen zu Karl Marx

sich einerseits der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, dem Manifest der Kommunistischen Partei und der Kritik der politischen Ökonomie bis hin zum zentralen Werk Marxens, dem Kapital. Die vorliegende Ausgabe des Reclam Verlages will dem Leser einen historisch-kritisch edierten Text zur Verfügung stellen, um eine neue Lektüre Marxens nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu ermöglichen. Johannes Rohbeck erläutert im Nachwort die Bedeutung der ausgewählten Text und beschwört einen Marx für das 21. Jahrhundert, der wieder frei von ideologischem Schrott gelesen werden kann. Er sieht die Bedeutung von Marx auch als Vorläufer der erst später entstandenen Soziologie, denn auch die Strukturalisten und Systemtheoretiker des 20. Jahrhunderts hätten bei angedockt. „Mit seinen Analysen des Weltmarktes, der internationalen Arbeitsteilung bis hin zu einer globalen Kultur ist er einer der ersten Theoretiker der Globalisierung“, so Rohbeck. Die positive Antwort nach dem Vermächtnis von Marx liege in der kritischen Analyse des vorhandenen Kapitalismus und weniger in der Utopie des Zusammenbruchs desselben. „Aus der Tatsache, dass sich die Hoffnungen auf eine sozialistische Gesellschaft nicht erfüllt haben, folgt keineswegs, dass sich die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft erübrigt habe“, so Rohbeck.

Das Manifest aller Revolutionäre

Das Manifest aller Revolutionäre

„Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ ist der letzte Satz des „Kommunistischen Manifests“, das noch vor vor der französischen Februar-Revolution und der deutschen März-Revolution 1848 erschien. Im „Manifest“ entwickelten Marx und Engels den sog „Marxismus“, der vorerst vor allem in der Kritik des Kapitalismus bestand und dazu ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung stellte. Ebenfalls in diesem Band enthalten sind die „Grundsätze des Kommunismus“ von Friedrich Engels. Der erste davon lautet: „Der Kommunismus ist die Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats“. Und der erste des Kommunistischen Manifests lautet: „Ein Gespenst geht um in Europa.“ Jetzt wohl nicht mehr. Das Kommunistische Manifest gehört immer noch – nach Bibel und Koran – zu den vier meistverkauften Büchern der Welt: 500 Millionen sind seit 1848 verkauft worden.

Karl Marx: Leben und Werk

In „100 Seiten Karl Marx“ von Dietmar Darth erwähnt der Autor die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, die von Marx angestrebt wurde und auf den Erfahrungen der Commune de Paris basierte. Der Zusammenhang zwischen Commune und der Bezeichnung Kommunismus für die neue Gesellschaftsform, die aus der Commune von 1871 hervorgehen sollte führte Marx auch schlüssig zum Begriff der „Diktatur des Proletariats“, der vielfach missverstanden wurde. „Nun gut, ihr Herren“, soll Marxens Kampfgenosse Friedrich Engels einmal geschrieben haben, „wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ Die sehr persönlich gehaltene Publikation von Dietmar Darth deckt auch neues Quellenmaterial auf, etwa einen Brief von Karl Marx an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln bezüglich des amerikanischen Bürgerkrieges. Denn Marx war nicht nur der erste Kommunist, sondern auch der Begründer der internationalen Solidarität, wie Darth an weiteren Beispielen erfolgreich demonstriert. Sein Zerwürfnis mit den Junghegelianern wird ebenso thematisiert wie die wichtigsten Begriffe aus Marxens Universums, etwa Dialektik, Materialismus oder tendenzieller Fall der Profitrate und Mehrwert. Dass bei all der Theorie von Ökonomie, Philosophie und Politik Karl Marx auch eine große Portion Humor besaß, beweist eine Anekdote, in der er mit einem Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer ausruft: „Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“

Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie
Eine Auswahl. [Was bedeutet das alles?]
96 S.
ISBN: 978-3-15-019510-9
Reclam Verlag
6,00 €

Marx, Karl: Philosophische und ökonomische Schriften
Hrsg.: Rohbeck, Johannes; Breitenstein, Peggy H.
390 S.
ISBN: 978-3-15-018554-4
Reclam
10,80 €

Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei
[Was bedeutet das alles?]
115 S.
ISBN: 978-3-15-019266-5
Reclam Verlag
5,00 €

Dath, Dietmar: Karl Marx. 100 Seiten
Originalausgabe
Broschiert. Format 11,4 x 17 cm
100 S. 11 Abb. und Infografiken
ISBN: 978-3-15-020454-2
Reclam Verlag
10,00 €

Die Korrespondenzen Rimbauds erstmals auf Deutsch

Enid-Starkie+Das-Leben-des-Arthur-RimbaudIm Oktober erscheinen bei Matthes & Seitz die Korrespondenzen des Dichters und Weltreisenden Arthur Rimbaud erstmals auf Deutsch. Rimbauds vollständige Korrespondenz, sämtliche zu Lebzeiten gedruckten Werke (auf Grundlage der Handschriften neu übersetzt) sowie alle zeitgenössischen Rezensionen liegen mit Jean-Jacques Lefrère (Hg.) monumentaler Rimbaud-Edition (2500 Seiten!) nun erstmals auch in der deutschen Übersetzung vor. Zeit, auf sein Leben, Leiden und Sterben zurückzublicken. Eine Vorschau.

Korrespondenz: Ich=Anderer

Car Je est un autre“ (deutsch: „Denn: Ich ist ein anderer“). Auf der Höhe seiner dichterischen Fähigkeiten entsagte Rimbaud der Literatur und begab sich auf eine wilde Reise, erst durch Europa, dann nach Afrika. Auf das Schreiben seiner Hauptwerke „Illuminations“ und „Une saison en enfer“ (Eine Zeit in der Hölle) folgten einige Jahre der Ausschweifung mit Paul Verlaine in Paris, London und Brüssel, wo dieser ihn sogar anschoß. Danach begab sich Rimbaud beinahe in die vollkommene Askese, bereiste als Landstreicher Europa (in Wien wurde im Rausch von einem Fiakerfahrer beraubt), um schließlich als Kaffeeexporteur, Waffenhändler und Sklaventreiber an der Somaliküste und in Äthiopien zu enden. Zurück kam er nur mehr mit einem Fuß und starb zuletzt doch in der Stadt, die er am meisten hasste: seiner Heimatstadt Charleville-Mézières. Er hatte es geschafft: er war wirklich ein anderer geworden.

Entregelung aller Sinne

L’homme aux semelles de vent“ (Der Mensch mit den Sohlen aus Wind), wie ihn Verlaine nannte, hatte ein „warmes und leidenschaftliches Herz, das schließlich in der eigenen Glut ausbrannte“, so Enid Starkie, die 30 Jahre lang an ihrer Biographie zu Rimbaud gearbeitet hat. Rimbaud floh von seinem engen Elternhaus nach Paris, wo gerade die Commune versuchte, ein neues Gesellschaftsmodell zu verwirklichen, aber mit Hilfe der Deutschen niedergewalzt wurde. 20.000 deutsche Soldaten hatten Paris damals, 1871, besetzt. Das zweite Kaiserreich war geprägt von der Rekonstruktion und auch die Künstler waren nach wie vor von Baudelaire und den Parnassiens beeinflusst, die das traditionelle Schönheitsidel pflegten. „Man kann sich denken, dass Rimbauds Vénus Anadyomène `belle hideusement d’un ulcère à l’anus nicht gerade nach ihrem Geschmack war“, bemerkt Starkie sarkastisch. Bei öffentlichen Lesungen soll Rimbaud seine Aufmerksamkeit mit Grunzlauten kundgetan haben und auch sonst durch rüpelhaftes Benehmen aufgefallen sein. Die Abneigung der Pariser Bohème gegen ihn ging sogar noch weiter: Auf dem berühmten Bild von Fantin-Latours „Le Coin de Table“ auf dem auch Rimbaud zu sehen ist, verweigerte sich einer der Vertreter der literarischen Bohème abgebildet zu werden, weil er nicht mit dem Strolch Rimbaud auf einem Bild sein wollte. Statt dem Dichter Albert Mérat steht dort nun eine Vase mit Blumen. Später hatten Verlaine und Rimbaud sogar eine Persiflage auf Mérat veröffentlicht die sich „Le Sonnet du Trou du Cul“ nannte. Statt sich in den Pariser literarischen Zirkel zu integrieren, machte sich Rimbaud nun an die „long et raisonné dérèglement de tous les sens“: die Entregelung aller Sinne.

Leben bis zum letzten Blutstropfen

rimbaud1Enid Starkie zeichnet akribisch die unterschiedlichen Lebensstationen des enfant terrible Arthur Rimbaud nach. Sie zitiert seine wichtigsten Gedichte – die vom Verlag dankenswerterweise zweisprachig abgedruckt wurden – und beschreibt die zentralen Lebensstationen Rimbauds, dessen Gedichte nach seinem Ableben als die eines Thaumaturgen bezeichnet werden könnten. Denn viele nachgeborene Dichter fühlten sich in der Tradition dieses „Wundertäters“ und Alchemisten der Worte und wären ohne seine Leuchtkraft wohl nie „geboren“ worden. „Rimbaud verdanke ich, menschlich gesprochen, die Rückkehr zu meinem Glauben“ soll Paul Claudel über ihn gesagt haben. Arthur Rimbaud lebte sein Leben bis zum letzten Blutstropfen und schaffte es seine eigenen Ansprüche zu erfüllen, auch wenn er letztlich als Mensch scheiterte. „Nous savons donner notre vie tout entière tous le jours“ (Wir müssen uns dem Leben jeden Tag voll und ganz hingeben). Vielleicht musste er an sich selbst verglühen, wie Starkie in obigem Zitat andeutet, da er die Fackel einem Prometheus gleich für uns Nachgeborene vom Himmel geholt hat. Besonders beeindruckend sind auch die Passagen von Enid Starkie in denen sie seine Zeit in Abessinien beschreibt. Man darf also gespannt sein, was die nun vom Matthes & Seitz auf Deutsch herausgegebenen Korrespondenzen für den Forschungsstand bedeuten werden.

 

Enid Starkie
Das Leben des Arthur Rimbaud
Neu heraugegeben von Susanne Wäckerle
Matthes & Seitz
1990, 571 Seiten
Deutsch, teilweise Französisch
ISBN-13: 978-3882217650
15,3 x 4,5 x 22,8 cm

Arthur RimbaudJean-Jacques Lefrère (Hg.)
Korrespondenz
Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Tim Trzaskalik
2500 Seiten, Gebunden
Originaltitel: Correspondance de Rimbaud (Französisch)
Übersetzung: Tim Trzaskalik
ISBN: 978-3-95757-013-0
Preis: 98,00 €

Ein Notizbuch: viel weißes Papier zu Semesterbeginn

Notizbuch um Notizbuch: Für viele Studentinnen und Studenten beginnt bald wieder die Universität und anders als bei den Schülerinnen und Schülern bekommen diese keine Schultüten, um den Beginn des Ausbildungsjahres zu versüßen. Aber dafür gibt es Kalender und Notizbücher, die nicht nur praktischen Gesichtspunkten, sondern auch Ansprüche an Design und Charme befriedigen können. Die bekanntesten dieser Art sind natürlich die kleinen schwarzen von moleskine, die anscheinend schon von Vincent Van Gogh bis Pablo Picasso, von Ernest Hemingway bis Bruce Chatwin. benutzt wurden und so auf eine lange Tradition zurückblicken können. Aber längst gibt es auch originelle neue Ideen, die designtechnisches keine Wünsche offen lassen. Wir haben uns etwas umgeschaut und stellen neue Varianten des beliebten „immer dabei“-Buches hier vor.

Diogenes: Klassiker in Rot

Das Notizbuch des Diogenes Verlags ist in Zusammenarbeit mit Hieronymus, einem der exklusivsten Schreibwarenhersteller der Schweiz, entstanden. Das Diogenes Notizbuch gibt es in drei Größen – small, medium, large und lässt in Sachen Beweglichkeit, Schlankheit, Papierqualität und einfachem Heraustrennen der Seiten keine Wünsche offen. Diogenes Notes sind fadengeheftet, in Leinen gebunden.

Reclam Universal Notizbuch in allen Farben

“Ich werd nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier”, heißt es in notiz3einem Song der deutschen Band Element of Crime. Am Anfang steht damit also die Überlegung, ob man lieber blanko oder kariert wählt. Das Universal-Notizbuch von Reclam gibt es in beiden Varianten und dazu sogar noch einen Bleistift geschenkt. „Record your ideas“ steht avantgardistisch auf dem Kartoncover (Schutzfunktion) zum Notizbuch und tatsächlich hat es auch sein einen Preis damit gewonnen: den red dot design award. Das Reclam-Notizbuch ist gelb und sieht damit genauso aus wie die unzähligen Klassiker der Reihe im praktischen Taschenformat. „Jede Notiz ein Klassiker“ steht auf der Rückseite des eigentlichen Notizbuch-Covers und so steht dann den eigenen Ideen nichts mehr im Wege. Keine lästigen Daten-, Wetter- oder Geburtstagseintragungen mehr, wie bei anderen Notizbüchern, sondern einfach nur das unbeschriebene weiße Papier, Raum für Gedanken, die vielleicht bald die Welt oder zumindest die eigene Fantasie beflügeln können. Weißes Papier: egal ob blanko oder kariert, seit neuestem auch im Schuber in allen Farben der Reclam Publikationen erhältlich.

Suhrkamp Literatur als Notizbuch

Quasi nackt – also ohne schützenden Karton und Bleistift – kommt das notiz1Notizbuch des Suhrkamp Verlages daher, dafür trägt es aber den hochtrabenden Titel eines Literaturklassikers, der bei Suhrkamp 1988 erschienen ist, darauf. „Chronik der laufenden Ereignisse“, das Buch von Peter Handke wird hier zitiert und das Notizbuch sieht genauso aus wie ein Taschenbuch von Suhrkamp, denn in glänzenden Lettern steht der Titel groß auf der Vorderseite. „Schreiben geht nicht ohne Glanz“, ein Zitat von Peter Handke schmückt wiederum den Buchrücken in schillernden blauen Lettern auf schwarzem Grund. Es gibt aber auch andere Ausführungen, etwa “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” von Marcel Proust. Das Notizbuch des Suhrkamp Verlages ist vom Format her etwas größer als das Universal-Notizbuch von Reclam, aber immer noch handlich genug, dass es im Notfall in einer Gesäßtasche einer Jeans Platz hat. Das Notizbuch von Suhrkamp bietet genug Platz für Eintragungen, die durch nichts eingeengt werden, einzelne Seiten ließen sich auch herausreißen ohne Spuren zu hinterlassen, sollte man einmal einem Kollegen ein Blatt Papier borgen müssen. Aber würde das gerne tun? Zu schön ist der Anblick dieser hohen Literatur, die noch geschrieben werden muss. notiz4Als Verbesserungsvorschlag könnte man noch anführen, dass es cool wäre, wenn die Umschlagseiten einklappbar wären, um schneller zu der jeweiligen aktuellen Seite zu gelangen. Es sei dann man schreibt immer auf der ersten Seite, weil man an die Kollegen zu viele leere Seiten verteilt hat. Ist das so gedacht? Egal, auf jeden Fall ein Schmuckstück in jeder Handtasche oder Hosentasche.

Retro und Vintage: das Insel Notizbuch

Zuletzt sei noch auf das Notizbuch der Insel-Bücherei hingewiesen, das es in verschiedenen Farbdesigns gibt und etwas Retro- und Vintagemäßig daherkommen. Sie unterscheiden sich nicht nur durch ihr größeres Format von anderen Notizbüchern, sondern auch durch ihr hartes Karton-Cover, das sowohl innen wie außen in unterschiedlichen Farben designt ist. Der Vorteil ist damit aber auch sein einziger Nachteil, denn es ist weder knick- noch faltbar und außerdem viel zu schön dafür. notiz2Das altmodische Design macht es zu einem wirklichen Designklassiker, dessen Schönheit an ein altes Schulheft erinnert, einer Zeit also, in der man selbst noch Schultüten bekam und die Süßigkeiten noch nicht so bitter schmeckten, sondern einen mit ihrem orientalischen Zauber aus Zucker und Honig einlullten, bereit für die Welt da draußen. Einen schönen Schul- resp. Unibeginn wünscht die Redaktion.

Diogenes Notes
Small (8.5 x 12.5 cm)
Medium (10.5 x 15.5 cm) und
Large (12.8 x 18.8 cm)
144 Seiten
€ (D) 15.00* / sFr 20.00* / € (A) 15.00*

Universal-Notizbuch
Record your ideal
Blanko oder kariert, mit Bleistift
In allen Farben der Universal-Bibliothek
Design: Blum, Wolfgang
Je 128 S., blanko, original UB-Papier mit integriertem Bleistift im Schuber
Format inkl. Schuber: 10,5 x 14,9 cm
ISBN: 9783159003023
5.-€

Chronik der laufenden Ereignisse
Notizbuch
Suhrkamp
Taschenbuch
160 Seiten
ISBN: 9783518467596
4,2.-€

Notizbuch
Insel-Bücherei
ISBN: 9783458177142
8.-€

Zum 150. Todestag von Charles Baudelaire

baudelaire

Charles Baudelaire in Neuübersetzung bei dtv

Charles Baudelaire (1821-1867), der dieses Jahr am 31. August seinen 150. Todestag hatte, gehört mit seinen „Fleur du Mal“ (1857/1868) zu den herausragendsten Lyrikern der Moderne und war nicht nur einem Arthur Rimbaud, sondern auch vielen anderen Dichtern aufgrund seiner poetischen Formensprache ein großes Vorbild. Jean-Paul Sartre widmete ihm im Jahre `78, – quasi 100 Jahre nach Baudelaires Tod – einen beachtenswerten Essay, der allerdings auch viel über Sartres Existenzphilosophie verrät: „Die freie Wahl seiner selbst, die ein Mensch trifft, ist absolut identisch mit dem, was man sein Schicksal nennt.“ Ist dem wirklich so?

Ödipäische Mutterliebe

Eine in Mauritius abgebrochene Seereise nach Indien, sein Ehe mit der Mulattin Jeanne Duval und die Tatsache, dass er das Vermögen seines verstorbenen Vaters verprasste, sind einige der Stationen seines Lebensweges, die ihn unter die Vormundschaft des Notars Ancelle brachten. Natürlich trug auch sein liederlicher Lebenswandel, der Umgang mit Prostituierten und die Feindschaft zu seinem Stiefvater General J. Aupick sowie die Infizierung mit Syphilis zu seinem Leiden bei, von dem ihn einzig seine Poesie retten konnte. „Er war ein ewig Minderjähriger, ein gealterter Jüngling, und lebte in Wut und Hass, aber unter der wachsamen und beruhigenden Aufsicht anderer“, schreibt Sartre über Baudelaire. Der poète maudit habe zwar Zeit seines Lebens die Einsamkeit gesucht, die anderen aber gebraucht um seine Alterität unter Beweis zu stellen. „Dieser Einsame“, schreibt Sartre, „hatte Angst vor der Einsamkeit: nie geht er ohne Begleitung aus. Er sehnt sich nach einem Heim. Nach Familienleben“ und dennoch wollte er ein Genie sein. Genie war für ihn, die absichtlich wiedergefundene Kindheit, „und er brauchte die Anderen, um seine Alterität immer wieder aufs neue zu beweisen, denn er konnte nicht einsam sein, nicht wirklich“, so Sartre. Baudelaire habe stets „in Anbetung seiner Mutter“ gelebt und von ihm stammt auch der Satz: „Ich lebte immer in Dir. Du gehörtest mir ganz allein. Du warst Idol und Kamerad in einem.“, der aus einem Brief an seine Mutter stammt. Auch wenn er die zweite Heirat seiner Mutter nie verwinden konnte – denn wer einen Sohn wie ihn habe, brauche nie mehr zu heiraten. Die Vorwürfe an seine Mutter könnten einer Krankheit, die von Pierre Janet als Psychasthenie bezeichnet wird, verschuldet sein, denn Baudelaire sah die Welt wie durch ein Lorgnon, wie Sartre spitz bemerkt. „Unsereinem genügt es, einen Baum oder ein Haus zu sehen: in ihre Betrachtung versunken, vergessen wir uns selbst. Baudelaire ist ein Mensch, der sich nie vergisst. Er beobachtet sich beim Sehen. Er beobachtet sich, wie er sich beim Sehen beobachtet.“ Die Gegenstände selbst hätten für ihn keinen Wert, sie waren nur ein Vorwand, ein Abglanz oder eine Projektionsfläche und hatten nur die eine Aufgabe, ihm, während er sie sah, Gelegenheit zur Selbstbetrachtung zu geben, so Sartre. Zwischen den Gegenständen und ihm herrschte Transluzenz, „vergleichbar dem Zittern der heißen Luft im Sommer“.

Der existentialistische Mensch

978-3-499-14225-3

Bei Rowohlt: 1978 erschienen

Der von Sartre auch als Heautontimorumenos (=jemand, der sich selbst bestraft) bezeichnete Baudelaire wollte seiner eigenen Luzidität stets ein Schnippchen schlagen, damit ihn dies dann überhaupt zum Handeln befähige, denn die härteste und längste Strafe Baudelaires sei zweifellos die Luzidität seines Geistes gewesen, da er seinen fast krankhaften Reflexionszwang stets als Peitsche benutzt habe, so Sartre. Baudelaire sei nicht Zustand, „er ist Interferenz zweier konträrer Bewegungen, die beide zentrifugal sind und von denen die eine in die Höhe, die andere in die Tiefe strebt. (…) Er beugt sich über diese Freiheit und es schwindelt ihm vor diesem Abgrund. (…) Baudelaire: der Mensch, der sich als Abgrund empfindet.“ Baudelaire ist der Mensch, der sich sehen wollte, als sei er ein anderer. Sein Leben sei aber nichts anderes, als „die Geschichte dieses Scheiterns“. Und so wird Baudelaires Leben zum Vehikel für Sartres Existenzphilosophie: „Er begriff, dass die Freiheit unausweichlich zu absoluter Einsamkeit und letzter Verantwortung führt.“

Suizid oder die Äquivalenz des Todes

So wie Sartre Baudelaire interpretiert und analysiert bleibt er am Ende nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch allein. „F**,“ so Sartre, „das heißt danach streben, in einen anderen einzudringen; der Künstler hingegen geht niemals aus sich selbst heraus.“ Und in diesem Sinne interpretiert Sartre auch Baudelaires „Impotenz, Frigidität, Sterilität“: „Sogar im Coitus blieb er ein Einsamer, ein Onanist, denn im Grunde bereitete nur seine Sünde ihm Genuss“. Eine Phantomsünde, wie Sartre ergänzt, denn nichts lasse die Freiheit und Einsamkeit besser spüren. Für das Liebesspiel habe er sich sogar Handschuhe angezogen haben, schreibt Sartre. Jede seiner Handlungen sei das symbolische Äquivalent des Todes gewesen, den er sich nicht zu geben vermochte, da er ihn ja überleben müsste, um die Früchte desselben genießen zu können. „Frigidität, Impotenz, Sterilität, Mangel an Hingabe, an Hilfsbereitschaft, Sünde: lauter Äquivalente des Selbstmords. Sich bejahen bedeutet für Baudelaire ja sich als reine untätige Wesenheit setzen, also eigentlich als Gedächtnis. Und sich verneinen bedeutet: ein für allemal nichts anderes sein wollen als die unabänderliche Kette seiner Erinnerungen.“

Der Duft der Vergangenheit

Die Modulation eines seiner großen Grundthemen, der Vergangenheit, bringt Baudelaire auch zu einer aufschlussreichen Verquickung derselben mit der geistigen Potenz von Düften, wie wir gleich sehen werden. „Il est de forts parfum pour qui toute matière/Est poreuse. On dirait qu`ils pénètrent le verre.(Es gibt Düfte, so stark, dass alle Materie/Für sie porös ist. Man könnte meinen, sie durchdringen das Glas.) Wie die Schizophrenen und Melancholiker rechtfertigte Baudelaire seine Unfähigkeit zu handeln, indem er sich dem Schon-Erlebten, dem Schon-Getanen, dem Unabänderlichen zuwendete. Er habe die Wahl getroffen, so Sartre, diese bewusste Vergangenheit zu sein. Aus der Gegenwart hingegen habe er eine verkleinerte Vergangenheit gemacht, um ihre Realität besser leugnen zu können. „Wert hat allein die Vergangenheit, weil die Vergangenheit ist. Und wenn die Gegenwart manchmal einen Schein von Schönheit und Güte zeigt, so nur darum, weil sie ihn der Vergangenheit entlieh wie der Mond sein Licht der Sonne.“, schreibt Sartre. Damit verbunden sei eben auch Baudelaires Vorliebe für Düfte gewesen, denn der Duft bedauere stets, dass er vorhanden sei und dieses Bedauern atmen wir gleichsam gleichzeitig mit ihm ein: „Mainte fleur épanche à regret/son parfum doux comme un secret/Dans les solitudes profondes (Manche Blume verströmt Bedauern/Ihren Duft so süß wie ein Geheimnis,/In den tiefen Einsamkeiten)“ heißt es bei Baudelaire. Düfte seien Körper und zugleich so etwas wie die Negation des Körpers. Diese geistige Inbesitznahme habe Baudelaire auch bei den Frauen geliebt, die er eher „einatmete“ als körperlich liebte. Außerdem hätten Düfte „noch jene besondere Fähigkeit, sich rückhaltlos hinzugeben und trotzdem ein unerreichbares Jenseits zu evozieren“, so Sartre, denn Baudelaire liebte auch die Geheimnisse, „die ein ständiges Jenseitiges manifestierten“. Für seine Freunde und Verwandten sei er dadurch nicht mehr nur auf das beschränkt gewesen, was er tatsächlich war: ein Onanist. Für Baudelaire hatte nur die Vergangenheit Tiefe. Sie versehe und präge alles mit der dritten Dimension zitiert Sartre Charles de Bos’ Interpretation. „Sie ist, da sie unabänderlich ist und nichts als ein Gegenstand passiver Kontemplation. Zugleich aber ist sie abwesend, unerreichbar und wunderbar verwelkt. Sie besitzt „Geist“ und sei viel weiter fort als Indien oder China und doch sie nichts so nahe wie sie: sie ist das Sein jenseits de Seins. Und gerade Düfte würden sie evozieren: „Charme profond, magique, dont nous grise/Dans le présent le passé restauré. (Tiefer magischer Zauber durch den uns berauscht/In der Gegenwart die widerstandene Vergangenheit)“ zitiert Sartre Baudelaire’s Gedicht „Un Fantome“.

Baudelaire: Krebsgang in die Zukunft

Bereits mit 25 Jahren habe er begonnen im „Krebsgang voranzuschreiten“: er hatte einen Großteil seines Vermögens bereits vergeudet, den größten Teil seiner Gedichte geschrieben, sich das venerische Leiden zugezogen, das Verhältnis zu seinen Eltern eine endgültige Form gegeben, die Frau getroffen „die wie Blei auf jeder Stunde seines Lebens lastet“ und so sei ihm nichts anders mehr übrig geblieben, als sich selbst zu überleben, so Sartre. „Später wiederholt er sich nur noch.“ Und wenn er verzweifelt war, klammerte er sich immer an dieselben Hoffnungen. Nur im Jahre 48 sei er kurz in Aufruhr geraten, aber es sei keine ehrliches Interesse an der Revolution gewesen, sondern er wünschte sich nur, dass das Haus des General Aupick, seines Stiefvaters, in Brand gesteckt werde. „Dann versank er rasch wieder in seinen grämlichen Grübeleien über eine auf der Stelle tretende Gesellschaft“, so Sartre. Er entwickelte sich nicht. Er löste sich auf.

Ich werde sterben ohne aus meinem Leben etwas gemacht zu haben.“ Schmerz sagte er, sei Adel, Unglück die kostbarste Eigenschaft einer Seele, denn Baudelaire habe den Glücklichen verachtet, da er die Spannung verloren habe, gefallen sei, Glück unmoralisch sei. Der Schmerz half ihm, so zu tun, als sei er nicht von dieser Welt, schreibt Sartre.

Jean-Paul Sartre
Baudelaire. Ein Essay
Original 1963 Éditions Gallimard Paris
1978 Rowohlt Verlag 124 Seiten
ISBN: 978-3-499-14225-3
128 Seiten

Charles Baudelaire, Claude Pichois, Friedhelm Kemp
Die Blumen des Bösen Les Fleurs du Mal
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
Vollständige zweisprachige Ausgabe
EUR 12,90 € [DE], EUR 13,30 € [A]
dtv Literatur
520 Seiten, ISBN 978-3-423-12349-5

Leben heißt frei sein – ein wehmütiges Au Revoir für Benoite Groult

Zum Tode der französischen Schriftstellerin und Publizistin Benoîte Groult

Anfang der Woche ist sie gegangen. Aus diesem Leben, das sie so sehr liebte. Die französische Journalistin, Autorin und Frauenrechtlerin Benoite Groult. Gesegnete 96 Jahre ist sie geworden, agil, interessiert und stimmgewaltig bis zum Schluß. In Frankreich hatte ihre Stimme großes Gewicht, ihre Sicht der Dinge war auch als ausgleichendes Moment gefragt. In Deutschland war sie weniger für ihren Kampf um die Rechte der Frauen gefragt, sondern hauptsächlich für ihren großen Roman “Salz auf unserer Haut”.

Benoite Groult war eine der frühesten Verfechterinnen des modernen Feminismus. Sie stand aber nicht für den freudlosen, verbissenen Feminismus, für den die ein oder andere deutsche Frauenrechtlerin gerade auch der jüngeren Generation bekannt ist und die damit gerade auch jüngere Frauen eher abschreckt. Benoite Groult war die Vertreterin eines – ich nenne es in Ermangelung eines besseren Einfalls einfach mal so – französischen Feminismus, eines lebensbejahenden, sinnlichen Feminismus. Vielleicht hat sie deswegen auch die Bezeichnung Feministin gar nicht so gerne gehört. Was sie wollte, war Gleichberechtigung, und zwar für ausnahmslos alle.

BenoiteGroult

Neben ihren vielfachen Anliegen, die sie nie kompromisslos, aber immer entschieden vertrat, war sie aber vor allem auch eins: Eine begnadete Schriftstellerin und hingebungsvolle Erzählerin mit einem großen Talent für pointierte Charakterzeichnung und exakte Milieu-Genauigkeit. Dabei zauberte sie mit wenigen Worten eine Atmosphäre, in die der Leser sofort eintauchen, um mit ihr den nicht immer einfachen Wegen ihrer Charaktere zu folgen. Charaktere, die Groult mit all ihren Fehlern liebte und über die sie nie richtete. Vor ihrem größten Erfolg “Salz auf unserer Haut” schrieb sie mit Ausnahme des stark autobiographischen Romans “Leben will ich” hauptsächlich Essays und mit ihren Anliegen befasste Publikationen.

Salz auf unserer Haut” erzählt die Geschichte einer lebenslangen Liebe zwischen einem bretonischen Fischer und einer Pariser Intellektuellen. Beide sind verheiratet, ganz traditionell ihren Milieus entsprechend, aber beide leben ihre Affäre ein Leben lang. Groults Heldin George (benannt nach George Sand) nahm sich das Beste aus allen Welten, zu einer Zeit, als Selbstverwirklichung noch kein eigenständiges Gut war. Die Affäre wird zu keiner Zeit dramatisch, aber zu jeder Zeit bittersüß.

“Salz auf unserer Haut” ist eines der ersten Bücher, über die ich lange nachgedacht habe und eines der ganz wenigen, die ein Leben lang nachwirken, die man mehrmals liest und die man nie wieder vergisst. Und da kaum etwas öfter mißlingt, an dieser Stelle auch einmal ein ganz besonderes Kompliment: Benoite Groult konnte Erotik. Subtile, intelligente, aber auch leidenschaftliche erregende Erotik. Selten genug !

Nach diesem Coup de foudre folgten “Leben heißt frei sein” und “Salz des Lebens” – (wobei die sich wiederholende Verwendung der Wörter Salz und Leben so nur im Deutschen erfolgte. Aus welchen Gründen auch immer. Gut gemeinter, schlecht gemachter Marketing-Gag vermutlich) Beide Romane sind bei weitem nicht so bekannt wie “Salz auf unserer Haut”, aber jede Lektüre wert.

Wem Benoite Groult bisher unbekannt war, dem seien ihre Werke sehr ans Herz gelegt, in erster Linie natürlich “Salz auf unserer Haut”. Nicht nur ich empfinde dieses Buch als eines der wichtigesten des letzten Jahrhunderts. Aber schließt Eure Bildungslücke nicht mit dem Film zum Buch. Der Film ist zwar nicht wirklich schlecht, wird der Romanvorlage aber nicht gerecht. Vor allem, weil er es an keiner Stelle schafft, die durchgehende konsequente bittersüße Atmosphäre des Buchs zu übertragen.

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Hundert Jahre Einsamkeit – Cien Anos de Soledad. Das wichtigste Buch meines Lebens. Das Buch, welches seit Jahrzehnten immer griffbereit neben meinem Bett liegt. Das Buch, welches ich unzählige Male gelesen habe, nicht immer chronologisch, manchmal auch nur in Auszügen. Immer, wenn ich einen Rat brauche, einen Fingerzeig, greife ich zu diesem Buch. Lasse mir von Ursula eine ihrer Geschichten erzählen, folge Amarantha in ihren Träumen, ziehe mit den diversen Aurelios, Aurelianos und dem Rest der Familie Buendia in ihre unzähligen Schlachten, verliere nie meine Würde, wenn auch sonst schon alles und auch wenn ich keine hundert Jahre alt werde, einsam werde ich nie sein. Denn auch wenn mich keiner sonst begleiten sollte, die Bücher, die Worte und ganz besonders die von Gabriel Garcia Marquez werden mich immer begleiten.

Er ist alt geworden, 87 Jahre alt. Seine letzten Jahre waren nicht gesegnet, möge er nun über den Regenbogen gegangen, sein eigenes Macondo wiederfinden. Für alles, was seine Bücher mir bedeutet haben, an dieser Stelle ein trauriges, aber nicht mutloses Danke dafür und für so vieles mehr.