Taxi 79 ab Station

thorsteinsson-1Brennevín oder Whisky

Als einer der bedeutendsten Schriftsteller Islands hat Indridi G. Thorsteinsson mit seinem Debütroman «Taxi 79 ab Station» 1955 auf Anhieb einen Klassiker geschaffen, den er innerhalb nur weniger Wochen geschrieben hatte. Der kurze Roman wurde 1962 verfilmt und liegt seit der Frankfurter Buchmesse 2011, nach mehr als fünfzig Jahren also, in deutscher Übersetzung vor. Thorsteinsson war längere Zeit auch journalistisch tätig und hat noch fünf weitere Romane veröffentlicht, außerdem sind Sammelbände mit Kurzgeschichten und eine Gedichtsammlung von ihm erschienen.

Der Titel des Romans erscheint ein wenig kryptisch, er zitiert jedoch nichts anderes als die Lautsprecheransage, die im Warteraum eines Taxiunternehmens in Reykjavík erschallt, wenn dem jungen Romanhelden Ragnar Sigurdsson, Fahrer des Taxis 79, eine Fahrt zugeteilt wird. Einen solchen Auftrag erhält er gleich zu Beginn der Geschichte, er muss einen sinnlos betrunkenen amerikanischen Soldaten zur US-Airbase in Keflavik fahren. Bei der Rückfahrt trifft er auf einen liegen gebliebenen Buick, dessen elegant angezogener Fahrerin er seine Hilfe anbietet. Zufällig hat er sogar einen Keilriemen dabei, mit dem er den luxuriösen Wagen der Frau wieder fahrbereit machen kann. Aus dieser flüchtigen Begegnung entsteht schnell eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die ihnen beiden als Ausweg erscheint aus wenig erfreulichen Lebensumständen. Die geheimnisvolle Gudridur, eine Lebedame, die ein wenig älter ist als er und von ihm Gógó genannt werden will, ist mit einem reichen, aber kranken Mann verheiratet, der nach einem Pferdetritt hirnverletzt in einer psychiatrischen Anstalt in Dänemark untergebracht ist und dort möglicherweise auch operiert werden soll. Ragnar lebt prekär als selbstständiger Taxifahrer, er ist nebenbei auch in den schwunghaften Alkoholschmuggel auf der Insel involviert. Als Habenichts erstarrt er in einer drögen Alltagsroutine, die Raten für sein klappriges Taxi erdrücken ihn beinahe, seine Zukunft erscheint ihm alles andere als rosig.

Der Anfang der 1950er Jahre angesiedelte Roman behandelt zum einen das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Sprachlosigkeit der beiden Liebenden ist symptomatisch für eine Fremdheit, die trotz aller Leidenschaft zwischen ihnen bestehen bleibt, sie wissen wenig voneinander außerhalb ihrer sexuellen Beziehung. Außerdem wird auch die Moderne thematisiert, dem technischen Fortschritt in der quirligen Metropole wird das Landleben als bessere Lebensform gegenüber gestellt. Ragnar, der vom Lande stammt, geht gern mit seinem besten Freund auf die Jagd nach Wildgänsen, taucht am liebsten ab in die archaische Welt der entlegenen Bauerndörfer Islands. Und es wird viel Alkohol getrunken in diesem Roman, Brennevín oder Whisky, – nur Hochprozentiges also, nichts anderes -, und zwar in abenteuerlichen Mengen. Zu seinem spröde realistischen Schreibstil hat Thorsteinsson einmal angemerkt: «Ich hatte niemals Lust, eine spezielle Erfahrungswelt zu schaffen, weil ich Fantasie nicht leiden kann».

Jagd, Rauchen, Saufen und Frauen sind literarische Zutaten, die auch Hemingway gern benutzt hat. Dessen journalistisch knappe Sprache findet sich ähnlich auch hier, sie ist jedoch um einiges anspielungsreicher, deutlich weniger lakonisch also. Das Finale der atmosphärisch dicht erzählten Geschichte ist nicht unbedingt vorhersehbar, der Spannung wegen soll hier auch nichts weiter ausgeplaudert werden darüber. Im Spannungsfeld zwischen beginnender Massen-Motorisierung und beschaulicher Naturliebe, zwischen Moderne und Tradition, erzählt der Autor uns eine autobiografisch geprägte, melodramatische Geschichte. Die ist thematisch zwar nicht neu, durch ihren besonderen Stil aber sehr angenehm und kurzweilig zu lesen, sie bringt dem Leser nebenbei auch die ureigene isländische Identität nahe, wozu insbesondere auch die punktgenauen, wortkargen Dialoge beitragen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Transit Buchverlag Berlin

Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr

friedrich-1Diagnose Meisenmanie

Mit seinem Debütroman «Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr» von 2014 gelang dem Schriftsteller Franz Friedrich der Sprung auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, zu seiner großen Überraschung, wie er in einem Interview gesagt hat. Neben Literatur habe er parallel auch Experimentalfilm studiert, aus der Vermischung beider Gattungen sei eine fruchtbare Öffnung der Möglichkeiten entstanden, die den Blick schärfe für das Bild und damit dann auch zu mehr Genauigkeit verpflichte in der Sprache. Der kryptische Buchtitel verspricht einerseits eine spannende, zumindest aber interessante Thematik des Romans, er deutet andererseits aber bereits auch dezent auf Metaphysisches hin, auf eine andere Wirklichkeit jenseits des Horizonts unserer Gegenwart.

Eine irgendwie geartete Handlung, um das gleich vorweg zu sagen, findet man nicht in diesem Roman. Der Autor beschreibt einzelne Szenen, die sich weder zeitlich noch thematisch zusammenfügen und allesamt merkwürdig melancholisch, geradezu destruktiv erscheinen, die regelrecht apokalyptisch wirken. Dafür stehen symbolisch jene Lapplandmeisen auf der kleinen finnischen Insel Uusimaa, deren zwei Jahrzehnte zurückliegendes, plötzliches Verstummen seinerzeit zu wilden Spekulationen geführt hatte, eine regelrechte Meisenmanie ausgelöst hat: Es seien zivilisatorische Ursachen, Funkstrahlung durch Mobiltelefone, eine Giftgaswolke, atomare Verseuchung, militärische Versuche, oder aber apokalyptische Vorboten, genetische Ursachen vielleicht auch, eine nur lokal aufgetretene Mutation, deren positive Aspekte rätselhaft bleiben. Sie seien wohl depressiv, hätten ganz einfach keine Lust mehr zu singen, meinen Einige naiv, wodurch also auch ein märchenhaftes Element in die Erzählung mit einfließt.

In drei zeitlich getrennten Erzählsträngen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird von einem Flugzeugabsturz berichtet, von einer einsamen Dokumentar-Filmerin auf Uusimaa, von einer gescheiterten amerikanischen Doktorandin in Berlin, die dort im heißesten Februar seit Menschengedenken ziellos durch die Stadt streift und auf einen merkwürdigen Chor ohne Sprache trifft, der von einer verheißenen Insel träumt. Ein belgischer Filmemacher schließlich reist 2017, zur Entstehungszeit des Romans also in der Zukunft, nach Uusimaa, weil dort die Meisen plötzlich wieder zu singen begonnen haben. Die Verflechtung dieser Erzählebenen bleibt zeitlich ebenso vage wie die thematische, die beschriebenen Szenen sind fragmentarisch und stehen ohne erkennbaren Zusammenhang nebeneinander, der Autor lässt ganz bewusst alles in der Schwebe. Was dann auch für das Finale gilt, in der jener auf Uusimaa entstandene Film beschrieben wird, wo am Schluss die im Roman leitmotivisch benutzte Lapplandmeise auf der Schulter der Dokumentarfilmerin landet, herangezoomt schließlich zu sehen «in einer Großaufnahme, die die Leinwand ausfüllte. Die Meise sang». Mit diesen drei Worten endet der Roman dann ziemlich sibyllinisch.

Das Besondere an diesem Roman ist seine sprachmächtige Erzählweise, eine souveräne, nuancenreiche Diktion, glasklar und detailverliebt, ohne je ausschweifend zu werden. Der Autor schildert die Natur ebenso präzise, knapp und stimmig wie seine Figuren in ihrer jeweiligen Umgebung oder in den seltenen Gesprächen miteinander. Meistens allerdings ist das Personal mit sich und seinen Gedanken ziemlich allein, das Figurenensemble ist jedenfalls ein äußerst introvertierter, wenig kommunikativer Menschenschlag. Dieser kontrapunktisch angelegte Roman einer romantischen Sinnsuche zwischen dröger Gegenwart und drohender Apokalypse bringt den Mut auf zum Verzicht auf Handlung, wobei märchenhafte, mystische Elemente dazu beitragen, Auswege zwischen Utopie und Dystopie aufzuzeigen, – ergebnislos allerdings, wie nicht anders zu erwarten. Auch wenn mancher schimpfen wird «Der hat ja ne Meise», ich empfehle diesen unkonventionellen Gegenwartsroman allen experimentierfreudigen Lesern.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Mein vergötterter Sohn Sisí

delibes-1Ein Unsympath

Miguel Delibes war in seiner Heimat Spanien als Schriftsteller sehr erfolgreich, er hat ein beeindruckendes Œuvre von etwa 70 Büchern vorzuweisen. Zu dem auch der vorliegende, 1953 veröffentlichte Roman «Mein vergötterter Sohn Sisí» aus dem Frühwerk gehört, 1976 verfilmt und erst 2003 auch auf Deutsch erschienen. Neben den vielen Ehrungen im spanischen Sprachraum war er auch mehrfach Kandidat für den Nobelpreis. Seine frühen Romane sind stark durch den Spanischen Bürgerkrieg geprägt und werden zur sozialrealistischen Literatur eines Landes gezählt, dessen tiefe gesellschaftliche Gegensätze darin thematisiert werden.

Der deskriptive Titel deutet schon darauf hin, es handelt sich hier um einen Familienroman. Der ist zeitlich in drei Abschnitte gegliedert, wobei im ersten Buch ein Zeitraum von 1917 bis 1920 behandelt wird. Im Mittelpunkt steht dabei der wohlhabende Cecilio Rubes, der in einer spanischen Provinzstadt einen alteingesessenen Sanitärhandel betreibt. Verheiratet ist der fette, selbstgerechte, antriebslose Mann mit einer ungebildeten, frigiden Frau, die den sexuell aktiven Enddreißiger geradezu in die Arme anderer Frauen treibt. Er hält sich prompt mit Paulina eine viel jüngere, attraktive Geliebte, für die er eine Wohnung eingerichtet hat, sein Liebesnest, ohne das er nicht leben könnte. Als sich trotz unterkühlter Ehe spät, und von ihm eigentlich ungewollt, Nachwuchs einstellt, ist der auf Reputation bedachte Macho plötzlich ganz aus dem Häuschen, sein langweiliges Leben bekommt damit überraschend einen Sinn. Man erkennt schon bald, wie er den Sohn verhätscheln wird, und Cecilio Rubes macht dann auch so ziemlich alles falsch in der Erziehung, was man falsch machen kann, der vergötterte Junge wird zum Abbild seiner selbst. Im zweiten Buch dann (1925-1929) erleben wir, wie aus dem Kind ein verwöhnter, nichtsnutziger, bösartiger Tyrann wird, dessen Mutter schier verzweifelt, weil der despotische Vater jedwede Erziehung vereitelt nach dem Motto: Mein Sohn soll es gut haben, Erziehung ist was für die Armen. Schließlich aber holt im dritten Buch (1935-1938) der Bürgerkrieg den verzogenen Sisí aus seinem Lotterleben heraus, er muss an die Front, und auch der Vater erwacht am Ende aus seiner Realitätsferne, er erkennt, viel zu spät allerdings, dass er total versagt hat.

Frauen sind das beherrschende Thema in dieser ausufernden Geschichte, immer wieder werden, nicht nur im Herrenclub, ihre Hüften und Fesseln bewundert. Zeittypisch und wohl auch dem prüden Katholizismus verpflichtet ist die Sexualität hier zwar allgegenwärtig, sie unterliegt aber sprachlich einer fast schon grotesk anmutenden Verklausulierung, der Roman ist jedenfalls jugendfrei ab null Jahre. Die geschilderte, abstoßend patriarchalische Gesellschaft ist für uns Heutige einerseits schwer erträglich, man spürt aber andererseits permanent den ironischen Unterton des Autors, der durch Übertreibungen und durch grotesk überzeichnete Figuren die Distanz zum Erzählten sehr deutlich herstellt.

Weite Teile des Plots entwickeln sich aus Dialogen heraus, zu denen sich oft die innere Rede gesellt, manchmal im schnellen Wechsel mit der direkten Rede, womit das unredlich Gesagte immer wieder virtuos konterkariert wird mit dem tatsächlich Gedachten, was ich so, in dieser Konsequenz, noch nie gelesen habe. Berührend auch eine Stelle, als die Mutter von Cecilio stirbt. «Für ihn hatte seine Mutter soeben den Raum verlassen, ohne dass sich die Türen oder Fenster geöffnet hätten». Angesichts der Leiche fragt er sich: «Nun, das ist sie nicht. Was hat diese Gestalt mit meiner Mutter gemeinsam?» Dieser in der Franco-Ära geschriebene, opulente Roman lässt sich sehr viel Zeit, seine Geschichte vor uns auszubreiten. Die ersten hundert Seiten sind zäh zu lesen, bis Seite 200 etwa legt die Geschichte erzählerisch langsam zu, sie steigert sich danach allmählich zum so nicht absehbaren Ende hin. Man braucht also einiges an Geduld!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Das kunstseidene Mädchen

keun-1Ein Buch für die Stadt

Als «Asphaltliteratur» mit antideutscher Tendenz standen die Bücher von Irmgard Keun auf der Schwarzen Liste der Nazis, kurz nachdem die Schriftstellerin mit «Das kunstseidene Mädchen» 1932 ihren zweiten Roman mit großem Erfolg publiziert hatte. Kein Geringerer als Alfred Döblin hatte sie nach erfolglosen Versuchen als Schauspielerin zum Schreiben animiert, und Kurt Tucholsky prophezeite ihr dann als neuem Stern am Literaturhimmel eine große Zukunft. Nach Jahren im Exil konnte sie nach dem Krieg aber an ihre frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen, erst Ende der siebziger Jahre wurde sie wiederentdeckt als prominente Vertreterin der «Neuen Sachlichkeit», einer literarischen Strömung in der Zwischenkriegszeit, für die der vorliegende Zeitroman als archetypisches Beispiel gilt.

Der Plot ist zeitlich Ende der Weimarer Republik angesiedelt, seine Ich-Erzählerin, – autobiografische Bezüge zur Autorin sind unverkennbar -, ist eine junge Frau aus der Unterschicht einer mittleren Stadt. Ihre Mutter arbeitet als Garderobiere am Theater, ihr Stiefvater ist arbeitslos. Nachdem die achtzehnjährige Doris als Stenotypistin entlassen wurde, versucht sie sich als Edel-Statistin, hat diverse Männerbekanntschaften und stielt in einem unbedachten Moment einen wertvollen Fehmantel. Aus Angst vor der Polizei flieht sie nach Berlin und sucht dort ihre Chance. Ihr Traum vom «Glanz», womit sie in ihrer unbedarften Sprache eine glänzende Karriere am Theater oder beim Film meint, aber auch eine Ehe mit einem reichen Mann, erfüllt sich in der Metropole ebenfalls nicht. Jede Form von Arbeit lehnt sie als Lebedame vehement ab, damit könne man keinen «Glanz» erreichen, glaubt sie, und schnorrt sich durch bei wechselnden Männern, hält sich jedoch nicht für eine Hure. So irrt sie also zwischen ihren verschiedenen Männerbekanntschaften und der Obdachlosigkeit hin und her, übernachtet schlimmstenfalls im Wartesaal des Bahnhofs. Vorübergehend lebt Doris im Luxus bei einem ihrer reichen Freier, wobei diese Beziehungen nie von Dauer sind und allesamt abrupt enden. Auch wenn es gegen Ende des Romans beinahe danach aussieht, eine positive Zukunft für die zwar clevere, aber ungebildete junge Frau aus dem Prekariat ist letztendlich kaum absehbar. Wenn Karl sie nicht wolle, «arbeiten tu ich nicht», dann gehe sie lieber auf den Strich. «Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so an» heißt es dazu im letzten Satz.

Dieses Melodram vom armen Mädchen in der bösen Großstadt ist in einer wunderbar dem Sujet angepassten, amüsanten Sprache geschrieben, ein alle Grammatik missachtendes falsches Deutsch wie in einem grottenschlechten Schüleraufsatz. Nach anfänglicher Irritation liest man sich schnell ein in eine derartige, auch Gossenjargon, Schlagertexte und Werbesprüche mit einbeziehende, holprig naive Prosa. Die damit aber eine Welt des Bildungsbürgertums insinuiert, in der sich statt Standeszugehörigkeit die fehlende Bildung als ein absolut gnadenloses Ausschluss-Kriterium erweist. Trotz ihrer mühelosen Erfolge bei Männern fühlt die attraktive Doris sich deshalb wie ein Niemand, sie bleibt als Frau immer ein schlechter Ersatz, Kunstseide eben statt echter Seide. «Man sollte nie Kunstseide tragen, denn die zerknautscht dann so schnell mit einem Mann» heißt es an einer Stelle im Buch. Und Gott solle ihr doch bitte «eine feine Bildung» machen, wünscht sie sich, das übrige mache sie selbst, «mit Schminke».

Immer wieder schreibt Doris trotz ihrer sprachlichen Unbeholfenheit in ihr liniertes Notizbuch. Die beißende Gesellschaftskritik mithin, die wir da lesen, erscheint quasi als Autobiografie der sympathischen Protagonistin. Deren unbeirrter Lebensmut behält stets die Oberhand in dem kunstvoll angelegten Plot, allen Rückschlägen zum Trotz. Dieser unbedingt lesenswerte Roman wurde 2003 von einer beherzten Jury in Köln zum Auftakt der Aktion «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt. Chapeau, kann ich da nur sagen!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by List München

Frau Jenny Treibel

fontane-1Vom Meister der Plaudertons

Dem Olymp der deutschen Schriftsteller zugehörig, ist Theodor Fontane ohne Zweifel der bedeutendste Romancier der Bismarck-Zeit, und «Frau Jenny Treibel», letzter seiner Berliner Romane, nimmt dabei den Spitzenplatz ein. Der Schillers Gedicht «Das Lied von der Glocke» entlehnte Untertitel «Wo sich Herz zum Herzen find’t» deutet ironisch auf einen Liebesroman hin. Die wahre Intention des Autors jedoch kann man einem Brief entnehmen: Dieser Roman sei geschrieben worden, erklärt er darin, um «das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint». Mit Letzterem spielt er auf ein mondänes Modehaus der Hautevolee am Werderschen Markt in Berlin an, um damit das profan Materielle der Kleidermode in Gegensatz zum erhaben Geistigen des Dichterfürsten zu stellen, soziologisch also Bildungs- und Besitzbürgertum zu vergleichen. Wobei Fontanes uneingeschränkte Sympathie dem Geistigen gilt, und auch ein überschaubares Landleben zieht er der ungeliebten Großstadt mit ihren sozialen Fallstricken ganz entschieden vor.

Es findet sich kein Herz zum Herzen in diesem Roman, das ist die deprimierende Quintessenz dieser Geschichte, alles ist Kalkül, eine Ehe wird arrangiert und eine zweite initiiert, das alles natürlich nach erheblichen Irrungen und Wirrungen, um einen Romantitel Fontanes zu benutzen. Die Titelheldin verhindert letztendlich erfolgreich eine für die Familie finanziell unvorteilhafte Eheschließung Leopolds, ihres jüngsten, eher antriebslosen Sohnes, mit Corinna, der geistreichen und charmanten, aber vermögenslosen Tochter des verwitweten Gymnasialprofessors Schmidt. Der ist ein früherer Freier der aus einfachen Verhältnissen stammenden Jenny, die damals dann aber doch lieber den gut situierten und mit dem Ehrentitel Kommerzienrat bedachten Fabrikanten Treibel geheiratet hat. Und auch Corinna handelt mit hedonistischem Kalkül, will sich durch die Ehe mit Leopold ein finanziell sorgenfreies Leben sichern. Wie schon sein Bruder wird aber auch Leopold wohl in eine reiche Hamburger Familie einheiraten, die Mutter hat schon die entsprechenden Fäden gespannt, und die kluge Corinna geht in sich und heiratet schließlich einen viel besser zu ihr passenden Geistesmenschen, den angehenden Archäologen Marcell, ihren Vetter.

Wie immer bei Fontane entwickelt sich seine handlungsarme Geschichte fast vollständig aus einer äußerst lebendigen Konversation seiner Figuren heraus. Der dabei angeschlagene, ebenso gescheite wie amüsante und sympathische Plauderton erzeugt eine derart anheimelnde Atmosphäre, dass man als vergnügter Zuhörer gerne mit dabei wäre bei diesen, – natürlich dichterisch überhöhten -, Gesprächen der vielen Protagonisten. Wunderbar stimmig gezeichneten Figuren wie dem konzilianten Treibel oder dem durchgeistigten Prof. Schmidt mit seinen unter dem Signum «Sieben Waisen Griechenlands» regelmäßig zusammentreffenden Kollegen als Sympathieträgern stehen diametral die scheinheilige, sich permanent selbst belügende Jenny samt ihrer geltungssüchtigen, unbedarften, aber schönen Schwiegertochter gegenüber.

Insoweit ist dieser Roman über Schein und Sein weniger zeitgebunden, als es seine frühe Entstehungszeit vermuten lässt, die darin angeschnittenen Probleme jedenfalls sind ja durchweg auch heutig, der Tanz ums goldene Kalb ist virulent wie ehedem, und menschliche Selbstverwirklichung, zumal weibliche, bleibt immer noch ein weitgehend unerreichtes, hehres Ziel. Geistiges, Bildung vor allem, sofern sie nicht kommerziell verwertbar ist, zählt wenig gegenüber materiellem Besitz. Fontane ist all dies sehr verhasst gewesen, um so mehr erstaunt der versöhnliche, menschenfreundliche Duktus seiner Prosa. Die beim Leser immer wieder ein Schmunzeln auslöst und ihn, wenn er so geartet ist wie ich, in eine wohlig anheimelnde Stimmung versetzt, und ihm somit ein formidables Lesevergnügen beschert, – im wahrsten Sinne des Wortes.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Bonjour tristesse

sagan-1Eine Stilistin der Einsamkeit

Aus dem umfangreichen Œuvre der französischen Bestseller-Autorin Françoise Sagan ragt der Roman «Bonjour tristesse» besonders hervor. Ihr Erstling von 1954, den sie als siebzehnjährige Studentin in nur sieben Wochen geschrieben hat, ist nicht nur ihr erfolgreichstes, der Roman ist auch ihr bekanntestes Werk. In einer «Le Monde» Umfrage von 1999 nach dem besten Buch des Jahrhunderts liegt es auf Platz 41 der Bücher, die den 17.000 beteiligten Lesern im Gedächtnis haften geblieben sind. Man glaubt es kaum, dass dieser vielfach ausgezeichnete, millionenfach verkaufte, in viele Sprachen übersetzte und 1958 von Otto Preminger verfilmte Roman damals wegen seiner Unmoral heftiger Kritik ausgesetzt war, er verstieß gegen die drögen Moralvorstellungen konservativer Kreise in diesem katholisch geprägten Land.

«Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit». Der erste Satz enthält auch hier, wenn man Edgar Allan Poe folgt, schon die Quintessenz der erzählten Geschichte. Dem sorglosen Leben der 17jährigen Cécile, die mit ihrem Vater und dessen junger Gespielin Elsa unbeschwerte Sommerferien an der Cote d’Azur verbringt, droht ein jähes Ende, als plötzlich Anne auftaucht, eine Freundin der vor fünfzehn Jahren verstorbenen Mutter, die erfolgreich ihren Vater bezirzt. Spontane Heiratspläne der beiden Vierzigjährigen verändern schlagartig das bisherige dolce far niente, entfremden sie ihrem eine neue Ehe bisher strikt ablehnendem Vater, beenden auch abrupt das vertrauensvoll kumpelhafte Einverständnis zwischen ihnen, – Cécile ist unendlich traurig.

Aber sie ersinnt eine List, um die drohende Eheschließung  zu verhindern, wobei die schmählich abservierte Elsa und der von Anne aus dem Haus verbannte, deutlich ältere Jurastudent Cyril, Céciles erste Liebe, bei dem sie gleich auch ihre Jungfräulichkeit verliert, die entscheidende Rolle übernehmen. Sie geben sich nämlich als verliebtes Paar aus, um Eifersucht und den Jagdinstinkt des casanovagleichen Vaters zu wecken. Der Frauenheld fällt auch prompt darauf herein und löst damit ungewollt ein dramatisches Finale aus. In Paris dann scheint das unbeschwerte Leben von Vater und Tochter weiterzugehen, alles ist wie früher, wären da nicht die nächtlichen Erinnerungen an diesen Sommer, bei denen etwas in Cécile aufsteigt, wie es im letzten Satz heißt, «das ich mit geschlossenen Augen empfange und bei seinem Namen nenne: Traurigkeit – komm, Traurigkeit». Ihr schlechtes Gewissen wird sie nun wohl ihr Leben lang begleiten, – vergleichbar perfide ist übrigens der intrigante jugendliche Held im deutlich amüsanteren Roman «Lob der Stiefmutter» von Mario Vargas Llosa mit gleicher Thematik.

Es ist die federleichte Sprache, in der diese melancholische Geschichte erzählt wird, aus einer fast noch kindlich naiven Perspektive der völligen Sorglosigkeit heraus, die ich besonders beeindruckend fand. Das Einfühlungsvermögen der Autorin in ihre damals gleichaltrige Protagonistin ist jedenfalls erstaunlich. Françoise Sagan zeichnet in kurzen Sätzen mit einfachen Worten, darin Hemingway ähnelnd, treffsicher ein psychologisch glaubwürdiges Bild ihrer sympathischen Romanfigur, deren entwaffnende Naivität ihre rücksichtslos egoistischen Ziele derart übertüncht, dass man ihr alles verzeiht als Leser. Der existentialistische Roman ist Ausdruck eines Lebensgefühls, welches die als «Stilistin der Einsamkeit» apostrophierte Schriftstellerin wie kein anderer mehrfach in ihren Werken beschrieben hat. Ihre von keinen Geldsorgen geplagten Figuren gehören der «armen, abgestumpften Rasse der Genussmenschen» an, wie es im Roman heißt, die damals, anders als in der Spaßgesellschaft unserer Tage, noch nicht derart dominant war. Insoweit ist «Bonjour tristesse» auch das Zeitzeugnis einer vergangenen Epoche, der schmale Band gehört ohne Zweifel zu den immer noch lesenswerten Klassikern der Weltliteratur.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Ortswechsel

lodge-1Effekthascherische Trivialität

«Ein satirischer Roman» steht unübersehbar auf dem knallbunten Buchumschlag. Man ist also vorgewarnt und bereits auf Lustiges einstimmt, wenn man «Ortswechsel» von David Lodge zur Hand nimmt, 1975 erschienen, erster Teil einer später erweiterten Romanreihe des englischen Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers. Es handelt sich um einen typischen Campusroman, dessen Protagonisten zwei Literaturprofessoren sind, die in einem englisch-amerikanischen Kooperationsprogramm ihre Arbeitsplätze tauschen, – und nicht nur das, wie das Cover schon andeutet.

«Hoch über dem Nordpol kamen am ersten Tage des Jahres 1969 zwei Professoren für englische Literatur in einer Gesamtgeschwindigkeit von 1200 Meilen pro Stunde einander näher». Die beiden vierzigjährigen Männer, beide in der Midlife-Crisis, absolvieren aus ganz unterschiedlichen Motiven ein Austauschsemester an der jeweiligen Partneruniversität und lassen für ein halbes Jahr Frau und Kinder daheim zurück. Philip Swallow kommt von der englischen Universität in Rummidge, ein camoufliertes Birmingham, Morris Zapp kommt von der Euphoric State an der Westküste der USA, für das Berkeley Pate stand, englische Provinz also und sonnig-hedonistischer, kalifornischer Campus. Was folgt ist ein «Clash of Civilizations» der moderaten Art, zu unterschiedlich sind doch die akademischen Systeme in den beiden angelsächsischen Staaten. Allein diese universitäre Andersartigkeit liefert schon reichlich Stoff für heiter ironische Beschreibungen des gegenseitigen Nichtverstehens. Lehrpläne, Prüfungen, Besoldungssysteme weichen ebenso voneinander ab wie Wohnverhältnisse, Familienleben, Essgewohnheiten, vom Klima ganz zu schweigen. Nur was die Sexualität anbelangt, – von Liebe ist im Roman übrigens keine Rede -, scheinen die Unterschiede nicht allzu groß zu sein. In Kalifornien allerdings sind die knackigen Studentinnen, – potentielle Beute der beiden Strohwitwer -, in dieser Hinsicht deutlich lockerer als ihre englischen Pendants. Gemeinsam sind beiden Hochschulen die aufflackernden studentischen Unruhen als Folge der 68er-Bewegung, die von Europa aus in die USA herüber geschwappt ist und nun den Campusbetrieb an den Unis lahm zu legen droht.

Als «Fundgrube für narrative Einfälle» hat David Lodge im Nachwort seine Idee von der erzählerischen Symmetrie bezeichnet, bei der alle Ereignisse des zweisträngig erzählten Plots sich im jeweils anderen Handlungsstrang spiegeln. Die Erzählform seines in sechs Kapitel gliederten Romans habe er in drei Kapiteln variiert, «um den Leser wach zuhalten», wie er schreibt. Er wechselt dabei vom konventionellen Erzählen zum Stil des Briefromans, es folgt ein Kapitel mit Notizen und Verlautbarungen im Zeitungsjargon, das Schlusskapitel schließlich mit seinem offenen Ende ist in Form eines Drehbuchs geschrieben. Sprachlich schlicht und leicht lesbar, wird diese Geschichte, zielsicher vorwärts drängend, flott erzählt, wozu neben jeder Menge Situationskomik auch die schlagfertigen, oft verblüffenden Dialoge der stimmig beschriebenen Figuren einiges beitragen.

Der kreative Plot mit üppiger Intertextualität strotzt nur so von köstlichen Seitenhieben auf die literarischen Fakultäten und auf versponnene Wissenschaftler, die wie Philips Frau die Frage nach ihrem Arbeitsgebiet mit «klassizistische Schäferidyllen» beantworten, oder die, wie Morris, ihre gesamte Forschungsarbeit unbeirrt Jane Austen widmen, nichts anderem. Ein solcher «satirischer» Roman, und das ist nun allerdings sein Problem, lebt davon, spielerisch möglichst viele Klischees zu seiner Thematik zu bedienen, um entsprechende Aha-Effekte beim Leser auszulösen, also lieb gewonnene Vorurteile zu bestätigen, Erwartetes zu liefern, nichts Ungewohntes, Neues, Widersprüchliches – oder gar Nachdenkliches. Wer platten Witz sucht wird hier fündig, schwarzen englischen Humor allerdings, subtil und intelligent, sucht man vergebens in diesem effekthascherischen Trivialroman.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Unterwerfung

houellebecq-1Skandalöser Nonsens

Am 7. Januar 2015, dem Tag des Charlie Ebdo Anschlags in Paris, erschien «Unterwerfung», sechster Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, eine geradezu unheimliche Koinzidenz. Denn die futuristische Thematik des Romans von der Islamisierung Frankreichs nach der Wahl eines Moslems zum Präsidenten löste natürlich eine kontroverse Diskussion aus. Dem Enfant terrible der französischen Literatur wurde vor allem Islamophobie vorgeworfen, das Buch sei eine Provokation. Sein Statement, der Islam sei die dümmste aller Religionen, hat der streitbare Agnostiker später, nach der Lektüre des Korans, allerdings relativiert.

Ich-Erzähler François, Dozent für Literatur an einer Pariser Universität, egozentrischer Single Mitte vierzig, ein Macho mit wechselnden Beziehungen zu halb so alten Studentinnen, beobachtet als politisch wenig Interessierter den Wahlkampf 2022. Der steht ganz im Zeichen des drohenden Wahlsiegs von Marine Le Pen, den die anderen Parteien unbedingt verhindern wollen. Durch clevere Wahlbündnisse gelangt ein muslimischer Politiker an die Macht und krempelt, – darin Hitler vergleichbar -, innerhalb kürzester Zeit den Staat völlig um. Der islamische Staatspräsident führt eine theokratische Verfassung ein und etabliert die Scharia, fortan gilt also das Patriarchat, die Polygamie ist damit erlaubt, überaus freudig begrüßt natürlich von dem sexistischen Helden des Romans. Viele Juden verlassen das Land fluchtartig, die Franzosen aber konvertieren in Scharen zum Islam, am Ende auch François.

Dieser Plot ist derart abstrus, dass beim Lesen ganz schnell deutlich wird, hier handelt es sich um eine Farce, eine ironisch überzeichnete Falle für die konservative Leserschaft, in die denn auch prompt reichlich hineingetappt wurde, wie die öffentlichen Reaktionen belegen. Seine zweifellos satirisch aufzufassende Handlung unterlegt der Autor mit einer provokanten Gesellschaftskritik, wobei seine Skepsis auch die Sexualität mit einschließt, die er aus einer abstoßenden Macho-Perspektive pornoartig in seinen Text integriert. In einer Danksagung bekennt Houellebecq seine Unkenntnis der universitären Interna, die er ebenso wie diverse Erörterungen politischer, sozialer, historischer und literaturwissenschaftlicher Art in die Erzählung einfügt, oft in Form ausufernder Monologe. Sehr ausführlich wird dabei immer wieder der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans erwähnt und zitiert, der Thema für die Dissertation seines auch später ziemlich einseitig interessierten Protagonisten war. Diese üppige Intertextualität bezieht auch viele andere Autoren aus dem literarischen Kanon Frankreichs mit ein.

Ob man unter Freiheit leiden könne, wie es hier quasi der Titel schon postuliert, gehört zu den verstörenden Ungereimtheiten einer wegen ihrer klaren, unverschnörkelten Sprache leicht lesbaren Geschichte, die geradezu cool erzählt wird. Als Beleg für den Drang nach «Unterwerfung», was das arabische Wort «Islām» ja wörtlich bedeutet, führt Houellebecq ausgerechnet «Die Geschichte der O» von Pauline Réage an, da fällt mir dann wirklich nichts mehr zu ein! Und dass innerhalb weniger Wochen halb Frankreich zum Islam konvertiert, attraktive Französinnen plötzlich in Sack und Asche herumlaufen, Saudi Arabien die Pariser Universitäten als Privatinstitute übernimmt und die Bezüge der Lehrkräfte verdreifacht, Europa sich atemberaubend schnell auf den Spuren des Römischen Reiches nach Nordafrika und dem Nahen Osten hin ausdehnt, all das gehört zum skandalösen Nonsens, den Houellebecq da unbeirrt von sich gibt, – auch seine enge Beziehung zum Raelismus spricht übrigens Bände! Gerade der Skandal aber, hat er den Kritikern entgegengehalten, sei ein wichtiger Bestandteil seiner Strategie auf dem Buchmarkt, -und die ist denn wohl auch aufgegangen, wie die hohen Auflagen beweisen. Wer hingegen einen wirklich guten Roman über den Islam lesen will, dem sei «Kompass» von Mathias Enard empfohlen, dem Anti-Houellebecq.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by dumont Köln

Herzog

bellow-1Genie und Wahnsinn

«Das Kind in mir ist entzückt, der Erwachsene in mir ist skeptisch» war der Kommentar des US-amerikanischen Schriftstellers Saul Bellow zur Verleihung des Nobelpreises 1976. Mit «Herzog» gelang ihm 1964 der literarische Durchbruch, dieser Roman gilt heute als bedeutendstes Werk des jüdisch geprägten Autors und war zudem kommerziell erfolgreich, er machte ihn als Autor letztendlich auch in Deutschland bekannt. Wie in vielen anderen seiner Werke analysiert der hellsichtige Denker, – ein einsamer Solitär seiner nationalen Zunft -, hier die Lebensumstände einer dem Individuum immer weniger verständlichen, modernen Gesellschaft, in der seine intellektuellen Protagonisten hoffnungslos unterzugehen drohen.

«Wenn ich den Verstand verloren habe, soll’s mir auch recht sein, dachte Moses Herzog». Schon im ersten Satz ist ja, nach der Erkenntnis von Edgar Allen Poe, oft die ganze Geschichte enthalten, so auch hier. Ein an der Welt verzweifelnder, zerstreuter Professor mit Forschungsschwerpunkt Romantik hat nach der Scheidung von seiner zweiten Frau, die ihn mit seinem besten Freund betrogen hat, und nach einem von ihr erbarmungslos geführten Rosenkrieg, völlig den Boden unter den Füßen verloren. Der an Nabokovs «Pnin» erinnernde Held taumelt zunehmend orientierungslos durch das Leben, ist ständig in irgendwelche Gedankengänge verfangen und agiert meist völlig irrational, er scheitert am eigenen Unvermögen, was den profanen Alltag anbelangt. In Wissenschaftskreisen ist er weithin bekannt und hoch angesehen, und auch die Bindungen innerhalb der Familie sind sehr eng, seine durchweg lebenstüchtigen Brüder mögen ihn und helfen ihm, wo es geht. Bei schönen Frauen ist er überraschend erfolgreich, seine diversen Affären werden von Freunden recht neidisch registriert. Diese Frauen übrigens werden hinreißend beschrieben, fiel mir auf, aber Moses als Don Juan passt wirklich nicht so recht. Als der fünfmal verheiratete Saul Bellow mit 89 Jahren starb, hinterließ er eine 5-jährige Tochter (sic!), – das erklärt’s vielleicht, Charlie Chaplin lässt grüßen!

In immer wieder neuen Rückblenden wird die Vita eines tragisch-komischen Helden ohne religiöse Bindung vor uns ausgebreitet, der in vielerlei Aspekten übrigens unverkennbar ein Alter Ego des Autors ist. Mit brillanten philosophischen Exkursen hinterfragt Bellow in seinem Roman den Sinn des Lebens und erörtert soziologische Probleme der modernen Gesellschaft und der sich immer schneller wandelnden Lebensverhältnisse in den üppig wuchernden Metropolen der USA, – der Roman wirkt insoweit wie eine literarische Feldstudie des in Chikago beheimateten Autors. Diesen mühsamen Prozess der Selbstfindung realisiert der Autor sprachlich mit einem originellen Erzählstil, in dem er seinen verwirrten Helden Don Quichotte-artig immer neue Briefe an die unterschiedlichsten Personen schreiben lässt, ein wüstes Sammelsurium von Gedanken politischer, soziologischer und kultureller Art, ergänzt um viele wissenschaftliche Diskurse. Adressaten der fast immer nur imaginierten, nicht wirklich aufgeschriebenen und auch nie abgeschickten Briefe sind lebende wie auch tote Personen. Obwohl all diese inneren Monologe kursiv gesetzt und somit leicht erkennbar sind, erfordert die Lektüre doch einige Lesedisziplin nicht nur in Hinblick auf den geistigen Gehalt des Erzählten, sondern auch der abrupten Wechsel wegen, mit denen Bellow diese Gedankensplitter ins Textganze integriert.

Moses Herzog endet bei seiner Sinnsuche in einer Ablehnung des Nihilismus moderner Prägung, wie ihn Viele in seiner Umgebung praktizieren. Er beginnt nach dem Rückzug in sein entlegenes Landhaus die seelisch wohltuende Wirkung einsamer Natur zu entdecken, erkennt zudem den Wert selbstloser Liebe, wie sie ihm seine attraktive neue Freundin entgegenbringt, vor der er verstört dorthin geflüchtet war, – ein hoffnungsvoller Lichtblick am Ende des Tunnels seiner von Einweisung in die Psychiatrie bedrohten Existenzkrise.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Elena Ferrante: Neapolitanisches Epos Band 1

 

“Meine geniale Freundin” ist die Geschichte der Kindheit zweier Freundinnen, die in Neapel aufwachsen und sie wird von Elena Ferrante im Original teilweise in dem Dialekt erzählt, aus dem sie geboren wurde. „L’ammore nun te fa mangia’/te fa suffri’ te fa’ pensa“, heißt es zum Beispiel in einem neapolitanischen Volkslied namens „Lazzarella“, das auch in dem vorliegenden Roman eine große Rolle spielt: die Liebe füttert dich nicht, sie macht dich nur leiden und nachdenken.  Als „Lazzaroni“ wiederum werden die armen Bewohner Neapels bezeichnet und auch die Maestra Oliviero (Lehrerin) der Ich-Erzählerin des Romans verwendet eine ähnliche Bezeichnung für die Bewohner des Viertels in dem sie aufwächst: Plebs. „Was der Plebs war,“ – sinniert Lenuccia am Ende des aufsehenerregenden ersten Teils der neapolitanischen Familiensaga – „der Pöbel, erkannte ich in jenem Augenblick und viel klarer als damals, vor Jahren, als die Oliviero mich danach gefragt hatte. Der Pöbel, das wir waren wir.“ Aber die Lazzaroni Neapels waren es auch, die den Aufstand gegen die Obrigkeit während der Parthenopäischen Republik anzettelten. Später entwickelte sich aus ihren Reihen allerdings auch die Camorra, von der in vorliegender Erzählung immer nur indirekt gesprochen wird.

Elena Ferrante: „piano, pianissimo, intimo, dolce“

Der erste Teil der Familiensaga über die Cerullos und Grecos schildert die Kindheit der beiden „besten Freundinnen“ Raffaella genannt Lina und Elena genannt Lenuccia oder Lenú. Das Aufwachsen in einem eher popularen Viertel Neapels ist voller Hingabe zu Details geschildert und zeigt auch die Brüche auf, die die italienische Gesellschaft auch heute noch durchziehen: ein Mangel an Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich spielt der Roman nach dem Krieg, aber er ist wohl ebenso zeitlos wie allgemeingültig, wenn man an die schweren Hürden denkt, die junge Frauen in Italien auch heute noch zu nehmen haben: Bildung ist in diesem volkstümlichen Rione (ital.: für Viertel) der Stadt am Vesuv verpönt, besonders für Mädchen, die ohnehin nur zum Heiraten geboren werden, so die allgemeine Ansicht und auch die der Eltern der beiden Freundinnen. So muss Lina Cerullo alsbald ihrem Bruder und Vater in der Schusterwerkstatt helfen, obwohl sie für die Schule eigentlich viel talentierter als Lenuccia (ein vezzeggiativo für Elena) wäre. Aber mit viel Fleiß schafft letztere es beinahe bis zum Abitur, bis der erste Teil der Neapolitanischen Familiensaga mit der Hochzeit von Lina jäh abbricht. Denn auch Heirat ist eine Möglichkeit der Armut zu entkommen und wie es aussieht, die viel einträglichere Methode, um zu Reichtum und einem besseren Leben für sich und die ganze Familie zu kommen. Aber für Lenuccia sieht es weniger rosig aus: „Bei ihnen (die Bewohner des Viertels, JW) konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.“

An Ferragosto wird alles anders

Lenuccia muss nicht nur gegen ihre Mutter ankämpfen, die sie lieber arbeiten sehen würde, sondern auch gegen die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft und die Bewohner ihres Viertels, die nichts von Bildung halten. Auch nach dem Krieg geht es vor allem jenen besser, die sich während des Krieges auf Seiten der Schwarzhemden hielten. Ein solcher ist Don Achille Carracci, der von dem Tischler Alfredo Peluso wohl aufgrund einer alten Fehde getötet wird und Lenuccia verliebt sich ausgerechnet in seinen Sohn Pasquale. Aber noch schlimmer ist, dass Lina den Sohn von Don Achille, Stefano, heiraten wird. Und auch wenn er sehr reich ist, klebt ein stinkender Geruch an seinem Geld. Doch auch Nino Sarratore, der Sohn des dichtenden Eisenbahners, wirkt sehr anziehend auf Lenuccia. Von beiden Jungs – Pasquale und Nino – lernt sie ein politisches Bewusstsein, das alsbald den ganzen Rione durcheinanderwirbelt. Ein groß angelegtes Epos über zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und das gut inszeniert und pointiert zu einer spannenden Kulmination auf einer Hochzeit führt. Gekonnt geschrieben und spannend erzählt von der Schauspielerin Eva Mattes. Wer von den beiden – Lina oder Lenuccia – nun die geniale Freundin des Titels ist, wird aber hier aber nicht verraten.

Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Die Neapolitanische Saga (1)
Ungekürzte Lesung mit Eva Mattes
Hörverlag Buch erschienen bei Suhrkamp
€ 22,99 [D]* inkl. MwSt.
Hörbuch MP3-CD
ISBN: 978-3-8445-2352-2
Der Hörverlag/Random House


Genre: Belletristik, Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Roman
Illustrated by Hoerverlag, Random House UK

Die Rote

andersch-1Mumpitz und Humbug

Der zweite der vier Romane von Alfred Andersch, erstmals erschienen 1960, trägt seinen Titel «Die Rote» nach der Haarfarbe der Protagonistin, einer 31jährigen Frau auf der Flucht, auf der Suche nach sich selbst, nach innerer Freiheit. Eine wichtige Thematik des Existentialismus, die sich ähnlich auch in anderen Werken dieses ebenso streitbaren wie umstrittenen Autors der deutschen Nachkriegsära findet, literarisch realisiert mit Außenseitern der Gesellschaft als handelnden Figuren.

Da ihr Chef, mit dem sie jahrelang ein Verhältnis hatte, Franziska nicht heiraten wollte, hatte sie Herbert geheiratet, den Exportleiter der Firma. Bei einem gemeinsamen Geschäftstermin in Mailand eskaliert ein Streit der Beiden um die Besichtigung einer Kirche, bei dem Kunstfreak Herbert ihr schließlich die kleinen Freiheiten vorhält, die er ihr doch lasse. «Dass ich mit deinem Chef schlafe, wann immer er es wünscht, das nennst du meine kleinen Freiheiten», entgegnet sie empört, und als sie zudem erwähnt, dass Herbert sie möglicherweise kürzlich erst geschwängert habe, spricht er nur lapidar von einem «Betriebsunfall». Spontan steht sie auf und verlässt ihn, nimmt den nächsten Zug, egal wohin, nur weg! Die attraktive Frau landet ohne Gepäck und mit wenig Geld in Venedig und trifft dort auf verschiedene Männer. «Die Rothaarigen sollen ja schärfer sein als die anderen» heißt es im inneren Monolog eines ihrer machohaften Bewunderer. Aber damit hat sich’s auch schon, soviel vorweg, es geht mitnichten um Amouröses oder gar um Sex in dieser Erzählung, die temporeich einem wahrhaft absurden, vier Tage umfassenden Plot folgt, über den man sich nur wundern kann als Leser.

Zunächst begegnet Franziska Patrick, einem schwulen Iren mit eigener Yacht, der während des Krieges als Spion aufgeflogen ist und vom Gestapomann Kramer durch Folter zum Verrat an anderen Agenten gezwungen wurde. Er habe nun Kramer zufällig in Venedig wieder getroffen, wolle ihn töten und anschließend die Stadt mit seiner Yacht verlassen, er bietet ihr an, ihn zu begleiten. Die beiden Kontrahenten kennen sich und treffen sich sogar, und dabei gerät nun auch Franziska in Gefahr, denn der mafiöse Kramer fürchtet, sie könne ihn bei Interpol anzeigen. Ein zweiter Protagonist, dessen Geschichte im Wechsel mit der Franziskas erzählt wird, ist der ehemalige kommunistische Partisan Fabio, der politisch frustriert aus der KPI ausgetreten ist und nun als Geiger im Theatro La Fenice arbeitet, Franziska trifft ihn auf dem Campanile. Man begegnet ferner einem halsabschneiderischen Juwelier, – ein Jude natürlich -, bei dem die inzwischen finanziell abgebrannte Franziska notgedrungen ihren Brillantring weit unter Preis versetzt. Was dann überraschend – und völlig unlogisch – Kramer auf den Plan ruft, der den Juwelier unter Drohungen dazu bringt, ihr nachträglich einen angemessenen Preis zu zahlen.

Es geht immer weiter so in dieser Kriminal-Groteske, die von einem Klischee-Fettnäpfchen ins nächste stolpert und deren Ende so kitschig war, dass der Autor sich veranlasst gesehen hat, 1972 eine überarbeitete Neufassung herauszugeben, bei der das Ende offen bleibt. Dass oral im Bier zugeführtes Strychnin nicht zum Mord geeignet ist, da man es selbst in extremen Verdünnungen herausschmeckt, ist dem Autor entgangen, es gibt Hanebüchenes mehr. Sprachlich ist der Roman uninspiriert, völlig humorfrei zudem, stilistisch dominieren oft mitten im laufenden Text einsetzende innere Monologe, hier jeweils kursiv abgesetzt, ergänzt noch um in Kleinschrift gesetzte Traumsequenzen. Patrick und Fabio sind als potentielle Gegenspieler unglaubwürdig, und völlig deplaziert ist auch der Kampf zwischen Ratte und Katze, er hat nicht das Geringste mit der Handlung zu tun. «Grauenhaft und kitschig» lautete einst das Verdikt von Marcel Reich-Ranicki, «dass der Roman ‹ein wichtiges Werk der deutschen Nachkriegsliteratur› sei, ist Mumpitz und Humbug». Dem ist meinerseits nichts hinzuzufügen!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Am grünen Strand der Spree

scholz-1Decamerone in der Jockey-Bar

«So gut wie ein Roman» lautet der ironische Untertitel eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich seit vielen Jahren gelesen habe. «Am grünen Strand der Spree», 1955 erschienen und ein geradezu sensationeller Erfolg damals, ist heute nur noch antiquarisch zu haben. Und auch dessen Verfasser Hans Scholz ist, trotz einer Neuausgabe der berühmten fünfteiligen Fernseh-Verfilmung auf DVD, – ein echter «Straßenfeger» zu jener Zeit -, und trotz diverser TV-Wiederholungen, als Autor inzwischen leider weitgehend in Vergessenheit geraten. Seinem wie ein Komet am Literaturhimmel aufleuchtenden Debütroman folgte nämlich kein weiterer.

Am Abend des 26. Aprils 1954 treffen sich einige Männer in der Jockey-Bar in der Nähe des Kurfürstendamms in Berlin, Anlass ist die Rückkehr ihres Freundes, des Majors Hans-Joachim Lepsius, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Als Gastgeber fungiert im Auftrag und gesponsert von des Heimkehrers wohlhabendem Vetter, der selber verhindert ist, der Werbefilmproduzent Hans Schott, die Runde wird vervollständigt durch den Maler Fritz Georg Hesselbarth und den Schauspieler Bob Arnoldis. Zu später Stunde gesellen sich der trinkfesten Runde weitere Teilnehmer hinzu, und am hellen Morgen, so lange dauert das Treffen, taucht dann auch noch Barbara Bibiena genannt Babsy auf, eine von allen gleichermaßen verehrte Frau, «Sie ist nach wie vor so schön, dass ihr Anblick Kranke heilen kann» heißt es im Roman. Die Vorlage für seine Figur, ließ der Autor wissen, lieferte ihm die erste deutsche Miss Germany, Susanne Erichsen.

Nach Art von Boccaccios «Decamerone» werden an diesem Abend Geschichten erzählt oder vorgelesen, beginnend mit dem Kriegstagebuch eines verschollenen Freundes, der den deutschen Einmarsch 1941 in Russland und die SS-Gräuel, die er dabei miterlebt hat, sehr anschaulich beschreibt. Von der weit angenehmeren, da kampflosen Etappe im besetzten Norwegen erzählt ferner eine Spionage-Geschichte, die Gespräche der Fahrgäste einer Busfahrt wiederum zeugen sehr real von den profanen Alltagsproblemen des damals noch Ostzone genannten Arbeiter- und Bauern-Paradieses. Eine in den Siebenjährigen Krieg, in die Schlacht bei Kunersdorf 1759 zurückreichende Geschichte aus der Chronik der Familie Bibiena wird verlesen, eine weitere Episode um ein Soldatengrab vom Ende des Zweiten Weltkriegs im Wald nahe Berlin wirft einige Rätsel auf. Ferner wird eine höchst amouröse Geschichte aus Italien erzählt sowie eine eigentlich unmögliche Romanze aus einem amerikanischen Gefangenenlager in Frankreich. Meist stehen übrigens Frauen im Zentrum dieser Geschichten, als roter Faden quasi wirkt dabei die Figur der Babsy, die immer wieder mal auftaucht in den verschiedenen Erzählungen, sie ist bis zum glücklichen Ende präsent.

Äußerst virtuos spannt Hans Scholz die Fäden seines Plots zwischen den Figuren sowie zwischen den Epochen, in denen sie agieren, zu einem dichten Handlungsnetz zusammen, wobei ein mosaikartiges Bild Berlins und der beiden Deutschlands entsteht. Er benutzt dabei sprachlich eine Melange aus gehobenem Berlinisch, dem gemäßigten Dialekt gutbürgerlicher Kreise also, einen sehr saloppen Kasino-Jargon der Militärs, die ironisch übertriebene, fast schon snobistische Sprechweise äußerst gutgelaunter Intellektueller, die Musikersprache sowie das Idiom einschlägig geprägter Barbesucher. Er habe, sagte Scholz dazu, «nur aus meinen ewigen Saufereien ein bißchen Kapital geschlagen» für seinen Roman. Geistreicher Witz mithin ist das beherrschende Stilmittel dieses Ausnahme-Erzählers, der die Menschlichkeit selbst in den bedrückenden Passagen seiner Geschichten obsiegen lässt, eine erzählerische Meisterleistung, wie das Feuilleton damals jubelte, – auf Augenhöhe mit Tucholsky, füge ich hinzu! Die lebensecht beschriebenen Teilnehmer dieser ebenso feuchtfröhlichen wie intellektuellen Tafelrunde jedenfalls bleiben dem schmunzelnden Leser noch lange nach der Lektüre sehr angenehm im Gedächtnis.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by VAT Verlag André Thiele Mainz

Schau heimwärts, Engel

wolfe-1Vom «feinsten Scheitern»

Den 1929 erschienenen Debütroman «Schau heimwärts, Engel» des amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe nannte Hermann Hesse damals «Die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika», und auch die Nobelpreisträger Faulkner und Lewis schätzten ihren Kollegen literarisch sehr hoch ein. Ein Riesenerfolg also gleich auf Anhieb, an den spätere Werke des früh verstorbenen Autors nicht mehr anknüpfen konnten. Seit 2009 liegt dieser inzwischen zum Klassiker avancierte Roman nun in einer überzeugend gelungenen Neuübersetzung vor.

Wir haben es mit einem typischen Entwicklungsroman zu tun, dessen Held Eugene eingebettet ist in eine kinderreiche Familie mit markanten, lebenshungrigen Charakteren, deren wechselvolles, unangepasstes Leben letztendlich das fatale Scheitern des American Dream widerspiegelt. Die autobiografischen Bezüge in diesem Erstling sind überdeutlich, so zum Beispiel der unschwer als Thomas Wolfes Geburtsstadt Ashville in North Carolina erkennbare Handlungsort, – was ihm denn auch prompt einigen Ärger einbrachte bei seinen Mitbürgern, die sich im Roman wieder erkannten und verunglimpft fühlten. Aber auch viele Gemeinsamkeiten in der Familie und insbesondere im Werdegang seines Helden sind unübersehbar, er fühlt sich ebenfalls zum Schriftsteller berufen, und auch sein Vater ist Steinmetz. So ist also der «mit einem Lächeln milder Statueneinfalt» aus Granit gemeißelte Engel im Roman nicht nur titelgebend, sondern wird schon auf der zweiten Seite auch leitmotivisch eingesetzt, er begleitet den Leser fortan ganz ohne religiöse Konnotation als sinnfällige Metapher für ein wohlbehütetes Leben.

Es ist das Auf und Ab im Daseinskampf, die Widersprüchlichkeit des Lebens, die den heranwachsenden, hochbegabten Eugene zunehmend verzweifeln lässt. Seinem stadtbekannten Vater als versoffenem, schwadronierendem Künstlertyp mit großer Attitüde steht die äußerst energische, geschäftstüchtige, aber geradezu krankhaft geizige Mutter gegenüber. Er und seine Geschwister stehen zwischen diesen Fronten eines nimmer endenden Ehekriegs ihrer völlig entzweiten Eltern, deren konträre Visionen ebenso kläglich scheitern wie die ihrer höchst verunsicherten Kinder. Ihnen allen ist kein Glück beschieden, und Eugene erlebt gleich bei seiner ersten Liebe einen schnöden Verrat, der den Gutgläubigen völlig aus der Bahn wirft. Sein Glück, soviel ahnt er dann als unschlüssig dahin Treibender nach dem Ende seines Studiums, liegt in ihm selbst, nicht in der großen weiten Welt, in die es ihn hinauszieht, in die er sich geradezu flüchten will auf der Suche nach Lebenssinn und Erfüllung.

Vom «feinsten Scheitern», wie Faulkner es umschrieb, handelt dieser stilistisch hochklassige Roman, der mit einigem Pathos erzählt wird. Er überzeugt mit einer geradezu genialen Beschreibungskunst, mit lebensecht gezeichneten Figuren und stimmigen Dialogen, mit einer sinnreich ausgeklügelter Metaphorik vor allem, die ihresgleichen sucht. Die Stofffülle ist selbst nach den radikalen Kürzungen des Manuskriptes noch sehr üppig geblieben, der gleichwohl ziemlich handlungsarme Roman erfordert zudem mit seiner geradezu ausufernden Intertextualität und den vielen historischen, politischen und kulturellen Anspielungen, – die hilfreichen Anmerkungen hierzu umfassen allein 45 Buchseiten mit 614 Verweisen -, so einiges an Durchhaltevermögen beim Leser. Der episodische Roman schildert in seiner stärksten Szene sehr ergreifend einen qualvollen Todeskampf und endet mit einer ebenso faszinierenden Geisterszene, in der Eugene auf seinen verstorbenen Bruder Ben trifft, der ihm als Todesengel die Tür zur scheinbar entschwundenen Welt weist, die in ihm selber läge. Der «Homer des modernen Amerika», wie Kritiker ihn überschwänglich nannten, folgte seiner Theorie «Wir sind die Summe aller Augenblicke unseres Lebens». Entsprechend weit verzweigt und üppig ist das Geflecht unzähliger Impressionen in diesem an den «Ulysses» angelehnten, grandiosen Klassiker.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Flauberts Papagei

barnes-4Ein Vexierspiel

Mit «Flauberts Papagei», seinem dritten, 1984 für den Booker Prize nominierten Roman, gelang dem britischen Schriftsteller Julian Barnes der Durchbruch. Inzwischen liegt ein stattliches Œuvre dieses Autors vor, der literarisch der Postmoderne zugerechnet wird. Kennzeichnend für seine subjektivistische Prosa sind zum einen die Betrachtungsweise aus einer dezidiert individuellen Perspektive, ferner seine häufige Beschäftigung mit historischen Themen sowie sein deutlich spürbares Faible für französische Lebensart und Literatur. Wobei Letzteres viele intertextuelle Bezüge mit einschließt, im vorliegenden Roman natürlich vor allem zu dem literarischen Olympier Gustave Flaubert. Und, – last, but not least -, gehört natürlich auch der typisch britische Humor dieses Romanciers dazu, dessen hintergründige Ironie ja schon im Titel des Romans aufblitzt.

Protagonist und Ich-Erzähler ist Geoffrey Braithwaite, Landarzt im Ruhestand und als Privatgelehrter ein geradezu fanatischer Flaubert-Forscher. Seine Spurensuche durch Museen  und Archive, durch Bibliotheken und Antiquariate bezieht auch jenen ausgestopften Papagei mit ein, der als Leihgabe zeitweise auf dem Arbeitstisch des Romanciers stand und ihm wohl als Inspirationsquelle diente. In «Ein schlichtes Herz», erste Erzählung des erfolgreichen Triptychons «Trois Contes» von 1877, jenem spöttischen Abgesang auf illusionäre Idealsuche, spielt der Vogel denn auch eine tragende Rolle. Barnes benutzt ihn als Leitmotiv in seinem Roman und erzählt in 15 Kapiteln von den laienhaften Forschungen des verwitweten Arztes. Dabei bleibt kein Aspekt aus der Vita des verehrten Schriftstellers ausgespart, seine Liebesaffären werden ebenso thematisiert wie seine zurückgezogene Lebensweise und diverse Marotten, zu denen zum Beispiel sein Hass auf die Eisenbahn gehört. Im Kapitel «Die Flaubert-Apokryphen» wird lebhaft über seine nicht geschriebenen Bücher spekuliert, in anderen stehen seine Beziehung zu Tieren im Vordergrund, und natürlich auch die gesellschaftlichen Anfeindungen, die der Roman «Madame Bovary» hervorgerufen hatte, ein gefährlicher juristischer Strudel damals, aus dem er glänzend rehabilitiert wieder aufgetaucht ist.

Selbstverständlich ist diese eindeutig bekannteste Romanfigur Flauberts im Roman allgegenwärtig, Julian Barnes lässt Emma Bovary geradezu lebendig werden, erhebt die Ehebrecherin beinahe zu einer historischen Figur. Und so wird denn auch die köstliche Anekdote erzählt, dass man in Hamburg schon ein Jahr nach Erscheinen des Romans eine «Bovary» mieten konnte, eine zum Kopulieren zweckentfremdete, ziellos herumfahrende Pferdedroschke, so benannt in Anspielung auf die berühmte Fiakerszene. Der Protagonist kann sich nach einem Museumsbesuch dann auch die Anmerkung nicht verkneifen, dass ihm die ausgestellten Droschken aus jener Zeit beängstigend klein vorgekommen sind und allesamt kaum geeignet seien für den von Flaubert ersonnenen, zweckentfremdeten Gebrauch. Typisch Barnes!

Mit seinem dilettierenden Literaturforscher Braithwaite karikiert der Autor gekonnt die ganze Zunft, weist auf Absurditäten und Hirngespinste hin, denen da so übereifrig nachgegangen wird. Ein Leser, der Flaubert nicht kennt, nichts von ihm gelesen hat, wird kaum auf seine Kosten kommen bei dieser Eloge auf den berühmten Romancier, zu häufig wird doch auf dessen Werk Bezug genommen. Das Fiktionale des Romans wird hier durch massenhaft Historisches unterfüttert, man glaubt sich beim Lesen zuweilen eher in einer Schriftsteller-Biografie angesichts der vielen Daten und Fakten, die da ausgebreitet werden. Aber die Rahmenhandlung mit ihrem Ich-Erzähler holt einen dann doch immer wieder ins Fiktionale zurück. Der experimentell aufgebaute Plot ist hervorragend durchdacht mit vielen stimmigen Verweisen, er wird in einer brillanten Sprache erzählt und vermittelt en passant eine Menge Wissenswertes über Gustave Flaubert. Einfach zu lesen ist dieses gekonnte Vexierspiel allerdings nicht.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wer die Nachtigall stört

lee-1Neues von der Spottdrossel

Mit dem 1960 unter dem Titel «To Kill a Mockingbird» veröffentlichten Roman ist die US-amerikanische Schriftstellerin Harper Lee weltberühmt geworden, sie bekam im Jahr darauf den Pulitzerpreis. Nach «Wer die Nachtigall stört» wurde von ihr 55 Jahre lang nichts mehr veröffentlicht, laut eigener Aussage, weil sie den Vergleich eines neuen Buches mit ihrem so überaus erfolgreichen Debüt fürchtete. Die Spottdrossel, Wappenvogel etlicher Südstaaten der USA, wurde in der deutschen Ausgabe zur «Nachtigall», aus dem «Töten» wurde weniger martialisch ein «Stören», Beides ist eine treffende Metapher dafür, wie durch menschliche Vorurteile, durch stupiden Rassenhass nämlich, schreiendes Unrecht entsteht, die Idylle zerstört wird. Der weltweit mehr als 40 Millionen Mal verkaufte Roman, schon 1962 kongenial verfilmt mit Gregory Peck, hat inzwischen den Status eines zeitlosen Klassikers. Auf Deutsch liegt er, in einer nach mehr als fünfzig Jahren erstmals überarbeiteten Übersetzung, jetzt neu vor, versehen mit einem informativen Nachwort von Felicitas von Lovenberg.

Harper Lee wird mit Truman Capote, William Faulkner, Carson McCullers, Tennessee Williams und vielen anderen Autoren der Southern Gothic zugerechnet, eine von Gewalt und Armut geprägte, kritische Südstaatenliteratur, zu der neben skurrilen Figuren und makabren Geschehnissen als integrales Element der Aberglaube und die Angst vor Geistern gehört. Auch hier im Roman überspannt die panische Angst der Kinder vor einem menschenscheuen Nachbarn, über den allerlei gruselige Geschichten kursieren, klammerartig den Plot.

Der Roman ist zeitlich in den Jahren 1933 bis 1935 angesiedelt, also in der als «Great Depression» bezeichneten Wirtschaftskrise, Handlungsort ist die fiktive Kleinstadt Maycomb in Alabama. Erzählt wird aus der Perspektive der ungewöhnlich selbstbewussten, aufgeweckten achtjährigen Jean-Louise, die von allen nur Scout genannt wird und einen nicht minder cleveren, vier Jahre älteren Bruder namens Jem hat. Ihr alleinerziehender Vater ist der von allen geachteter Anwalt Atticus Finch, ein äußerst geradliniger, integrer Mann, der für sie nicht nur Autorität verkörpert, sondern auch ihr um Antworten nie verlegener Lehrer und kumpelhafter Freund ist, die Kinder nennen ihn wie selbstverständlich immer nur beim Vornamen. Der zweiteilige, in 31 Kapitel gegliederte Entwicklungsroman behandelt im ersten Teil die Kindheit von Scout und Jem, deren Erziehung zu einem nicht unwesentlichen Teil in den Händen der resoluten, aber stets wohlmeinenden farbigen Haushälterin Calpurnia liegt. Im zweiten Teil wendet sich der Plot dem beherrschenden Thema des Romans zu, der angeblichen Vergewaltigung einer jungen Weißen durch einen Neger. In dem Prozess vertritt Atticus den farbigen Angeklagten, was ihm – und damit auch seinen Kindern – von fast allen Einwohnern der Stadt sehr übel genommen wird in ihrem dumpfen, blinden Rassenhass.

Besonders erfreulich war für mich neben der klug durchdachten Handlung mit ihren vielen lebensecht beschriebenen, markanten Figuren die stilsichere, lebendige Sprache von Harper Lee, leicht lesbar mit stimmigen Dialogen. Ihre warmherzige Story ist tiefsinnig und ethisch belehrend, sie behandelt Gewissen und Gerechtigkeit, ohne didaktisch moralisieren zu wollen, aber immer messerscharf zwischen gut und böse unterscheidend. Was die Lektüre jedoch vollends zum Hochgenuss werden lässt ist der unterschwellige Humor der Autorin, im Roman realisiert durch die kindliche Erzählperspektive der burschikosen Ich-Erzählerin und ihre ebenso naiven wie verschmitzten Gedankengänge, die den Leser immer wieder schmunzeln und oft auch laut auflachen lassen. Obwohl ruhig und unaufgeregt erzählt, enthält die Story durchaus Spannung und wartet mit überraschenden Wendungen auf. Letztendlich aber ist es die phänomenale Leichtigkeit, mit der das alles erzählt wird, die uns staunen macht bei dieser überaus erfreulichen Lektüre.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt