Vor dem Sturm

Einfach genial

«Vor dem Sturm», als «Roman aus dem Winter 1812 auf 13» bezeichnet, das Opus magnum von Theodor Fontane, ist eine vierbändige Geschichte über den Beginn der preußischen Befreiungskriege nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons. Der Autor schildert in seinem 1878 erschienenen Debüt-Roman die historischen Ereignisse in hunderten von separaten Erzählungen. Zentrum der Handlung ist das fiktive Schloss Hohen-Vietz im Oderbruch, im dritten Band auch Berlin. Zentrale Figuren sind die Mitglieder der Adelsfamilien Vitzewitz-Pudagla und Ladalinski. Als unangefochtener Großmeister des Plaudertons entwickelt Fontane ein breit angelegtes Panorama verschiedenster gesellschaftlicher Schichten und ihrer Eigenarten in einer fast durchgängig indirekten Erzählform. Er lässt nämlich sein vielköpfiges Figuren-Ensemble in unzähligen Gesprächsrunden, ergänzend auch in vielen Briefen, zu Wort kommen, um die Geschehnisse und ihre kulturellen Hintergründe zu erzählen.

Der Roman beginnt an Heilig Abend 1812 auf Schloss Hohen-Vietz, den der verwitwete Bernd von Vitzewitz mit Tochter Renate und Sohn Lewin, der Erzieherin ‹Tante› Schorlemmer, einer Herrnhuterin, sowie diversen Gästen gemeinsam begehen. Der Schlossherr sieht im Rückzug der geschlagenen französischen Armee die militärische Chance, endlich die demütigende Besetzung Preußens abzuschütteln. Unermüdlich wirbt er in Gesprächen für seine Idee eines Volkssturms, der die Franzosen aus dem Lande jagt. Nach langem Hin und Her entsteht dann tatsächlich eine örtliche Volkswehr, um mit Hilfe der nachrückenden Russen die in der Festung Küstrin stationierte französische Garnison aufzulösen.

Jeweils angelehnt an dieses narrative Gerüst werden die vielen Geschichten von Adligen, Militärs, Amtspersonen, Pastoren, Bauern, Dienstpersonal und zwielichtigen Gestalten fontanetypisch, also überaus anschaulich erzählt. Trotz der Fülle von Figuren behält man als Leser jederzeit den Überblick, weil der Autor seine durchweg sympathischen Charaktere derart stimmig beschreibt, dass man viele von ihnen schon bald persönlich zu kennen glaubt. Natürlich ist auch die Liebe ein Thema in diesem Roman, wobei das zeitbedingt verschämte Sich-nicht-erklären, aber auch Standesdünkel für allerlei Tragik sorgen. Köstlich sind die ständigen Dispute mit der bigotten Herrnhuterin, deren naiver Frömmigkeit weder der Pastor noch der Schlossherr gewachsen sind. Tante Amalie, die Gräfin Pudagla, verwitwete Schwester des Alten von Vitzewitz und Herrin auf Schloss Guse, bereichert die Gespräche in ständigen französischen Einsprengseln mit ihren Erlebnissen am Berliner Hofe. Aber auch Hoppenmarieken, eine verkrüppelte Alte mit angeblich übersinnlichen Fähigkeiten, spielt letztendlich eine entscheidende Rolle in dem vielfältigen Geschehen, in dem auch der Tod seinen Platz hat.

Zum Thema «Was soll ein Roman» hat sich Fontane schriftlich geäußert: «Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und zu unserem Herzen sprechen, Anregungen geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte». Im letzten Kapitel überrascht dann das Tagebuch der ins Kloster gegangen Renate, die darin kurz den Fortgang der Familiengeschichte skizziert. Und im letzten Absatz schließlich steht der Autor in persona auf einem Grabstein des Friedhofs und blickt auf die Kloster-Ruinen, eine raffinierte, dreifach verschachtelte Fiktion. «Im Scheiden erst,» schreibt er zum Schluss, «las ich den Namen, der auf dem Steine stand: Renate von Vitzewitz». Dieser kontemplative, extrem vielschichtige Roman ist einfach genial!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Fabian

Symbiose von Moral und Wortwitz

Im vielseitigen Œuvre von Erich Kästner nimmt der Roman «Fabian» eine Sonderrolle ein, die schon durch den Untertitel «Roman eines Moralisten» verdeutlicht wird. Das 1931 erschienene, gesellschaftskritische Werk ist neben den überaus erfolgreichen Kinderbüchern des Autors sein bekanntester Roman mit intellektuellem Anspruch. Ein elegischer Großstadtroman, der literarisch der Neuen Sachlichkeit zugerechnet wird und sich auf Erfahrungen seines Verfassers stützt. Von den Nationalsozialisten als Asphaltliterat diffamiert, war er zwei Jahre später der einzige Schriftsteller, der auf dem Münchner Odeonsplatz bei der Verbrennung seiner Bücher persönlich zugegen war.

Dr. phil. Jakob Fabian ist ein Germanist, der mangels anspruchsvollerer Stellen notgedrungen als schlechtbezahlter Werbetexter arbeitet. Der aus Dresden stammende, lethargische 32Jährige wird in der Metropole Berlin mit einem wilden Nachtleben konfrontiert, dem er als skeptisch distanzierter Beobachter ironisch gegenübersteht. Sein alter Freund und Studienkollege Labude nimmt ihn mit in das Atelier einer lesbischen Künstlerin, wo er mit der Juristin Dr. Cornelia Battenberg eine junge Frau kennenlernt, die sich ebenfalls mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Die Beiden finden schnell zueinander, und in dem resignativen Fabian erwacht neuer Lebensmut, er will sich endlich ernsthaft um bessere Arbeit bemühen. Am nächsten Tag erzählt ihm Cornelia, dass sie zu einem Casting als Filmschauspielerin eingeladen ist. Sie wird auch tatsächlich angenommen, der Weg zur Filmkarriere führt aber über die Besetzungscouch, – Harvey Weinstein ist fürwahr kein Einzelfall. Der Karriere zuliebe ist sie jedoch wild entschlossen, dieses Angebot keineswegs auszuschlagen. Gleichzeitig verliert Fabian auch noch seinen Job. Bitter enttäuscht stürzt er sich in kurze Affären, moralische Bedenken beim One-Night-Stand haben die Frauen alle nicht, glaubt man dem Macho Erich Kästner. Anders als Fabians idealistischer Freund Labude, der die Hoffnung auf ethische Besserung der Menschheit nicht aufgibt, entwickelt er selbst sich in Folge immer mehr zum zynischen Realisten.

Der Optimist, so hat es Schopenhauer postuliert, habe mehr Unglück zu ertragen als der Pessimist. Gegen Ende der Geschichte wird diese These durch das Schicksal seines Freundes Labude auf grausame Art bestätigt, und inwieweit emotionales Handeln verhängnisvoll sein kann, erfahren wir dann im letzten Satz des Romans. Des Autors Glaube an die ethischen Prinzipien wird bei den Streifzügen des Flaneurs Fabian durch den Großstadt-Dschungel Berlins eindrucksvoll widerlegt. Er beobachtet den moralischen Verfall mit deutlicher Ironie, eine Besserung zu erwarten wäre wirklich utopisch. Kurz vor dem endgültigen Niedergang der Weimarer Republik weist Kästners politische und soziale Kritik prophetisch auf eine schlimme Zukunft hin, die sich für ihn schon abzuzeichnen scheint. Er selbst hat von einem Zerrspiegel gesprochen, den er als Moralist der Gesellschaft mit seiner Geschichte vorhalten wolle. Kein Wunder, dass die Nationalsozialisten diesen zutiefst skeptischen Autor mit einem Veröffentlichungs-Verbot belegt und seine Bücher als entartet verbrannt haben.

Fabian ist als Figur eher passiver Beobachter als aktiv Handelnder, er verblüfft zudem ständig mit seiner Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Etwas zu ändern jedoch, dazu fehlt ihm Mut und Entschlossenheit. Das Geschehen wird in einer journalistisch knappen, präzisen Sprache geschildert, wobei sich die Handlung in weiten Teilen aus geschliffenen Dialogen heraus entwickelt, die auszugsweise eine veritable philosophische Zitatensammlung ergeben würden. Neben dem üppigem Wortwitz, der da allenthalben aufblitzt, ist es besonders die verblüffende Schlagfertigkeit, mit der hier munter parliert wird, ans Kabarett erinnernd. Ob Satire wie diese zu neuen Einsichten führen kann, die öffentliche Moral betreffend, darf bezweifelt werden, damals wie heute!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seinen Weise

Pageturner par excellence

Überraschend, aber nicht unverdient hat Jean-Paul Dubois für seinen kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Roman «Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise» 2019 den Prix Goncourt erhalten. Es ist die bisher höchste Auszeichnung für ein Werk aus seinem umfangreichen Œuvre, von dem bisher nur sehr wenig auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie bei vielen anderen seiner Bücher herrscht auch in dieser Geschichte ein melancholischer Grundton vor. Ein vom Schicksal gebeutelter Pfarrerssohn, der im Gefängnis sitzt, berichtet als Ich-Erzähler davon, warum er straffällig geworden ist und zu Recht dort hingekommen sei. Dabei zieht der französische Autor gekonnt alle Register für eine ebenso unterhaltsame wie – bis zum versöhnlichen Ende – spannende Erzählung, in der es auch manches zu schmunzeln gibt. Er erzeugt damit einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann, ein Pageturner also ‹par excellence›.

Paul Hansen, der Sohn eines dänischen Pfarrers und einer attraktiven Französin, die in Toulouse ein Programmkino betreibt, erzählt aus seiner Kindheit und von der langsamen Entfremdung seiner Eltern. Die linksorientierte, aufmüpfige Mutter treibt es auf die Spitze, als sie 1975 den Skandalfilm «Deep Throat» zeigt, was ihren Mann vorhersehbar die Stelle kostet, er wird von seiner empörten Kirchengemeinde sofort entlassen. Das Paar trennt sich, er findet in Kanada schließlich eine neue Pfarrstelle. Sein damals zwanzigjähriger Sohn Paul folgt ihm ein Jahr später dorthin und schlägt sich zunächst als handwerklich begabter junger Mann mit allerlei Gelegenheitsjobs durch, ehe er in Montreal die Hausmeisterstelle einer gepflegten Wohnanlage mit 68 Wohnungen übernimmt. Mit großem Engagement kümmert er sich fortan nicht nur um das Gebäude, sondern auch um dessen Bewohner. Als Faktotum mit einer nie ermüdenden Hilfsbereitschaft ist er bei allen Bewohnern äußerst beliebt. Bis sich nach über zwanzig Jahren plötzlich alles ändert.

«Seit einer Woche schneit es», heißt es im ersten Satz. In der ersten Erzählebene des Romans wird aus der viel zu kalten Gefängniszelle berichtet, die sich der zu zwei Jahren Haft verurteilte Paul mit einem hünenhaften Biker von den Hells Angels teilen muss. Sein furchterregender Zellengenosse, dessen Missetat ungeklärt bleibt, erweist sich im weiteren Verlauf aber als Sensibelchen, das vor den Mäusen in der Zelle Angst hat. Im zweiten Handlungsstrang erzählt Paul von seinem Leben, von der weitverzweigten dänischen Familie seines Vaters in Skagen, die seit Generationen vom Fisch lebt, vom Vater selbst, der mit den Jahren den Glauben verliert und spielsüchtig wird, seinen Beruf aber weiterhin ausübt. Er erzählt von seiner Frau, die er als Pilotin eines Flugtaxi-Unternehmens kennen lernt und die ihm, als indianisches Halbblut, die Schönheiten der grandiosen kanadischen Natur nahe bringt. Oder von einem guten Freund, der als Angestellter einer Versicherung nach Schwachstellen in der Vita des Verunglückten suchen muss, damit die fällige Versicherungsprämie für den Wert von dessen Leben möglichst weit heruntergedrückt werden kann. Was er ganz gegen seine innere Überzeugung tun muss, weil er für einen Berufswechsel schon zu alt ist.

Im Auf und Ab der Schicksale seiner zahlreichen Figuren entwickelt der Autor ein elegisches Bild des Lebens und kommt dabei erfreulicherweise ohne Klischees aus. Obwohl es um existentielle Themen geht, ist der Erzählton auffallend locker. Als langjähriger Journalist ist Jean-Paul Dubois ein genauer Beobachter, der sich beim Schreiben, wie er im Interview erklärt hat, immer an realen Figuren orientiere, so auch beim Protagonisten dieser Geschichte. Wobei in dieser comédie humaine mit ihrem programmatischen Titel auch die moralische Keule geschwungen wird, Gut und Böse sich exemplarisch gegenüberstehen. Eine komplexe Thematik, die in diesem tragikomischen Roman auf eindrucksvolle Weise aufgegriffen wird , ganz ohne philosophische Tiefenbohrungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Johnny Ohneland

Ein Narrativ als Selbstgespräch

Nach zehn Jahren hat Judith Zander mit «Johnny Ohneland» kürzlich ihren zweiten Roman veröffentlicht, ein Werk, das in vielerlei Hinsicht überrascht. Da ist zunächst der Vorname im Titel, der sich als angenommener Name eines Mädchens mit dem schönen Namen Joana erweist, der Nachname Ohneland spielt auf den unglücklichen Bruder von Richard Löwenherz an. Das Mädel hat schon früh ihre Weiblichkeit durch diesen Vornamen zu verdrängen versucht, für alle ist sie nur noch Johnny, es geht folglich um die Gender-Problematik als zentralem Thema. Ungewöhnlich ist neben dem, ‹was› erzählt wird, aber auch, ‹wie› erzählt wird, denn die Geschichte ist bis auf wenige Seiten am Schluss komplett in Du-Form erzählt. Johnny spricht also im Präteritum zu sich selbst, in einem endlosen inneren Monolog. An diesen zunächst irritierenden Erzählstil gewöhnt man sich allmählich als Leser, was aber nicht darüber hinweghilft, dass die auf diese Art entstehenden, komplizierten und zuweilen stilblütenverdächtigen Satzgebilde den Lesefluss oft erheblich stören. Weiter im Du-Ton:

Von früh an, schon im Kindergarten, führst du ein Außenseiter-Dasein. Du bist extrem introvertiert, zudem äußerst kontaktscheu und folglich immer allein, sieht man mal von deinem zwei Jahre jüngeren Bruder Charlie ab, mit dem du dich meistens gut verstehst. Ihr werdet oft für Zwillinge gehalten, so sehr gleicht ihr euch äußerlich, besonders seit du deine Haare jungenhaft kurz geschnitten hast und dir nur noch knabenhafte Klamotten anziehst. In diesem typischen Entwicklungsroman bist du ein unangepasstes Mädchen auf der Suche nach deinem wahren Ich, deine Lieblingsbeschäftigung ist Nachdenken, hast du erkannt. Du kommst aus einer namenlosen Kleinstadt in MeckPom, dein Vater ist Bäcker, deine Mutter arbeitet in einem Blumenladen, eine bildungsferne Herkunft mithin. Orte der Handlung sind neben der pommerschen Provinz auch Finnland, wo du in Helsinki studiert hast, außerdem Australien, dort hast du nach dem Studium deinen ersten Arbeitsplatz am Goethe-Institut von Sydney gefunden. Vom Kindergarten angefangen über Grundschule, Gymnasium und Studium ist dein Leben von den Schwierigkeiten deiner Selbstfindung bestimmt gewesen, geradezu analytisch schilderst du als Protagonistin dein Seelenleben in allen Details. Eine Zäsur stellte dabei das plötzliche Verschwinden deiner Mutter dar, die der Familie in einen Zettel auf dem Küchentisch lapidar mitgeteilt hat, dass sie ein neues Leben ohne euch begonnen habe, sie würde nie mehr zurückkommen, und ihr sollt nicht nachforschen.

Nach deiner Entjungferung, durch ein maskulines Wesen immerhin, wirst du geradezu magisch zum eigenen Geschlecht hingezogen, mehr als Herumknutschen findet dabei aber nie statt. Zwischendurch hast du dann sogar noch den einen oder anderen Lover, als One-Night-Stand, nie für länger. Bis du am Ende deines Australien-Aufenthalts schließlich doch noch mit einer Frau intim wirst, – was dich dann aber auch nicht recht überzeugen kann. Jedenfalls, wird dir da endlich klar, bist du ja tatsächlich bisexuell, du sitzt quasi zwischen den Stühlen!

Diese Geschichte, die eher einer Meditation gleicht, ist mit Intertextualität üppig angereichert, im Anhang sind fast hundert Quellen benannt. Außerdem finden sich unzählige Redensarten, Sprüche, Zitate und Songtexte, viele auf Englisch. In klugen Selbstreflexionen werden metaphernreich Johnnys Seelenleben, ihre genderspezifischen Probleme und manch anderes Ungemach in der Welt beleuchtet. Beste, aber leider einzige amüsante Episode ist ein Discobesuch, bei dem der DJ gnadenlos die Tanzfläche leer fegt, indem er plötzlich, zur Ankurbelung des Getränkekonsums, nur noch öde Schnulzen auflegt. Zweifellos ist die Sprache das erfreulichste Merkmal dieses Narrativs, ein wortmächtiger, sehr spezifischer Stil. Dabei wird allerdings selbstverliebt oft weit über das Ziel hinausgeschossen, was den Text gewaltig aufbläht, weniger wäre hier mehr gewesen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Léon und Louise

Ein Glücksfall der Gegenwartsliteratur

Man ist bei «Léon und Louise» von Alex Capus an den berühmten Liebesroman von Garcia-Marquez erinnert. In beiden Geschichten finden die Paare erst im Alter zu ihrem späten Glück, dem sie in den beiden jeweils grandiosen Schlussszenen, von der Welt abgeschottet, auf einem Schiff entgegenfahren. Als Handlungsgerüst dienen dem Schweizer Schriftsteller einige Details aus dem Leben seines Großvaters, um die herum er einen klug konstruierten Plot aufbaut, den man treffend auch mit «Die Liebe in den Zeiten der Weltkriege» betiteln könnte, beide politischen Katastrophen lauern als Menetekel über dem schicksalhaften Romangeschehen.

«Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer», lautet der erste Satz. Im offenen Sarg liegt Léon Le Galle, der Großvater des Ich-Erzählers, der in einem epilogartigen ersten Kapitel berichtet, wie plötzlich eine kleine graue Gestalt durch eine Seitentür eintritt, zum Sarg eilt, den Toten küsst, eine Fahrradklingel aus ihrer Handtasche nimmt, zweimal damit klingelt, sie in den Sarg legt, sich zur Trauerfamilie umwendet und jedem kurz in die Augen schaut, ehe sie genau so schnell verschwindet wie sie gekommen ist. Es ist der 16. April 1986, die zierliche alte Dame war Louise, die langjährige Geliebte von Léon, die keiner der Hinterbliebenen je gesehen hatte, – er hat ihr genau diese Klingel kurz nach ihrer ersten Begegnung ans Fahrrad montiert.

Im Frühling 1918 lernt der damals 17jährige Léon in der Normandie Louise kennen, ihre kurze Romanze wird jäh beendet, als sie bei einem Fahrradausflug ans Meer von Tieffliegern angegriffen werden. Beide werden schwer verletzt in verschiedene Lazarette gebracht und halten den jeweils anderen für tot, wobei ein eifersüchtiger Bürgermeister seine Hand im Spiel hatte. Zehn Jahre später sieht der inzwischen verheiratete Léon in der Pariser Metro Louise in einem Zug davonfahren. Es gelingt ihm, sie zu finden, nach einer Liebesnacht beschließen sie aber, sich mit Rücksicht auf Léons Ehe nie mehr wiederzusehen. Der Zweite Weltkrieg verschlägt Louise dienstlich nach Afrika. Léon wird noch mehrmals Vater und schlägt sich als Polizei-Chemiker mit den Besatzern herum. Ein schmuckes Hausboot, das eigentlich ungewollt plötzlich sein Eigentum ist, wird nach Kriegsende das behagliche Refugium des sympathischen Mannes.

Aus der Perspektive seiner Figuren wird in diesem ebenso unsentimentalen wie originellen Roman vor allem eine äußerst unruhige politische Epoche geschildert, die sich sehr anschaulich in den Begebenheiten und Schicksalen spiegelt, von denen die kleinen Leute in Frankreich betroffen waren. Besonders die Figurenzeichnung des eher gegensätzlichen Liebespaares mit dem gutmütigen, in sich gekehrten und phlegmatischen Léon und der burschikosen, selbstbewussten, lebenslustigen Louise ist überzeugend gelungen. Ihre Beziehung ist völlig frei vom schnulzigen Herz-Schmerz-Chaos gängiger Genre-Romane, wobei man trotzdem deutlich spürt, wie tief die Beiden über Jahrzehnte hinweg emotional verbunden bleiben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Es sind nicht so sehr ihre individuellen Charaktere, die den Leser beeindrucken, es ist vielmehr die Unbedingtheit, mit der sie scheinbar gottgewollt zueinander gehören. Sogar Léons Frau, der er bis zu ihrem Tod unverbrüchlich verbunden bleibt als verlässlicher Ehemann, erkennt diese adhäsiven Kräfte und entscheidet sich nach anfänglichen Protesten schließlich lebensklug, sie zu akzeptieren. Beeindruckend ist die klare Haltung des Ehepaares, das nach so langer Gemeinsamkeit am Sakrament der Ehe festhält. Aber Léon kann nun mal seiner Vergangenheit nicht entfliehen, die Liebe zu Louise ist sein Schicksal und bestimmt auch ganz entscheidend ihr Leben. Mit großem Einfühlungsvermögen in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben, gewürzt mit einer wohldosierten Portion Humor, ist dieser Roman einer der seltenen Glücksfälle unserer höhepunktarmen Gegenwartsliteratur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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100 Jahre Bukowski: Short Stories

100 Jahre Bukowski

100 Jahre Bukowski. Der Meister der Kurzgeschichte wäre dieses Jahr, am 16. August, 100 Jahre alt geworden. Warum er es nicht schaffte, erzählen u.a. seine hier vorliegenden Short Stories, die in den Siebziger Jahren auch in Deutschland veröffentlicht wurden. Die beiden hier vorliegenden Bukowski Short Story Sammlungen „Pittsburgh Phil & Co. Stories vom verschütteten Leben“ und „Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben“ erschienen 1973 erstmals im amerikanischen Original unter dem Titel „South of North“ bei Black Sparrow Press. 1977 wurden sie auf Deutsch bei Zweitausendeins als „Das ausbruchsichere Paradies. Stories vom verschütteten Leben“ veröffentlicht. Der Deutsche Taschenbuchverlag dtv hat 1983 die Zweiteilung vorgenommen, die bis zur 18. Auflage 2016 beibehalten wurde.

Bukowski und die Frau des Lebens

Finanziell gesehen war man mit einer Möse eindeutig besser dran als mit einem Schwanz. Um das zu verdienen, was sie ihn zehn Minuten anschaffte, mußte ich einen ganzen Tag arbeiten und noch einige Überstunden dranhängen.“ (In. Zwei Trinker) Schon in der ersten Story, „Die Stripperinnen von Burbank“, macht Bukowski klar wo der Hammer hängt. Acht Stunden lang schlägt er auf einen Konkurrenten ein, bis auch er begreift, dass „wenn man acht oder neun Stunden lang aufeinander eingeschlagen hat“, sich ein ganz „eigenartiges Gefühl der Verbundenheit“ entwickelt. Zumal es eigentlich um gar nichts geht, denn wer verliebt sich schon in eine Stripperin, die Rosalie heißt? Bukowski macht sich Gedanken über das Zusammeleben mit Frauen oder beschreibt den Größenwahnsinn des Halbschwergewichtlers Jack, der nach seinen Kämpfen trinkt und raucht, obwohl seine Ann ihn belehrt, es nicht zu tun. Zumeist hat sich ohnehin alles gegen seine Protagonisten verschworen: „Frauen, Jobs, keine Jobs, das Wetter, die Hunde“. In „Das ausbruchsichere Paradies“ hält eine Frau, Dawn, sich vier Homuncoli, die sie auf einem Bartresen kopulieren lässt, wovon sie selbst so angetörnt wird, dass sie mit der Barbekanntschaft, dem Erzähler, mit nach Hause nimmt. In „Liebe für 17,50“ wendet sich Robert von seiner Flamme Brenda ab und verliebt sich in eine Schaufensterpuppe, Stella, die er einem alten Juden abluchst und in seine Bude mitnimmt. „Eine gute Frau, das ist das Größte auf der Welt“, lässte er einen seiner Protagonisten sagen. Aber wo soll Henry Chinaski so eine finden?

Im Ring mit Hemingway

100 Jahre Bukowski

Egal in welche Rolle Charles Bukowski schlüpft, es sind immer sympathische Verlierer, die er beschreibt und die sein Herz erwärmen, denn er hält nichts von dem „gutrasierten Boy mit der Krawatte und dem guten Job“, wie er in „Mumm“ freimütig bekennt. In dem zweiten Band „Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben“ befreit er den leibhaftigen Teufel aus einem Käfig, bis er merkt, dass dieser ihm seine Frau ausspannt. Aber Chinaski schlägt selbst dem Teufel ein Schnippchen. „Ich interessiere mich mehr für Perverse als für Heilige“, schreibt er, „Ich kann relaxen in Gesellschaft von Pennern, denn ich bin selber einer. Ich habe nichts übrig für Gesetze, Moral, Religion, Vorschriften. Ich mag mich nicht von der Gesellschaft trimmen lassen.“ Mit Worten wie diesen machte Charles Bukowski sich in den Siebzigern zum Anti-Helden einer ganzen Generation. Er erzählt von seinen Lesereisen und was Dylan Thomas umgebracht hat. Oder steigt mit Ernest Hemingway in den Ring. Innerhalb eines Absatzes schreibt er sich vom Grashüpfer zum unbestrittenen King, um dann wieder in Selbstmordgedanken zu versinken. Oft geht er mit dem Gefühl ins Bett, das alle Säufer kennen, schreibt er an einer Stelle: „Ich hatte mich lächerlich gemacht, aber zum Teufel damit.

Charles Bukowski
Pittsburgh Phil und Co. Stories vom verschütteten Leben
Zusammengestellt und ins Deutsche übertragen von Carl Weissner
ISBN: 978-3-423-12391-4
dtv
7,90 EURO

Charles Bukowski, Carl Weissner (Hrsg.)
Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben
Zusammengestellt und ins Deutsche übertragen von Carl Weissner
ISBN: 978-3-423-10188-2
dtv
8,90 EURO


Genre: Feminismus, Literatur, Short Stories
Illustrated by dtv München

Da sind wir

Rhetorische Floskel

Eigentlich sollte der Bestseller «Ein Festtag» sein letzter Roman bleiben, drei Jahre später nun ist vom britischen Erfolgsautor Graham Swift mit «Da sind wir» erneut ein Kurzroman erschienen, in dem er sein Zentralthema des Erinnerns aus anderen Blickwinkeln und in einem anderen Milieu nochmals aufgreift. Wie beim Vorgänger handelt es sich hier eher um eine Novelle, es ist nämlich eine ‹unerhörte Begebenheit› im Sinne Goethes, auf die diese neue Geschichte hinsteuert, was im Milieu des Varietés mit einem Zauberer als Held schon fast vorgezeichnet scheint. Ein weiteres literarisches Highlight?

Jack und Ronnie gelingt nach ihrer gemeinsamen Militärzeit der Sprung ins Showbusiness, sie bekommen 1959 im mondänen Seebad Brighton ein Engagement in einer berühmten Bühnenshow auf den Piers. Jack, der dort als Entertainer arbeitet, holt seinen Freund Ronnie erstmals als Zauberer auf die Bühne, und der verpflichtet als publikumswirksame Ergänzung für seine Show eine attraktive Assistentin. Die Drei haben großen Erfolg, sie ergänzen sich optimal, Ronnie und Evie rücken als ‹Pablo und Eve› immer mehr ins Rampenlicht, sie reüssieren als Zugnummer ihres Theaters, werden schon bald ein Paar und verloben sich. Bis passiert, was passieren muss in solcherart Konstellation, der berüchtigte Womanizer Jack bekommt Evie schließlich doch ins Bett, und völlig überraschend ist es für Beide die große Liebe. Sie heiraten, und ihre Ehe hält schließlich bis zu Jacks Tod fünfzig Jahre später. Ronnie aber ist damals, während seines letzten Auftritts, wie von Zauberhand spurlos von der Bühne verschwunden und blieb trotz intensiver polizeilicher Nachforschungen für immer unauffindbar.

Geschickt verknüpft Graham Swift in diesem neuen Roman das Schicksal seines Helden mit dem historischen Geschehen des Zweiten Weltkriegs. Wegen der ständigen Bombardierungen Londons musste der achtjährige Junge von seiner Mutter zu Pflegeeltern aufs Land evakuiert werden und wurde bei einem wohlhabenden, kinderlosen Ehepaar liebevoll großgezogen. Sein Pflegevater war vor dem Krieg ein erfolgreicher Zauberer gewesen, hat auch ihn für seine Kunst begeistern können und dem Pflegesohn bei seinem frühen Tod eine größere Summe hinterlassen. Die konnte Ronnie schließlich als unbedingt erforderliches Startkapital für seine eigene Bühnenshow mit Evie einsetzen. Mit einem melancholischen Grundton erzählt der Autor vom Leben im Varieté, das damals seinen beginnenden Niedergang erlebte, von Ronnies freudloser Kindheit und den glücklichen Jahren bei den Pflegeeltern.

Dabei springt er in diversen Rückblenden in die Vorgeschichte seiner Figuren zurück, erzählt seinen Plot zudem in stark fragmentierter Form und benutzt zuweilen das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers, was im Zusammenspiel mit Zauberei und Magie nicht wenig zur Verunsicherung des Lesers beiträgt. Seine Figuren wirken wenig empathisch und entsprechen diversen gängigen Klischees, vom draufgängerischen Frauenschwarm Jack über die kühl berechnende und leicht zu erobernde Evie in ihrem Glitzerkostüm bis zum hochsensiblen Zauberkünstler Ronnie, der sich seine treulose Verlobte kommentarlos ausspannen lässt. Zu den häufig verwendeten Metaphern im Roman zählt der Spiegel als trügerisches Symbol oder der bunte Papagei als krasser Gegenpol zur weißen Taube als dem typischen Überraschungstier beim Zaubern. Wenig erhellend sind auch die Erinnerungen der fünfundsiebzigjährigen Evie, die ein Jahr nach dem Tod von Jack, der mit ihr als seiner Managerin erfolgreich Karriere im Showbusiness gemacht hatte, immer wieder von Ronnie phantasiert. Der könne jeden Moment zur Tür hereinkommen, als Wiedergänger quasi. Gleiches denkt sie auch von ihrem toten Mann, derartige Illusionen begleiten sie also noch auf ihre alten Tage. «Hier sind wir» mag als rhetorische Floskel beim selbstbewussten Auftritt auf der Bühne funktionieren, dieser Roman jedoch kann mit dem Niveau seines Vorgängers nicht annähernd mithalten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Bukowskis Jugendjahre

Bukowskis Jugendjahre. „Für alle Väter“ lautet die Widmung, die Charles Bukowski, der im August dieses Jahres 100 Jahre alt werden würde, seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen voranstellt. Denn Bukowski ist nicht nur der Autor zahlreicher Gedichte und Short Stories, sondern auch von einigen Romanen.

Bukowski: Class of `39

„Post Office“, sein Romandebüt widmete sich seiner einzigen festen Anstellung bei der amerikanischen Post. In „Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend“ geht Charles Bukowskis aber noch weiter in seinen Erinnerungen zurück, nämlich bis in seine Jugend im Amerika der 20er und 30er Jahre. Sein Vater, der jeden Morgen pünktlich das Haus verlässt, damit die Nachbarn nicht merken, daß er arbeitslos ist, war von der oben angeführten Zueignung und Widmung wohl ausgeschlossen. „Die rohe Gewalt, die in ihm rumorte, verscheuchte alles andere.“ Denn er züchtigte seinen Sohn Charles mit dem Lederriemen und verursachte damit wohl genau jene Entzündungen, die später als eitrige Akne ausbrachen und Bukowski damit sein Leben (oder zumindest seinen Körper) versauten. Aber so schlecht war dieses Leben nicht mehr, zumindest ab dem Zeitpunkt als er sein Elternhaus verließ. Genau über die Zeit davor handelt der vorliegende autobiographische Roman.

„Fump, fump, fump,fump …“

Bukowski nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Er spricht über Tabus, damit auch andere sich trauen, darüber zu reden. Seine Worte machen Mut und lösen eigene Erinnerungen aus, die vielleicht ebensolche Traumata auslösten. In der Schule war er noch ein Sportass, aber bald verlässt ihn der Ehrgeiz, da er schon früh anfängt zu trinken. „Das hier machte das Leben zu einer reinen Freude. Es machte einen Mann unerschütterlich und unangreifbar“, schreibt er über seinen ersten Rausch, bei dem er sich an Weinfässern des Vaters eines Mitschülers bediente. „So wohl war mir noch nie gewesen. Es war besser als Onanieren.“ Bukowski war noch keine 14. Bei der Beschreibung einer Tätigkeit eines anderen Mitschülers während des Unterrichts, bedient sich Bukowski auch der Lautsprache: „Fump, fump, fump,fump …“ lautet sein Kommentar zu den Beinen von Mrs. Gredis. Eine Parallelmontage der ganz anderen Art. Aber Bukowski zeigt auch viel Gefühl, etwa wenn er seine Beziehung zu der Krankenschwester beschreibt, die ihm seine Pusteln ausbrannte, Miss Ackermann. Aus seinem ersten McJob wird er wegen einer Schlägerei rausgeschmissen, aber mit der Pünktlichkeit hatte er es damals schon nicht so genau genommen. Seine ersten Tage als Student werden ebenso angeschnitten, wie seine Entscheidung nicht in den Krieg zu ziehen. Die Class of `39 war nämlich trotz Pearl Harbor schon pazifistisch gesinnt, obwohl `68 noch weit entfernt war.

Charles Bukowski wusste wohl damals schon, dass er sich ein Leben lang als Außenseiter durchschlagen muss. Nach weiteren McJobs als Tankwart, Schlachthof- und Hafenarbeiter (und natürlich als Postmann) starb Bukowski am 9. März 1994 in San Pedro/LA.

Charles Bukowski

Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Roman

dtv Allgemeine Belletristik
Aus dem amerikanischen Englisch von Carl Weissner
2007, 352 Seiten, Softcover

ISBN 978-3-423-20963-2
10,95 EURO

dtv


Genre: Autobiografie, Roman
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Die toten Seelen

Originelle Grundidee

Nicolai Gogol steht in vorderster Reihe jener Schriftsteller, die in der nach-napoleonischen Zeit eine eigenständige russische Literatur geschaffen haben. Sein Hauptwerk «Die toten Seelen» blieb unvollendet, von den ursprünglich geplanten drei Teilen des Romans ist nur der erste fertig geworden, der zweite ist fragmentarisch erhalten. Gogol gilt als bedeutendster Vertreter der literarischen Groteske, er wurde darin besonders von Puschkin gefördert, der ihn auch zu diesem Werk angeregt hat, das 1842 erstmals erschienen ist und seither zu den Klassikern der Weltliteratur zählt.

Sein Protagonist ist Pawel Tschitschikow, ehemals ein kleiner Beamter, der sich durch Fleiß und Umsicht nach oben gearbeitet hat. In seiner letzten Position beim Zoll hatte er sich als unbestechlicher Kämpfer gegen die weitverbreitete Korruption im Zarenreich profiliert. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst reist er zu Beginn des Romans mit seinen zwei Leibeigenen, dem treuen Diener und dem Kutscher, von Gutshof zu Gutshof, um seine geniale Geschäftsidee in die Tat umzusetzen. Die auf den Gutshöfen arbeitenden Bauern und Handwerker waren allesamt Leibeigene, die quasi als lebendes Inventar ebenso zum Besitz dazugehörten wie die Ländereien und Gebäude. Sie stellten einen Wert an sich dar, konnten also je nach Bedarf hinzugekauft oder verkauft werden. Jeder Gutsherr musste entsprechend einer alle fünf Jahre neu erfolgenden Zählung eine Kopfsteuer für diese sogenannten ‹Revisionsseelen› entrichten. Tschitschikow nun will den Gutsherren alle ihre inzwischen verstorbenen Leibeigenen abkaufen, nur tote Seelen also, was überall großes Erstaunen auslöst. Aber weil mit dem notariellen Kaufvertrag die jährlichen Abgaben des Gutsherrn für die verkauften Leibeigenen wegfallen, sind sie letztendlich doch oft bereit zu diesem ebenso ominösen wie vertraulichen Geschäft, dessen Hintergründe niemand wirklich durchschaut. Am Ende schließlich kauft sich Tschitschikow dann auch noch spottbillig einen maroden, weit abgelegenen Gutshof. Durch seine inzwischen mehrere hundert nur auf dem Papier existierenden Leibeigenen aber, die er vorgeblich dort ansiedeln wird, ist das Gut inklusive Gesinde plötzlich sehr viel wert. Dementsprechend könnte es nun auch sehr hoch beliehen werden, – so sein erst im Verlauf der Geschichte allmählich deutlicher werdendes Kalkül!

Schamlos übertreibend schildert Gogol in seinem Erfolgsroman die groteske Geschichte eines ebenso gerissenen wie lebenshungrigen Mannes, der durch sein konziliantes Auftreten bei den allesamt vertrottelten, geltungssüchtigen Honoratioren der Stadt schnell hohes Ansehen gewinnt und viele nützliche Kontakte knüpft. Nacheinander werden dann in weiteren Kapiteln ebenso verschiedene Gutsherren vorgestellt, die jeder für sich einen skurrilen Typen aus der dekadenten gesellschaftlichen Mittelklasse verkörpern. Bis auf wenige Ausnahmen werden sie als arbeitsscheu beschrieben, sie kümmern sich nicht um ihr Landgut, sondern frönen gelangweilt dem Müßiggang. Insoweit ist dieser Roman eine Anklage, aber auch eine karikaturartige Verhöhnung der erstarrten, maroden Gesellschaft im zaristischen Russland, die aber seinerzeit dennoch, erstaunlicherweise auch bei den betreffenden sozialen Schichten, literarisch viel Anklang fand.

Der Roman glänzt, neben mitreißenden Naturbeschreibungen, insbesondere durch sein anschaulich beschriebenes, vielköpfiges Figurenensemble, bei dem die Beamten nur Randfiguren darstellen. Die Gutsbesitzer hingegen werden in breit angelegten, detaillierten Lebensbeschreibungen als Müßiggänger geschildert, unter denen sämtliche Laster vertreten sind, Fresssucht, Alkoholismus, Geltungssucht und ausgeprägter Despotismus. Sie wirken allesamt statisch, als dynamisch sich entwickelnde Figur ist lediglich Tschitschikow dargestellt. Mit gewissen Längen altväterlich erzählt ist dieser amüsante satirische Roman mit seiner originellen Grundidee gleichwohl eine unterhaltsame Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Elixiere des Teufels

Klösterliche Identitätssuche

Der erste Roman des vielseitig begabten E.T.A. Hoffmann, der erfolgreich als Jurist, Schriftsteller, Kapellmeister, Komponist und Zeichner tätig war, gilt als eines der bedeutendsten literarischen Werke der Schwarzen Romantik. In zwei Teilen 1815/16 erschienen, hat diese fiktive Autobiografie eines Kapuzinermönches zunächst eine sehr zwiespältige Aufnahme gefunden. Goethe nannte, als Sprachrohr quasi für die breite Ablehnung in der Wissenschaft, den Autor einen «krankhaft Verirrten» und warnte ausdrücklich vor der Wirkung seiner verderblichen Phantasie. Hebbel hingegen lobte in seinem Tagebuch den Roman als «ein höchst bedeutendes Buch», das eine eigene Gattung begründe. Wie auch immer, sein Status als Klassiker der Weltliteratur wird auch nach zweihundert Jahre eindeutig bestätigt durch regelmäßige Neuauflagen, die das anhaltende Interesse der Leser widerspiegeln, meines eingeschlossen!

Franz findet nach einer glücklichen Kindheit Aufnahme in einem Kapuzinerkloster, nimmt dort den Namen Medardus an und wird wegen seiner beispielhaften Frömmigkeit mit der Verwaltung der Reliquien betraut, unter denen sich auch ein Elixier befindet, das vom heiligen Antonius stammen soll. Er wird zudem weithin berühmt für seine aufwühlenden Predigten, was ihn bald hochmütig werden lässt. Als nun eines Tages die schöne Aurelie, die dem Bildnis der heiligen Rosalia in der Kapelle zum Verwechseln ähnlich sieht, ihm im Beichtstuhl ihre Liebe gesteht, stürzt der fromme Mann in einen verheerenden Strudel von leiblicher Begierde und quälenden Schuldgefühlen. In seiner Verzweiflung trinkt er von dem Teufelselixier, er will Aurelie unbedingt wiederfinden. Als der Abt aber seinen inneren Zwiespalt bemerkt, schickt er ihn kurzerhand mit einem Auftrag nach Rom.

Was folgt ist eine verwirrende Geschichte mit vielen Figuren, von denen sich nach und nach herausstellt, dass die meisten entfernt verwandt sind mit Bruder Medardus. Wobei sein Ururgroßvater Francesco der Maler, der auch öfter mal als Untoter im violetten Mantel erscheint, durch eine teuflische Buhlschaft schwere Schuld auf sich geladen hat, ein in der väterlichen Linie weitervererbtes Verhängnis, das auch auf ihn selbst fällt. In einem nebulös zwischen Traum und Wirklichkeit wechselnden Geschehen begegnen ihm auf seinen Wanderungen die wundersamsten Menschen. Zu denen gehört auch sein wahnsinniger Doppelgänger, der fortan, in buntem Wechsel mit ihm, kaum unterscheidbar als Protagonist des Romans fungiert. Als Tochter eines Schlossherrn findet er auch Aurelie wieder, schließlich aber verführt ihn deren lüsterne Stiefmutter. Sein teuflischer Doppelgänger schlüpft in die Rolle des Grafen Viktorin, vormals Liebhaber der Schlossherrin, und ermordet sie.

Wir lesen als Buch die Aufzeichnungen des Bruders Medardus, E.T.A. Hoffmann versteckt sich in seinem virtuosen Plot hinter der Rolle des Herausgebers, ein typisches Merkmal dieses Romans. Denn auch der Mönch erfährt vieles aus seiner eigenen Lebensgeschichte nur durch Berichte anderer, zu denen vor allem aufgefundene Schriften des Malers gehören, die seine Triebhaftigkeit als Erbschuld aufzeigen. In einer barock ausgeschmückten Sprache wird hier von Wiedergängern und Nebelgestalten berichtet, von wundersamen und grausigen Erscheinungen, von tiefster Frömmigkeit und Selbstgeißelung. Die zum Teil lustigen Figuren sind allesamt sehr anschaulich beschrieben, ihre Dialoge werden in einer überhöhten Kunstsprache geführt, die blumenreich, aber mit gedanklicher Tiefe, das irrlichternde Geschehen vorantreiben. Natürlich ist all das nicht nur sprachlich abgehoben von der schnöden Lebensrealität, alles scheint sich total durchgeistigt in höheren Sphären abzuspielen. Selbst der Kampf des Protagonisten mit seinem teuflischen Doppelgänger findet zumeist rein gedanklich im tiefsten Inneren statt. Die verzweifelte Suche des Kapuziners nach seiner wahren Identität ist auch stilistisch als bereichernde Lektüre durchaus zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Erzählungen

Augenzwinkern inklusive

In Russland gilt Alexander Puschkin als der Nationaldichter par excellence, mit seinem Œuvre war er stilbildend als Wegbereiter der nach 1812 statt in französisch zunehmend in Landessprache geschriebenen Literatur, zugleich aber auch Vorbild für viele andere berühmte Dichter des Landes. Als Lyriker, dessen bedeutendste Werke als Versepen geschrieben sind, wandte er sich erst sieben Jahre vor seinem frühen Tod beim Duell der Prosa zu und leitete damit die Wende von der Romantik zum Realismus ein. Er hat nur drei Romane geschrieben, davon sind zwei unvollendet geblieben, wesentlich bekannter aber sind seine Erzählungen. In der vorliegenden dtv-Ausgabe «Erzählungen» von 2017 sind alle enthalten, die er selbst vollendet hat, ferner auch die drei Romane, von denen zwei nur Fragmente sind.

Puschkins Urgroßvater Ibrahim, ein Kriegsgefangener aus dem äthiopischen Adel, der vom Zaren adoptiert worden war und am Hof Karriere machte, hat ihn zu dem unvollendeten Roman «Der Mohr Peters des Großen» inspiriert. Als Peter I. für ihn die Ehe mit einem adligen Fräulein arrangiert, bricht für das Mädchen eine Welt zusammen, obwohl an dem klugen, sympathischen, blendend aussehenden Bräutigam alles stimmte, – nur eben die Hautfarbe nicht. Der Ausbruch einer Cholera-Epidemie zwang Puschkin Ende 1830 zu einer dreimonatigen Quarantäne auf seinem Landgut, er nutzte die Zeit dort unter anderem, um «Die Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin» zu schreiben. Er selbst schlüpft bei diesen fünf Erzählungen ironisch in die Herausgeber-Rolle und berichtet in «Der Schuss» von einem äußerst seltsamen Duell zweier Offiziere. «Der Schneesturm» handelt von einer tragisch-komischen Eheschließung, an deren kuriosem Ausgang das Wetter schicksalhaft beteiligt ist. Zur Einweihung seines neuen Hauses lädt «Der Sargschreiner» im Suff alle von ihm Beerdigte ein. In «Der Postmeister» brennt dessen schöne Tochter mit einem durchreisenden Husaren durch. «Fräulein Bäuerin» wiederum handelt von der Liebe zwischen der Tochter eines Gutsbesitzers und dem Sohn aus einem verfeindeten Nachbarngut, gegenüber dem sie sich als Magd ausgibt. Landesverrat und eine politisch unmögliche Liebe sind Thema des Prosa-Fragments «Roslawlew», im unvollendeten Räuberroman «Dubrowskij» eskaliert der Streit zwischen benachbarten Gutsbesitzern zu einer Katastrophe. Ein Ich-Erzähler berichtet in dem spannenden historischen Roman «Die Hauptmannstochter» vom Pugatschow-Aufstand, in «Pique Dame» ist die Spielsucht das Thema, in «Kirdshali» wird die Geschichte eines berüchtigten Räubers während des Russisch-Osmanischen Krieges erzählt. Kleopatra schließlich bietet sich in «Ägyptische Nächte» jedem Manne für eine heiße Liebesnacht an und verlangt dafür nicht weniger als seinen Tod am nächsten Morgen!

Stilistisch ist Puschkins Prosa durch eine straffe, dialogarme, zielgerichtete Erzählweise gekennzeichnet, die völlig unprätentiös und mit einer fein durchscheinenden Ironie das Milieu schildert, aus dem er selbst stammte, Adel und Gutsherren also. Seine durchweg sympathischen Figuren sind anschaulich beschrieben, die Männer meistens als ehemalige Offiziere, die Damen als gelangweilte Hausherrin oder Tochter in heiratsfähigem Alter. Ehen werden von den Eltern standeskonform arrangiert, was oft zu Dramen führt, wegen meist unüberwindbarer Standesgrenzen aber letztendlich doch folgsam hingenommen wird.

«Der gebildete Leser weiß, dass Shakespeare und Walter Scott ihre Totengräber als fidele Possenreißer geschildert haben», heißt es in Puschkin Geschichte zu diesem Thema, an anderer Stelle lesen wir: «Sie dachte… aber lässt sich denn mit Sicherheit sagen, woran ein siebzehnjähriges Mädchen denkt, das am frühen Morgen um sechs im Walde mit sich allein ist?» Es ist dieses Augenzwinkern, das seine Figuren zuweilen sogar real zeigen, welches diese vom Plot her überaus kunstvoll angelegten Erzählungen zu einer ebenso unterhaltsamen wie bereichernden Lektüre machen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
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Wolfsblut

Jack London (1876-1916) hat sich vor allem in der älteren Generation einen Namen gemacht. Aber auch unter  jüngeren Lesern ist er bekannt, da sein Werk regelmäßig neu übersetzt oder verfilmt wird. London ist der Abenteuerschriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Romane stets eine psychologische wie philosophische Dimension beinhalten (zu denen insbesondere Marx, Darwin und Nietzsche ihn inspirierten). Leider verkannten ihn die deutschen Verlage, da ihn hierzulande ein ähnliches Schicksal ereilte wie beispielsweise Mark Twain, der zum Jugendbuchautor degradiert wurde. Weiterlesen


Genre: Abenteuerroman
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Väter und Söhne

Wo er recht hat, hat er recht

Iwan Turgenjew, wichtigster Vertreter des russischen Realismus, hat sechs Romane geschrieben, «Väter und Söhne» von 1861 ist sein bekanntester. Im gleichen Jahr endete in Russland die mehr als zweihundertjährige Periode der Leibeigenschaft, deren Auswirkungen in diesen Klassiker thematisch bereits ebenso hineinspielen wie die zeitlosen Motive ‹Generationenkonflikt› und ‹Irrungen und Wirrungen der Liebe›. Wie bereits der Buchtitel verdeutlicht, greift der Autor ein ewiges Thema der Menschheit auf, wobei die gesellschaftlichen Konflikte hier zwischen den Vätern als unbeirrt Slawophile und den Söhnen als westlich beeinflusste Nihilisten ausgetragen werden. Von beiden, den hartnäckigen Bewahrern der patriarchalischen Ordnung als auch von den demokratisch orientierten Neuerern wurde Turgenjew damals so heftig kritisiert, dass er sein Vaterland verlassen hat, er ist fast dreißig Jahre später in seinem Haus nahe Paris gestorben.

Arkadi, Sohn des Gutsherrn Kirsanow, und Jewgeni, Sohn des ehemaligen Militärarztes Basarow, besuchen erstmals nach langen Jahren des Studiums in Sankt Petersburg das Gut von Arkadis Vater auf einem abgelegenen Landstrich. Der charismatische, hoch talentierte Jewgeni, der später mal ganz bescheiden Landarzt werden will, wird von Arkadi wegen seiner außergewöhnlichen Intelligenz grenzenlos bewundert. Als radikaler Nihilist und Menschenfeind lehnt Jewgeni sämtliche tradierten Werte, zu denen er Gehorsam, Pflichterfüllung, Moral, Sitte, aber auch die Liebe rechnet, prinzipiell als total unwissenschaftlich ab. Mit seinen revolutionären Ideen stößt der renitente Gast natürlich auf heftigen Widerspruch der konservativen Vätergeneration. «Ein ordentlicher Chemiker ist zwanzigmal wertvoller als der beste Poet» ist eine von seinen provokanten Thesen. Damit ruft er insbesondere auch den Widerspruch von Arkadis Onkel Pawel hervor, ein aristokratischer Bonvivant alter Schule und ehedem erfolgreicher Frauenheld, der ebenfalls auf dem Landgut seines Bruders lebt. Die Streitereien zwischen Gast und Onkel eskalieren letztendlich sogar in einem Duell, für das eine missverstandene Szene mit der Magd Fenetschka ursächlich ist, die von Arkadis verwitwetem Vater ein Baby hat. Der schüchterne Arkadi bandelt schließlich mit Katia an, der jüngeren Schwester von Anna, einer früh verwitweten Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft. Jewgeni wiederum hat sich in eben diese kluge, lebenserfahrene Anna verliebt, ganz gegen seine erklärten Prinzipien, zu denen die Ablehnung jeder Form von Romantik gehört. Sie aber stürzt ihn, weil sie ihn kühl zurückweist, in verheerende innere Konflikte, an denen er seelisch zerbricht.

Dieser dramatische Generationen-Konflikt ist ein faszinierendes Epochengemälde aus der Mitte des 19ten Jahrhunderts, dessen lebensprall gezeichnete Figuren die damalige russische Gesellschaft anschaulich widerspiegeln, sie agieren zudem in absolut logischen Verhaltensmustern. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei der überhebliche, oft ausgesprochen unfreundliche, aber eben auch äußerst intelligente Jewgeni Basarow ein, der archetypische Exponent einer neu angebrochenen Zeit. Die Liebe als zweite Ebene der Geschichte wird von den für Turgenjew so charakteristischen schönen und klugen Frauengestalten beherrscht, die mit viel Charme und List manche kühnen Ideen und hehre Gedanken ad absurdum führen und hier auch die angemaßte Überlegenheit der jungen Männer als solche entlarven.

Mit der vorliegenden Neuübersetzung von 2017 ging nicht nur eine überzeugende sprachliche Auffrischung des Textes einher. Dieser dtv-Band ist auch im Layout geradezu mustergültig gestaltet, sein kompetentes Nachwort und der äußerst hilfreiche Anmerkungsapparat tragen zudem entscheidend mit bei zum Verständnis und damit zum ungetrübten Lesegenuss. Nicht von ungefähr gehörte dieser Roman ja zu jenen unverzichtbaren Büchern, die Thomas Mann auf eine einsame Insel mitgenommen hätte, – wo er recht hat, hat er recht!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Oblomow

Schlafrock-Existenz als Allegorie

In der russischen Literatur verkörpert die Titelfigur in Ivan Gontscharows 1859 erschienenen Roman «Oblomow» archetypisch den ‹überflüssigen Menschen›, jener auch schon bei Puschkin und Lermontow thematisierten Leitfigur aus dem patriarchalischen Landadel. Mit diesem provozierenden zweiten Roman, dessen berühmtes neuntes Kapitel mit sensationellem Erfolg schon vorab veröffentlicht wurde und an dem er dann aber noch volle zehn Jahre lang gearbeitet hat, wurde der Schriftsteller schlagartig berühmt und sicherte sich seinen Platz im Olymp der Weltliteratur. Er wurde allein achtmal ist Deutsche übersetzt, zuletzt wahrhaft kongenial von Vera Bischitzky in der neuen Ausgabe von 2014. Als Oblomowerei bezeichnet man inzwischen eine infantile, phlegmatische Geisteshaltung des absoluten Nichtstuns, welche der introvertierten Weltsicht des saturierten russischen Adels jener Zeit zu entsprechen schien.

Von dienstbaren Geistern umschwirrt wächst Oblomow im weitab gelegenen Landgut seiner Eltern, zu dem auch das gleichnamige Dorf mit 300 Leibeigenen gehört, als total verhätscheltes Kind auf und wird privat bei einem deutschen Lehrer unterrichtet. Er besucht die Universität und nimmt in Sankt Petersburg eine Stelle als Beamter an, die er aber bald schon aufkündigt, weil ihm die ständige Arbeiterei zuviel wird. Künftig lebt er, betreut von seinem Diener, faul und genügsam von den Einkünften des ererbten Landgutes und versinkt rasch in eine lähmende, träumerische Lethargie. Deren Gipfelpunkt ist, neben opulentem Essen, der ausgedehnte, tägliche Mittagsschlaf. Alle Pflichten aber schiebt der Dreißigjährige ständig vor sich her, lässt sich naiv gutgläubig von sogenannten Freunden finanziell ausnehmen und gerät immer mehr in eine prekäre Lage. Andrej Stolz, sein bester Freund, erfolgreicher Sohn seines ehemaligen Privatlehrers, versucht ihn zwar unermüdlich aus seiner Passivität zu locken, er hilft ihm auch tatkräftig bei der Besorgung seiner unerledigter Angelegenheiten, kann aber letztendlich auch nichts ausrichten gegen sein unsägliches Phlegma. Seine erste Liebe zu der quirligen Olga scheitert schließlich ebenfalls an dieser ewigen Lethargie, er selbst erkennt sein unentschuldbares, antriebsloses Verhalten und schreibt ihr einen selbstkritischen Abschiedsbrief. Einige Jahre später heiratet er seine einfältige Haushälterin, die sich immer aufopfernd um ihn gekümmert hat und eine hervorragende Köchin ist (sic), bekommt einen Sohn und stirbt dann sehr früh.

Fressen und Faulenzen als Lebensinhalt wirft existenzielle Fragen auf, die Ivan Gontscharow in seinem Roman mit dem Gegenpart des strebsamen deutschen Freundes kontrastiert. Die Hamlet-Frage wird von Oblomow überdeutlich – durch konkludentes Nicht-Handeln – mit ‹Nichtsein› beantwortet, er will nur seine Ruhe und Bequemlichkeit und ist dafür zu fast jedem Verzicht bereit. Diese konservative Absage an jedwede Veränderung fußt allerdings auf den üppigen Privilegien des Adels, der die Leibeigenen schamlos ausbeutet und ein parasitäres Leben führt. Der Interpretation dieses grandiosen Romans sind kaum Grenzen gesetzt, man kann ihn als amüsante Allegorie auf die Schlafrock-Existenz eines notorisch passiven Tagträumers deuten, eines ewigen Zauderers, der dem Fatum durch Nichtstun zu entfliehen sucht, als Sonderform des Eskapismus also, aber auch als psychiatrische Anamnese im Teufelskreis zwanghaften Nichtstuns.

Die gedankliche Tiefe dieses Jahrhundertromans ist phänomenal, bis in die feinsten Verästelungen hinein wird hier der Sinn des Lebens skeptisch hinterfragt, und in diesem Kontext wird vor allem auch das Phänomen der Liebe in einer universellen Sichtweise thematisiert. Sprachlich überzeugend und konstruktiv genial angelegt bietet dieser Roman ungetrübten Lesegenuss. «Oblomowerei», was ist denn das, fragt ein beleibter, namenloser Literat (wer wohl?) seinen Freund Andrej Stolz ganz am Ende erstaunt: «Und er erzählte ihm, was hier geschrieben steht»!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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