Das Blutbuchenfest

Unselige Allianz von Schicksal und Zufall

Der Schriftsteller Martin Mosebach hat 2014 mit seinem Roman «Das Blutbuchfest» das Scheitern thematisiert, im Privaten ebenso wie im Politischen. Schon bei der Verleihung des Büchnerpreises 2007 sprach sein Laudator Navid Kermani vom Geist des Cervantes, den sein Werk atme. Als Literat wurde Mosebach vom Feuilleton stilistisch teilweise herb kritisiert für seinen «gespreizten Schmuckstil», andere sprachen entzückt von einem «Geniestreich» oder vom «souveränen Meisterwerk», – also was denn nun?

Zeitlich zu Beginn der Balkankriege angesiedelt, wird die Geschichte einer in Frankfurt beheimateten Clique illustrer Figuren aus dem Mittelstand erzählt, deren charismatische Hauptakteure zwei ganz unterschiedliche Veranstaltungen planen, eine davon ist das titelgebende «Blutbuchenfest». Ein finanziell abgebrannter, zwielichtiger Werbe-Guru kommt auf die grandiose Idee, seine ausufernden Geldsorgen auf einen Schlag durch ein groß aufgezogenes Fest für die Schickimicki-Gesellschaft loszuwerden, mit raffinierter Promotion und aggressivem Vertrieb. Gastgeber soll Dr. Glück sein, ein dem Alkohol zugeneigter, alleinstehender Bankvorstand mit einer riesigen Altbauwohnung, zu der auch ein schöner Garten gehört, in dessen Mitte der mächtige, rotlaubige Baum steht. Ich-Erzähler dieser Geschichte ist in weiten Teilen ein promovierter, arbeitsloser Kunsthistoriker Mitte dreißig. Ein gut vernetzter, exaltierter Veranstalter, der einen Kongress zum Thema «Menschenwürde im Blick der Balkankultur» plant, beauftragt ihn, ein Exposé für die als Begleitprogramm vorgesehene Ausstellung mit Werken des bosnischen Bildhauers Ivan Mestrovic zu schreiben.

Zu diesen Figuren, die sich in wechselnder Besetzung fast täglich im Restaurant Merzinger einfinden, gesellt sich ein vom Konkurs wieder auferstandener Immobilienhai hinzu, ferner die umtriebige Managerin einer PR-Agentur, eine ehemalige Modeschöpferin, eine männermordende Traumfrau sowie eine flatterhafte, zerbrechliche Assistentin, in die sich der Ich-Erzähler verliebt. Die zentrale Verknüpfung dieses beruflichen und privaten Netzwerks bildet Ivana, eine für sie alle tätige, bosnische Putzfrau, deren Schicksal als weiterer Handlungsstrang auch ihre bäuerliche Familie in Bosnien mit einbezieht. Genüsslich beschreibt Martin Mosebach in diesem satirischen Gesellschaftsreigen seine Frankfurter Protagonisten als lebensgierige Wohlstandsbürger mit Ecken und Kanten, deren maßlose Egozentrik nicht über ihre charakterlichen und seelischen Defizite hinwegzutäuschen vermag. Dieser zügellosen Wohlstandsclique stellt er mit Ivana eine tatkräftige, grundehrliche junge Frau als Kontrast gegenüber, die dann, selbst vom Schicksal schwer gebeutelt, auch noch miterleben muss, wie am Ende ihre vom Balkankrieg überraschte Familie auf der überstürzten Flucht all ihr bescheidenes Hab und Gut verliert. Scheitern tun aber mangels Spender auch der großkotzig geplante Kongress sowie das als glamouröses Event angekündigte Blutbuchenfest, letzteres endet in einem unsäglichen Chaos.

In einem etwas altväterlichen Stil wird hier wortmächtig und eindringlich eine kunstvoll inszenierte Parabel des Scheiterns erzählt, ein Vanitas-Motiv mithin, dessen Figuren lebensprall ausgeformt sind. Dabei gerät der Autor oft ins Fabulieren, schmückt seinen komplexen Plot unbekümmert mit irrealen Details aus, so wenn zum Beispiel die Liebste des Ich-Erzählers am Laptop arbeitet oder Ivana per Handy telefoniert, – für 1991/92 ein bewusster Anachronismus, wie der Autor erklärte. Er lässt den umtriebigen Werbe-Fuzzi sogar zu sechs Raben sprechen, Unglücksboten also, die ihm unter der Blutbuche interessiert zuhören. Die unselige Allianz von Schicksal und Zufall wird hier äußerst wirkungsvoll am Kontrast zwischen saturierter Spaßgesellschaft und archaischem Balkanleben gespiegelt, üppig gespickt zudem mit vielerlei kontemplativen Einschüben, eine insgesamt ebenso bereichernde wie unterhaltende Lektüre!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der letzte Grieche

Grieche trifft Schwedin

Mit dem 2011 erschienen Roman «Der letzte Grieche» hat der Schriftsteller Aris Fioretos nicht nur ein bemerkenswertes Buch über Migration vorgelegt, sondern auch das drei Generationen umfassende Familienepos einer griechischen Familie. Der in Schweden geborene Professor für Literatur-Wissenschaft mit griechischem und österreichischen Wurzeln schreibt auf Schwedisch, weil seine Kindersprache, wie er erklärt hat, ihn durch Erinnerungen und Erfahrungen sprachlich am nachhaltigsten geprägt hätte.

Flüchtlingskrisen, wie wir sie heute in Europa erleben mit ihren gravierenden politischen Verwerfungen, deren Schatten dieser Tage bis zum Wahlchaos im thüringischen Landtag reichen, ereigneten sich als Folge des türkisch-griechischen Krieges auch 1922. Aus Smyrna, dem heutigen Izmir, wurden damals alle griechischen Einwohner von den siegreichen Türken brutal vertrieben. Die Großmutter des Protagonisten Jannis flieht vor dem Massaker mit ihrer Rest-Familie in das armselige Bergdorf Áno Potamiá in Makedonien. Ihr Enkel muss dort als Kind die Ziegen hüten, findet später keine Arbeit und wandert, nachdem er sich beim Pokern total verzockt hat, 1967 als Gastarbeiter nach Schweden aus, wo er sehr freundlich von einem griechischen Arzt aufgenommen wird. Der gewährt ihm fürs erste Kost und Logis in seinem Haus und unterstützt ihn nach Kräften. Jannis verliebt sich prompt in das toughe Kindermädchen seiner Gastgeber und hilft später seinem sehnlichen Kinderwunsch etwas nach, indem er das unabdingbare Kondom mit einer Nadel aufsticht, – eine Missetat, die nicht folgenlos bleibt.

Der Autor etabliert einen fiktiven Herausgeber namens Aris Fioretos, dem aus einem Nachlass ein Holzkasten mit hunderten von Karteikarten zugefallen sei, aus der Sammlung sollte einmal ein Ergänzungsband für die «Enzyklopädie der Auslandsgriechen» entstehen. An dieser nach Stichworten geordneten Kartei arbeitete seit dem Jahre 1928 unermüdlich eine «Gehilfinnen Clios» genannte Gruppe älterer Damen, um der Nachwelt alles Wissenswerte dazu möglichst vollständig zu überliefern. Und aus diesem sachlich, nicht zeitlich geordneten Fundus wiederum sei nun eben dieser Roman entstanden, jeder seiner Abschnitte fuße inhaltlich quasi auf einer entsprechenden Karteikarte, heißt es, es geht also chronologisch und folglich auch inhaltlich alles kunterbunt durcheinander. Der Protagonist Jannis ist eine schwer zu fassende Figur, die in ihrer quirligen Unbekümmertheit an Alexis Sorbas erinnert. Er bezeichnet sich selbst als «Mückenschädel», weil seine Gedanken wie ein Mückenschwarm in seinem Kopf herumschwirren. Zu seinen irrwitzigen Einfällen trägt oft auch seine Affinität zum Wasser bei, schon als junger Bursche hatte er herumspintisiert, für sein Dorf eine Anlage zur Bewässerung bauen zu wollen. In Schweden ist er dann fasziniert von dem See, an dem das Haus seiner Gastgeber liegt, weil der jeden Winter dick zugefroren ist und dann wie ein Spiegel in der Sonne glitzert. Vor allem aber ist Jannis auch ein Alltagsphilosoph, der unentwegt meist sehr obskuren Gedanken nachhängt.

Die wichtigste Botschaft von Aris Fioretos, diesem weltläufigen, in Deutschland lebenden, auf Schwedisch schreibenden Schriftsteller mit griechisch-österreichischen Eltern, besteht in der Negierung der Nation als Quelle der Identität, – wer könnte das besser beurteilen als er? In seinem tragisch-komischen Roman mit existenzieller Grundierung ist die üppig sprießende Fantasie nur marginal mit Realität angereichert, zu der politisch das Massaker von Smyrna ebenso gehört wie das «Regime der Obristen», die griechische Militärdiktatur der Jahre 1967 bis 1974. Stilistisch kann der langatmige Roman mit seinem Pathos ebenso wenig überzeugen wie mit seiner stilblütenreichen Sprache. Hinter dem postmodernen Plot mit all den verqueren, pseudo-philosophischen Gedanken ist die Thematik «Grieche trifft Schwedin» kaum noch auszumachen, der narrative Überbau aber ist wenig überzeugend.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Nana

Lichtenberg bringts auf den Punkt

Der 1880 erschienene Roman «Nana» von Émile Zola gehört zu den erfolgreichsten des großen französischen Romanciers, er ist Teil des 20bändigen Zyklus ‹Rougon-Macquart›, einer breit angelegten Familiengeschichte aus dem Zweiten Kaiserreich, in deren Stammbaum auch eine gewisse «Anna Coupeau dite Nana» auftaucht. Als typischer Positivist hat der berühmte Autor seinen bekanntesten Roman als soziologische Milieustudie angelegt, in der eine Hundertschaft von Figuren aus der Pariser Halbwelt, von der Straßenhure bis zum Kammerherrn der Kaiserin, in ihren Lebensumständen und Beziehungen detailliert beschrieben werden. Er zeichnet eine promiskuitive großstädtische Gesellschaft, in die er die dekadente adelige Oberschicht ebenso mit einbezieht wie die Dirnen aus dem Rotlichtmilieu, weil sich deren Verhalten in nichts von dem der verheirateten, hochgestellten Damen unterscheide, wie er mehrfach betont. Der vorab im Tagesblatt ‹Le Voltaire› in Fortsetzungen veröffentliche Roman mit seiner anrüchigen Thematik wurde heftig umstritten und war, vielleicht gerade deswegen, ein Riesenerfolg, der für damalige Zeiten brisante Stoff wurde fürs Theater adaptiert und später auch mehrfach verfilmt, zuletzt im Jahre 2001.

Als blonde Venus bekommt die ehemalige Straßendirne Nana trotz völliger Talentlosigkeit eine kleine Rolle in einem Varietétheater. Ihr erster Auftritt bei der Premiere ist eine Schlüsselszene für den ganzen Roman: «Ein Schauer durchwogte den Zuschauerraum. Nana war nackt. Sie war völlig nackt und trug ihre Blöße mit ruhiger Kühnheit zur Schau, im sichern Selbstgefühl der Allmacht ihrer Fleischespracht. Einzig ein dünner Schleier hüllte sie ein.» Die Zuschauer waren wie berauscht, die Herren hatten rote Köpfe bekommen. «Unmerklich hatte Nana das Publikum erobert, hatte von ihm Besitz ergriffen, und jetzt waren ihr die Männer samt und sonders verfallen. Die geile Brunst, die von ihr ausging wie von einem läufigen Tier, hatte immer weiter um sich gegriffen». Fortan liegen ihr die Herren der Gesellschaft zu Füßen, sie genießt als Mätresse reicher Liebhaber einen nie gekannten Luxus und bekommt Zugang zur gehobenen Gesellschaft. Gleichwohl bleibt sie die strohdumme Dirne vom Land, verprasst völlig maßlos das viele Geld, das ihr zufließt, und ist immer pleite. Nachdem sie ihren wichtigsten Gönner, einen Bankier, in den Ruin getrieben hat, erleidet auch sie einen herben finanziellen Rückschlag und versucht mit einem ehemaligen Theaterkollegen in das einfache Leben zurückzufinden, was aber gründlich schiefgeht. Nach einem grandiosen Comeback hat sie im weiteren Verlauf des Romans schließlich etliche der ihr hörigen Männer bedenkenlos und selbstsüchtig ins Verderben gestürzt, ja sogar zum Selbstmord getrieben, muss am Ende aber völlig mittellos vor ihren Gläubigern aus Paris flüchten.

Das Besondere an «Nana» sind natürlich die Schilderungen der dekadenten Gesellschaft kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, «Nach Berlin!» skandieren die Massen auf der Straße am Ende des Romans. Neben aufschlussreichen Einblicken in die halbseidene Operettenwelt mit ihrem Lebemänner-Publikum werden auch die mondänen ‹Salons› der besseren Pariser Gesellschaft ausführlich beschrieben, man erlebt zudem hautnah und mitreißend die Faszination der Galopprennen, aber auch den wüsten Pöbel in den verruchtesten Hinterhof-Kaschemmen. Für die erwünschte Wahrhaftigkeit in der Darstellung hat Émile Zola einen erheblichen Recherche-Aufwand betreiben müssen, wie er berichtet hat.

Diese in vierzehn Kapiteln erzählte, bitterböse Gesellschaftskritik ist genial konstruiert, glänzt mit anschaulichen szenischen Beschreibungen und entlarvt unerbittlich die Dekadenz der Oberschicht jener Zeit. Der für seine köstlichen Aphorismen bekannte Georg Christoph Lichtenberg hat einst geschrieben: «Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an», – das kann ich hier wirklich auch empfehlen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Dubliner

Debüt eines literarischen Olympiers

Zu den drei bedeutendsten Werken des irischen Jahrhundert-Schriftstellers James Joyce, der als ein Wegbereiter der literarischen Moderne gilt, zählt «Dubliner». Die im Gegensatz zu den späteren Prosawerken noch konventionell erzählte Sammlung von fünfzehn Erzählungen fand erst 1914, nach Dutzenden von Ablehnungen und sieben Jahre nach ihrer Fertigstellung, schließlich doch einen Verleger. «Meine Absicht war es, ein Kapitel der Sittengeschichte meines Landes zu schreiben, und ich habe Dublin als Schauplatz gewählt, weil mir diese Stadt das Zentrum der Paralyse zu sein schien», hat er über seine Motive geschrieben. Die autobiografisch geprägte Hassliebe zu seiner Geburtsstadt, deren Mutlosigkeit er darin beklagt und deren Beengtheit er anprangert, spiegelt sich auch in dem später geschriebenen «Ulysses» wider, einige von dessen Romanfiguren tauchen hier schon auf.

Diese Schilderungen des Lebens in Irlands Hauptstadt seien in die Themenkomplexe «Kindheit, Jugend, Reife und öffentliches Leben» gegliedert, hat der Autor erklärt, soziologisch sind sie im Milieu des unteren und mittleren Bürgertums angesiedelt. Kaum eines der Probleme und Sorgen des Großstadt-Menschen fehlt in diesem psychologischen Panoptikum: Allzu strenge Erziehung, freche Lausbubenstreiche, unerfüllte Liebe, maßlose Prahlerei, verlorene Jungfräulichkeit, unstillbares Fernweh, ausbleibender Berufserfolg, späte Eheprobleme, zerstörerische Alkoholsucht, brutale Kindsmisshandlung, selbstlose Aufopferung, beengende Konventionen, politische Intrigen, überfürsorgliche Mütter, verlogener Klerus, die unehrliche Konversation auf dem Ball dreier Jungfern schließlich, und am Ende der Tod als Resümee des Lebens in der letzten und mit Abstand längsten Erzählung. Sie ist eine Art Epilog, der Motive der vorangehenden Geschichten erneut aufnimmt. Der Tod ist es auch, der kontrapunktisch als Klammer dient in der ersten und letzten Geschichte, beim Sterben eines alten Mannes und eines Jünglings.

Als «Karikaturen» hat James Joyce die «Dubliner» bezeichnet, sein Prosadebüt sei «von einer mit Bosheit gelenkten Feder geschrieben». Auffallend ist, dass die dominante letzte dieser Erzählungen ebenso wie im «Ulysses» und in «Finnegans Wake» mit einem Ausklang endet, bei dem ein Ehepartner über den neben ihm schlafenden anderen nachdenkt, was im vorliegenden Erzählband als durchaus versöhnlich interpretierbar ist. Man könnte die chronologische Anordnung der Geschichten inhaltlich auch als theologisch determiniert deuten: Als Verfall der Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, als Exempel der sieben Todsünden Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Zorn, Völlerei und Trägheit, oder als Verstöße gegen Kardinaltugenden wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit.

Heute mag man sich wundern über die Skepsis des Autors seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern gegenüber, die brutale Unterdrückung durch die Engländer und der erbitterte Kampf um die irische Unabhängigkeit als historischer Hintergrund machen diese Haltung jedoch verständlich. Die äußerlich handlungsarmen Geschichten mit ihren eher banalen Plots werden mit feiner Ironie aus einer skeptischen Distanz und aus wechselnden Perspektiven erzählt, oft in Form der erlebten Rede. Alle Erzählungen enden abrupt, vieles wird dabei offen gelassen, manches bleibt auch völlig unverständlich, – was dann natürlich reichlich Freiraum für die verschiedensten Interpretationen lässt. Narrativ prägend ist die detaillierte Zeichnung der vielen Figuren, deren physische Eigenschaften ebenso schonungslos – geradezu sezierend – beschrieben werden wie die jeweiligen psychischen Befindlichkeiten. Wobei sich James Joyce jedweder Moralisierung enthält, er ist der Chronist, mehr nicht. Neben der Paralyse als zentralem Thema erlebt jeder Protagonist seine ureigene Epiphanie in diesen Geschichten, – die dann seine Jämmerlichkeit offenbart. «Dubliner» ist ein idealer Einstieg in das Werk eines literarischen Olympiers!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
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Die Wasserfälle von Slunj

Der Poet als gottgleicher Schöpfer

Sein bekanntestes Werk ist «Die Strudelhofstiege», sein Opus magnum «Die Dämonen», sein bester Roman jedoch sei, wie manche meinen, «Die Wasserfälle von Slunj». Auf jeden Fall aber gehört Heimito von Doderer zu den bedeutendsten Schriftstellern des Zwanzigsten Jahrhunderts. Er befindet sich mit seinem Bestreben nach einer möglichst allumfassenden Erzählweise vom narrativen Ansatz her durchaus auf Augenhöhe mit «Großschriftstellern» wie Thomas Mann oder Marcel Proust. Und ähnlich wie bei Fontane, dem Chronisten des Preußentums, kann man in Doderers Romanen wunderbar in vergangene Zeiten zurückreisen, hier in die bereits dem Untergang geweihte k. u. k. Doppelmonarchie. Das vorliegende, breit angelegte Epos ist als erster Roman einer geplanten Tetralogie 1963 erschienen, der zweite Roman erschien posthum und unvollendet. Anders als sein berühmter österreichischer Kollege Robert Musil aber ist der wegen seiner diversen Exzesse eher unsympathische, moralisch und politisch umstrittene Autor den deutschen Lesern weitgehend unbekannt geblieben. Schade eigentlich!

Der Roman beginnt mit der Hochzeitsreise von Robert Clayton, die ihn 1877 zu den imposanten Wasserfällen von Slunj führt. Er ist der Sohn eines britischen Industriellen, der in Wien ein Zweigwerk eröffnet. Aus dieser Ehe nun geht der Sohn Donald hervor, der nach dem Studium als Ingenieur in die österreichische Dependance eintritt. Für das Kaufmännische wird der eher unscheinbare Buchhalter Chwostik eingestellt, der in bescheidensten Verhältnissen lebt und zwei Untermieterinnen hat. Fini und Feverl betreiben in zwei kleinen Zimmern seiner Wohnung ihr Gewerbe als Prostituierte. Er selbst erweist sich als wahrer Glücksfall für die Firma und steigt zum Prokuristen auf. Die beiden Vorstadt-Huren retten beim Baden ein Kind und gehen aufs Land zurück, als ihnen die dankbare Mutter eine gutbezahlte Stellung auf einem ungarischen Gutshof verschafft. Der missratene Stiefsohn von Chwostiks Hausmeisterin landet glücklich als Postmeister in Kroatien, in der Schule bilden vier Schüler aus dem gehobenen Bürgertum den «Club Metternich» zur intensiven Vorbereitung auf die Matura, eine toughe Ingenieurin Mitte dreißig wirbelt die Männer gehörig auf und verändert nachhaltig das Leben von Clayton Senior und Clayton Junior, ihre verheiratete Freundin schließlich vernascht – in einer Reifeprüfung der besonderen Art – frohgemut einen der Jungs vom Club Metternich.

Mit seiner üppigen, anschaulich geschilderten Figurenschar aus Prekariat und Bürgertum zeichnet Heimito von Doderer ein drei Generationen umfassendes Kaleidoskop der Habsburger Monarchie. Dabei treffen die verschiedenen, ineinander verschlungenen Handlungsfäden immer wieder bei den Claytons zusammen, die titelgebenden Wasserfälle bilden eine narrative Klammer um das Ganze. Stilistisch elegant, in einer aus heutiger Sicht altösterreichisch wirkenden, der historischen Erzählzeit geschuldeten Diktion, breitet der Autor humorvoll plaudernd seine klug durchdachten Geschichten in prächtigen, farbenfrohen Bildern vor dem Leser aus.

Bei aller Ironie ist dem Plot jedoch eine beachtliche psychische Tiefe zueigen, die in vielen treffenden Metaphern zum Ausdruck kommt. Clayton Junior scheitert als erfolgreicher Ingenieur im Privatleben jämmerlich, er ist emotional geradezu verkrüppelt, sein verwitweter Vater sticht ihn mühelos aus bei der schönen Ingenieurin, in die Donald verliebt ist, wie er viel zu spät erst erkennt, – «man möchte ihm in den Hintern treten», schreibt der Autor dazu. Als Leser schaut man ihm zuweilen über die Schulter, so wenn er Figuren aus seinem Roman «herausschmeißt» wie Fini und Feverl. Leutselig erklärt er: «… und damit kommt der Augenblick, […] wo der Romanschreiber nicht an die Eigengesetzlichkeit seiner Figuren gebunden bleibt, sondern zuletzt noch mit diesen machen darf was er will», – der willkürlich agierende Poet also als gottgleicher Schöpfer seiner ganz eigenen Welt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Fiktionen

Mehr Selbstkritik geht ja nicht

Als einer der großen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts hat Jorge Luis Borges mit «Fiktionen» einen Band von phantastischen Erzählungen vorgelegt, der als ein Schlüsselwerk des Magischen Realismus gilt. Der intellektuelle Argentinier hat mit diesem vielleicht wichtigsten Werk der hispanischen Literatur seit «Don Quijote», wie manche meinen, einen entscheidenden Impuls geliefert, – weg von der «postromantischen Erstarrung». Gabriel Garcia Marquez hat in seiner Nobelpreisrede explizit darauf hingewiesen, wie viel er selbst und andere bedeutende Autoren wie Mario Vargas Llosa oder Julio Cortázar ihm zu verdanken haben. Auch sein Bewunderer Umberto Eco verdankt ihm nicht nur die Idee der Klosterbibliothek als Handlungsort für seinen berühmten Roman «Der Name der Rose», mit der Figur des blinden Bibliothekars Jorge von Burgos hat er ihm auch noch unübersehbar ein literarisches Denkmal gesetzt.

Das Buch beginnt mit der Geschichte einer «Dynastie von Einsiedlern», die heimlich Beiträge über die frei erfundene Welt «Tlön» in einer Enzyklopädie veröffentlichen mit dem Effekt, dass durch die ständige Weiterverbreitung dieser Artikel die reale Welt bald immer mehr der fiktiven, irrealen Welt «Tlön» ähnelt. In einer weiteren Geschichte hat der Schriftsteller Pierre Menard einen «Don Quijote» geschrieben, der zwar wortwörtlich mit dem Text von Cervantes übereinstimmt, aus heutiger Sicht aber ganz anders interpretiert werden muss, – und damit auch eine ganz andere Bedeutung erlangt. In einer anderen Geschichte wird das Schicksal der Menschen in Babylon seit Jahrhunderten von einem Geheimbund durch eine Lotterie bestimmt, deren Einfluss letztendlich jedoch fraglich bleibt. Rätselhaft ist auch die Sprache eines Buches in der «Bibliothek von Babel», bis schließlich entdeckt wird, es handelt sich um einen «samojedisch-litauischen Dialekt des Guaraní mit Einschüben von klassischem Arabisch». In einer Spionage-Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg geht es um ein verwirrendes chinesisches Buch, das wie ein Labyrinth voller Symbole verschiedene Zeitabläufe darstellt. Durch die Ausführung einer der dargestellten symbolischen Handlungen erhält der deutsche Geheimdienst schließlich eine entscheidende Information, die der Spion auf andere Weise nicht hätte weitergeben können.

Jorge Luis Borges ist ein Schriftsteller der kurzen Prosa, ein dutzend Seiten reichen ihm meistens. Er hat im Vorwort dazu geschrieben: «Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Resümee, einen Kommentar vorzulegen». Vargas Llosa lobt in einem Essay, Borges «sei zwar ein außergewöhnlicher Stilist, sein Übermaß an Intelligenz habe allerdings sein Verständnis für das Leben eingeschränkt». Dieser stilistische Disput verdeutlicht die radikale Form seiner kunstvoll komprimierten Prosa, die sich in einer ungewöhnlich hochstehenden, anspruchsvollen Diktion treffsicher artikuliert.

Imaginäre Bücher spielen in vielen dieser Geschichten eine wichtige Rolle, sie führen oft sogar ein Eigenleben als Buch in Buch. Häufig wiederkehrende Symbole, Anspielungen und Verweise in einer meist ort- und zeitlosen Szenerie geben viele Rätsel auf. Der Leser wird listig getäuscht, muss recherchieren und nicht selten zweimal lesen, was er beim ersten Lesen allzu flüchtig überlesen hat. Man sollte bei aller geradezu systemischen Aporie auch nicht übersehen, dass trotz der dominanten Metaphysik in diesen surrealen Erzählungen immer auch ein subtiler Humor mitschwingt. « Ich habe mich schon heimlich danach gesehnt, unter einem Pseudonym eine gnadenlose Tirade gegen mich selbst zu verfassen», hat Borges geschrieben. Das sei für manchen irritierten Leser tröstend angemerkt, – mehr Selbstkritik geht ja nicht!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
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Bolwieser

Tragischer Pantoffelheld

Zu den Hauptwerken des in vielen literarischen Genres aktiven Schriftstellers Oskar Maria Graf gehört der Roman «Bolwieser» von 1931, ein Publikumserfolg, den Rainer Werner Fassbinder als Stoff für einen zweiteiligen Fernsehfilm benutzt hat, der dann als Spielfilm adaptiert auch in die Kinos kam. Er ist der erste der beiden «Spießerromane» des bayrischen Dichters, der sich selbst, mit seiner ländlichen Herkunft kokettierend, als «Provinzschriftsteller» bezeichnet hat. Auf der Flucht vor den Nazis ging er 1938 ins Exil nach New York, wo er 29 Jahre später als US-amerikanischer Staatsbürger starb. Seine damals entstandenen Werke gelten denn auch als Exilliteratur, wobei sein umfangreiches Œuvre vor allem durch eine außergewöhnliche thematische Vielseitigkeit geprägt ist, die scharfsinnig analysierte politische und philosophische Themenfelder mit einschließt. Als literarisches Vorbild nannte er Lew Tolstoi, dessen rustikale Bodenständigkeit er ebenso bewunderte wie seine engagierte Gesellschaftskritik. Albert Einstein hat ihn in einem Brief so charakterisiert: «Da ist einer in unserer Zeit, der Manieriertheiten und Dunkelheiten ganz vermeidet und in natürlicher Schlichtheit und Anmut zum Denken anregt».

Über die Idee zu diesem Roman hat der Autor notiert: «Warum, so fragte ich mich, wird eigentlich ein Pantoffelheld immer nur lächerlich und humoristisch gesehen? Kann er nicht auch eine tragische Figur sein? Das war alles, wofür ich lange Zeit den geeigneten Stoff suchte». Als Graf sich bei einer Fahrradtour mit Freunden von einem alten Fährmann über den Inn setzen ließ, sagte sein Begleiter: «Sie, der alte Mann wär‘ eigentlich was für einen Roman. Er war ein ehemaliger Bahnhofsdirektor in Wasserburg, seine Alte, in die er sehr vernarrt war, hat ihn betrogen und ihn nachher, als sie ins Gerede gekommen ist, dazu gebracht, dass er ihre Unschuld vor Gericht beeidigt. Wie er wegen Meineid ins Zuchthaus gekommen ist, hat sie den anderen geheiratet». Oskar Maria Graf hatte, was er suchte, vier Monate später war sein Roman fertig!

Als Inbegriff des Spießers will der dröge Xaver Bolwieser «seinen Frieden, weiter nichts». Der selbstzufriedene Kleinbürger ist seit mehr als drei Jahren mit der attraktiven, wohlhabenden Hanni verheiratet, die beiden haben ein sehr erfülltes Sexualleben, – er ist regelrecht wild nach ihr. Ihm genügt, verfressen wie er ist, zum Leben ein reich gedeckter Tisch in seiner warmen Stube, seine 35jährige Frau aber sinniert über ihre Zukunft, sie träumt von einem glamourösen, turbulenten Leben. Sie will einfach nicht akzeptieren, dass ihr Leben weiterhin so völlig ereignislos dahinplätschert mit ihrem langweiligen, dicken Xaverl. Es kommt, wie es kommen muss, sie beginnt ein Verhältnis mit einem charismatischen Jugendfreund und stürzt damit ihren arglosen Mann ins Unglück. Am Ende aber hat die lebensgierige Hanni in dem feschen Friseur längst schon wieder einen neuen Liebhaber gefunden, cosi fan tutte!

Äußerst skeptisch betrachtet Oskar Maria Graf in seinem Roman die Stabilität sexueller Liebe im Verlaufe der Zeit und unter Berücksichtigung der parallel dazu abnehmenden gegenseitigen Attraktivität, – fürwahr ein uraltes Thema! Und auch soziale Gegensätze kommentiert er mit feiner Ironie: «Der echte Unternehmer trachtet nach der Ausdehnung seines Betriebes und nach Macht. Der Arbeiter kämpft mit seinesgleichen um erträglichere Lebensbedingungen. Der Kleinbürger hingegen will das ‹eine› nicht und hat das ‹andere›. Er strebt nach intimem Luxus. Er will die erborgte Prächtigkeit, wie man sie mitunter in veralteten Gesellschaftsfilmen zu sehen bekommt». Diese chronologisch angelegte Geschichte wird dialogreich in einer wohltuend klaren Sprache erzählt, sie ist thematisch sehr gut durchdacht und absolut logisch aufgebaut. Alfred Döblin nannte den Roman «Ein Kabinettstück deutscher Erzählkunst», dem will ich mich gerne anschließen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Meister und Margarita

«Leser mir nach!»

Unter dem Titel «Meister und Margarita» ist der Jahrhundertroman des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow 1966 posthum in einer radikal zensierten Fassung erstmals erschienen, unlektoriert und nicht von eigener Hand fertig gestellt. Nach einem atemberaubenden Blitzstart ist er dort gleichwohl zum meistgelesenen Roman des Zwanzigsten Jahrhunderts avanciert, ein literarischer Geniestreich ohne gleichen. Die Zahl der Arbeiten, die sich bis heute mit ihm wissenschaftlich befassen und um eine plausible Deutung ringen, ist inzwischen Legion. Dieser russische Jahrhundertroman nun ist 2012 in einer kongenialen Neuübersetzung erneut auf Deutsch erschienen, Felicitas Hoppe hat ihm aus diesem Anlass ein ebenso lesenswertes wie geistreiches Nachwort unter der Überschrift «Leser mir nach – du bist frei!» gewidmet. Worin liegt denn nun die große Faszination dieses Werks?

Natürlich vor allem im mystischen Faust-Thema, das schon im Titel anklingt und dem Roman mit einem Goethe-Zitat als Motto deutlich vorangestellt ist. Dem Faust nämlich entspricht hier der «Meister», und dem Gretchen «Margarita». Der Magische Realismus Bulgakows hat den Stoff allerdings in einer radikal neuen Sichtweise aufgegriffen und dessen Thematik in eine unbekümmert groteske, satirische Form gebracht, die im Verbund mit einer überbordenden Phantasie einen ebenso großen Anteil an der begeisterten Rezeption dieses Werkes haben dürfte. «Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriachenteich» lautet der inzwischen berühmt gewordene erste Satz des Romans. Die zwei Herren, die dort sitzen, sind der Vorsitzende der Moskauer Autorenvereinigung und der Schriftsteller Iwan Nikolajewitsch Ponyrjow. Sie diskutieren über Iwans antireligiöses Poem, es geht um Metaphysisches, um Jesus und um Gottesbeweise, als sich plötzlich ein Ausländer in ihr Gespräch einmischt, ihnen die Leviten liest und nebenbei erwähnt, er habe schon mit Kant gefrühstückt und kenne Pontius Pilatus persönlich. So beginnt unter dem Titel «Reden Sie nie mit Unbekannten» das erste Kapitel. Dieser Fremde ist Woland, Professor der schwarzen Magie, in Wahrheit der unter verschiedenen Masken auftretende leibhaftige Satan, der in Folge mit seiner abenteuerlichen Entourage binnen kürzester Zeit in Moskau ein heilloses Chaos mit zwei Toten anrichtet, viele Menschen in Panik versetzt und alle Behörden kläglich scheitern lässt.

Der «Meister» ist Insasse einer Psychiatrischen Klinik und kennt seinen Namen nicht. Er hatte an einem Roman über Pontius Pilatus geschrieben, als er «Margarita» kennenlernte, eine verheiratete Frau, die seine große Liebe wird. Als sein Roman von der Kritik verrissen wird, verbrennt er ihn, verfällt in Wahnsinn, Margarita und er werden getrennt. Einer von Wolands Helfern macht ihr ein unmoralisches Angebot, erhebt sie zur Königin an der Seite des Teufels bei einem riesigen, der Walpurgisnacht ähnelnden Ball, fortan gehört sie als Hexe zur Begleitung Satans. In mehreren Kapiteln wird parallel aus dem Roman des «Meisters» über Pontius Pilatus erzählt, wobei die Hinrichtung hier völlig entmystifiziert geschildert wird und Jesus als naiver Gutmensch erscheint. Am Ende treffen sich beide Handlungsstränge, als der «Meister» und Margarita nach ihrem Tode von Woland nach Jerusalem geführt werden, wo der depressive Pontius Pilatus einsam und verlassen mit seinem Hund in der Wildnis vor der Stadt sitzt, – und alle werden genau dort erlöst!

Liebe, Vergebung, Erlösung sind die großen Fragen in Michail Bulgakows Philosophie. Mit Kunst und Künstler wird ein weiteres Thema abgehandelt, die unheilvolle Bürokratie im aberwitzigen Überwachungsstaat der 1930er Jahre unter Stalin wird nur indirekt auf amüsante Weise angeprangert. Ein umfangreicher Anhang hilft beim Verstehen vieler spezifisch russischer Details, der immense Lesespaß aber beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auch auf der wohldurchdachten, frischen Übersetzung. «Leser mir nach!» rufe auch ich.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Das Recht auf Schlaf

Eine „Laudatio auf den Schlaf“ nennt Till Roenneberg seine „Kampfschrift“. Der Professor am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München ist Schlafforscher und Chronobiologe, also ein Erforscher unserer biologischen Uhr. Er beherrscht damit das Thema und möchte Nichtfachleuten Wissen vermitteln. Ob es ihm gelingt, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Weiterlesen


Genre: Sachbuch, Wissenschaft
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Ein Festtag

Elegant und federleicht erzählt

Ist der Roman «Ein Festtag» von Graham Swift auch ein Festtag für den Leser? Mehr als einen Tag nämlich wird er kaum brauchen, um diesen internationalen Bestseller mit seinen 142 Seiten zu lesen, in denen es, wie so oft bei diesem englischen Schriftsteller, um die Erinnerung als literarisches Faszinosum geht. Was da alles in die wenigen Buchseiten hineingepackt ist an Gefühlen, Lebensweisheiten, an historischem und gesellschaftlichem Hintergrund, das ist verblüffend, nicht etwa weil so komprimiert erzählt wird, sondern weil all das ganz unterschwellig auch mit anklingt.

«Mothering Sunday», so der Buchtitel im Original, ist ein Feiertag der Church of England, hier im Roman ist dieser sonnige Tag im März 1924 der alles verändernde Schicksalstag für seine Protagonistin. Traditionell haben alle Dienstboten an diesem Tage arbeitsfrei, viele besuchen ihre Mutter, aber Jane ist ein Findelkind, sie wurde im Waisenhaus großgezogen und arbeitet als Dienstmädchen in einem Herrenhaus. Die 24Jährige hat seit Jahren heimlich ein Verhältnis mit Paul, dem verwöhnten Sohn wohlhabender Nachbarn, anfangs hatte er sie mit einem Sixpence bezahlt, inzwischen ist daraus Liebe geworden. Er nutzt die Abwesenheit seiner Eltern und trifft Jane an diesem Festtag zum ersten Mal bei sich zuhause, und nach den vielen unbequemen, improvisierten Treffen diesmal erstmals sogar in seinem Bett. Ohne obszön zu werden schildert Swift die postkoitale Zweisamkeit en detail und spart auch den Fleck nicht aus, den die gehabten Genüsse als feuchte Spuren verräterisch auf dem Laken hinterlassen haben. Bei aller Ekstase ist dem nun nackt auf dem Bett liegenden Pärchen bewusst, dass dies ihr letzter Beischlaf war, sie werden sich nie wiedersehen, Paul wird in zwei Wochen Emma heiraten, eine arrangierte Ehe mit einer «guten Partie». Und während Jane vor sich hin sinnierend ihr bisheriges Leben Revue passieren lässt, putzt sich Paul schweigend für ein Treffen mit Emma heraus, und zwar aufreizend langsam, obwohl er inzwischen viel zu spät dran ist und empörte Vorhaltungen seiner Verlobten fürchten muss.

Zwei Drittel der Geschichte sind diesem Tête-à-Tête gewidmet, aus der Perspektive der jungen Jane wird darin sehr anschaulich ihr bisheriges Leben rekapituliert, bis nach mehr als hundert Seiten ein plötzlicher Zeitsprung ins hohe Alter von Jane Fairchild führt, die nach Tätigkeit im Buchhandel eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist. Dieser zweite Teil ihres Lebens wird in Form von Interviews erschlossen, in denen die Hochbetagte nach ihrem Lebensweg befragt wird. «Alles ausgedacht» hatte sie einst als 48Jährige nach dem Tod ihres Mannes, eines Philosophen in Oxford, ihr erstes Buch betitelt. In den Gesprächen finden sich dann geistreiche Reflexionen von ihr über Literatur, über den Schreibprozess als solchen und die Fiktionalisierung der Realität, über das Lesen und ihre persönliche Annäherung an die Literatur insbesondere durch Joseph Conrad, den sie geradezu hymnisch verehrt hatte.

Es ist bewundernswert, wie Graham Swift, mit wenigen Worten sparsam erzählend, in seinem raffiniert konstruierten Plot derart tiefgründig in das Gefühlsleben seiner Figuren eindringt und anschaulich die Atmosphäre in den privilegierten englischen Herrenhäusern mit ihren gesellschaftlichen Umbrüchen schildert. Folgt man der Definition von Goethe, ist diese Geschichte mit ihrer – von mir aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber verschwiegenen – «unerhörten Begebenheit» eine äußerst elegant geschriebene, klassische Novelle. Die, und das ist das Schöne daran, wegen ihrer Kürze natürlich zu allerlei Deutungen und Ergänzungen durch den geneigten Leser geradezu herausfordert. Was auch immer aber man herauslesen zu können glaubt, all diese wohlfeilen Spekulationen über das «Was-wäre-wenn» ändern nichts daran, dass dies eine angenehm unterhaltende, federleicht erzählte Novelle ist, literarisch also durchaus «auch ein Festtag für den Leser»!

Fazit: erfreulich

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Genre: Novelle
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Bei Regen im Saal

Die Romanhaftigkeit des Lebens

Das Markenzeichen des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ist ‹der gedehnten Blick›, den er in seinem gleichnamigen Essay konkret beschrieben hat und der auch den Roman «Bei Regen im Saal» prägt. Gemeint ist damit eine zeitlich gedehnte, intensive Wahrnehmung auch kleinster, banaler Details des Alltags. Erst bei längerer Betrachtung erschließe sich «die Tiefendimension eines Gegenstandes oder einer Situation», und damit verliere sich auch das Triviale, hat er im Interview erklärt. Ein weiteres Merkmal seiner Prosa ist der elegische, resignative Grundton, die Protagonisten sind misanthropische Antihelden, das Milieu ist durch die «kleinen Leute» gekennzeichnet im Kampf mit dem alltäglichen Wahnsinn unserer immer komplizierter werdenden, modernen Zeit.

Der erst ganz am Ende als Reinhard ‹benamste› Ich-Erzähler ist ein 43jähriger, promovierter Philosoph, ein Verlierertyp, der sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt und schließlich als Redakteur bei einer Lokalzeitung landet. Als unverbesserlicher Eigenbrötler wohnt er im Chaos seiner spartanisch möblierten, verschmutzten Wohnung, ein schlecht gekleideter, schlecht rasierter, schmuddeliger und ungepflegter Mann. Er ist antriebslos und verrichtet seine Arbeit gleichgültig, ohne jeden Ehrgeiz. Seinem tristen Zuhause, seiner ereignislosen Existenz entflieht der Flaneur durch häufige Streifzüge durch die Stadt, er beobachtet dabei mit scharfem Blick sein ihm immer unverständlicher werdendes, urbanes Umfeld. Einziger Lichtblick in seinem ansonsten bindungsarmen Leben ist seine Freundin Sonja, eine dralle Finanzbeamtin, mit der er ein äußerst erfülltes Sexualleben führt. Der auch vom Aussehen her wenig attraktive Mann mit seinen Marotten ist ein ausgesprochener Busenfetischist, BHs und Brüste üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und erstaunlicher Weise machen ihm viele Frauen recht deutlich Avancen, weil sie seine Begehrlichkeit spüren, er aber weicht dem immer aus, seine eh schon schwach ausgeprägte Bindungsfähigkeit lässt ihn vor flüchtigen Affären zurückschrecken, seine Liebe gilt allein Sonja.

Eine Handlung ist in diesem kurzen Roman kaum auszumachen, das Wenige davon hier auszuplaudern wäre unfair, denn eine gewisse Spannung ergibt sich trotzdem, – es geht ja schließlich um Liebe, und die ist immer für Überraschungen gut! Die Geschichte als Ganzes lebt von den als Gedankenstrom erzählten Grübeleien und inneren Monologen des ewigen Flaneurs, den jede noch so kleine Begebenheit interessiert und oft zu abseitigen, philosophischen Betrachtungen animiert. Das Große im Kleinen zu erkennen, die tiefere Bedeutung auszuloten ist das erklärte Anliegen des Autors. Wobei politische, religiöse, ökonomische oder soziologische Aspekte ausgeklammert bleiben, das alltäglich Banale des menschlichen Seins steht im Fokus, hinzu kommen gelegentlich auch Beobachtungen in der Natur. Als Ergebnis solcher Selbstreflexion, als Extrakt dieser willkürlichen, sprunghaften Denkprozesse ergeben sich dann häufig völlig absurde, eigenwillige Einsichten und skurrile Assoziationen.

Wilhelm Genazino überrascht seine Leser zuweilen mit gelungenen Wortschöpfungen in einer angenehm lesbaren, den narrativ vorherrschenden Bewusstseinsstrom stimmig abbildenden, schnörkellosen Sprache. Zu der allfälligen Kritik an seinen handlungsarmen Plots hat der sich selbst als randständig verortende Schriftsteller in einem Interview angemerkt: «Denn unter den Lesern sind natürlich auch sehr viele, die nicht die entsprechende Muße aufbringen und stattdessen mehr Action wollen. Für diese Leser muss es viel mehr vordergründige Handlungsmuster geben, da müssen irgendwelche Scheidungen stattfinden und Liebesabenteuer usw. Wenn das nicht stattfindet, dann legen diese Leser so ein Buch wie eines von mir schnell beiseite und sagen: ‹Ach, wie langweilig›!» Die Romanhaftigkeit des Lebens ist selten actionreich, das wird beim Lesen dieses Romans sehr deutlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Früchte des Zorns

Mit sozialem Scharfsinn

Aus dem Werk des US-amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck hebt sich der sozialkritische Roman «Früchte des Zorns» von 1939 auch heute noch besonders hervor. Er hat damit den Arbeitsmigranten in der Zeit der Großen Depression allgemein und den verächtlich als «Okies» bezeichneten, entwurzelten Wanderarbeitern aus Oklahoma, die damals in Massen nach Kalifornien auf Arbeitssuche gezogen sind, im Besonderen ein Denkmal gesetzt. Das Nobelkomitee lobte den Autor 1962 «für seine einmalige realistische und phantasievolle Erzählkunst, gekennzeichnet durch mitfühlenden Humor und sozialen Scharfsinn». Dieser Roman ist auch heute noch Schullektüre in vielen englischsprachigen Ländern, er wird mit seinem Realismus und der beeindruckenden Detailfülle auch als willkommene historische Quelle angesehen.

Auslöser der hunderttausendfachen Armutsmigration war neben jahrelanger Dürre vor allem die «Urbarmachung» der Prärie in den dann später als «Dust Bowl» bezeichneten Gebieten in der Mitte der USA. Die Prärie musste dem Baumwoll- und Weizenanbau weichen, das fehlende Präriegras ließ den Boden schnell austrocknen, verheerende Sandstürme waren die Folge, die «Staubschüssel» entstand. Und so schildert Steinbeck denn auch gleich im ersten der dreißig Kapitel des Romans sehr eindringlich diese von Menschen verursachte Katastrophe, bei der die Farmer ihr Land verloren haben, weil sie wegen der ausfallenden Ernten ihre Kredite bei den Banken nicht mehr bedienen konnten. Auf Handzetteln wurden Erntehelfer für die riesigen Obstplantagen in Kalifornien gesucht, es gab wilde Gerüchte über den Garten Eden dort, und so macht sich denn auch die Familie Joad aus Oklahoma auf den Weg, nachdem die Traktoren der neuen Großgrundbesitzer bis dicht an ihr Haus heran alles umgepflügt hatten und im Begriff waren, nun auch noch das armselige Farmhaus zu zerstören, weil es der modernen, hocheffizienten Bewirtschaftung im Wege steht.

«Route 66» als legendärer, auch aus der Musik bekannter Highway ist über weite Teile der Geschichte Schauplatz des Geschehens. Die entwurzelte Großfamilie, die sich aus drei Generationen zusammensetzt, erlebt auf der beschwerlichen Reise mit einer zum Lastwagen umgebauten, klapprigen Limousine immer wieder herbe Rückschläge und beschämende Demütigungen. Das wenige Geld wird erschreckend knapp, ihr Auto kann nur noch notdürftig repariert werden, wie Wegelagerer beuten Händler am Wegesrand die durchreisenden, auf Hilfe angewiesenen Okies immer wieder schamlos aus, und auch die Sheriffs machen ihnen das Leben zur Hölle. Das alles ändert sich leider nicht, als sie mit ihren letzten Dollars in Kalifornien ankommen, denn Arbeit gibt es dort keine für sie. Und wenn doch, dann zu Löhnen, die wegen des Überangebots von Arbeitskräften nicht mal für das Essen ausreichen, ein perfides, staatlich gestütztes Ausbeutungssystem hat sich etabliert, ermöglicht durch eine der marxschen entsprechende, agrarische Reservearmee.

In all dieser Not zeichnet Steinbeck seine durchweg sympathischen Figuren als einfältige, skurrile, ungebildete Menschen, die gleichwohl aufrichtig durchs Leben gehen und stets ihre Würde wahren, allem Unbill zum Trotz. Berührend ist dabei auch der fast schon archaische Wille der Familie, zusammenzuhalten, komme was da wolle. «Früchte des Zorns» wird als realistischer Roman chronologisch erzählt, wobei der dialogreichen Geschichte der Familie auf ihrer Reise ins vermeintliche El Dorado jeweils ein zusammenfassendes Kapitel politischen, ökonomischen oder soziologischen Inhalts vorangestellt wird, das in diesem realistischen Roman als kontemplativ wirkender Hintergrund dient. Der dickleibige Roman ist ein großartiges Zeitzeugnis mit einer Botschaft, die nichts an Aktualität eingebüßt hat über all die Jahre, denn die darin angeprangerten kapitalistischen Mechanismen sind im Prinzip zeitlos, also unverändert auch heute noch wirksam. Ein hervorragender Roman des vergangenen Jahrhunderts!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Von dieser Welt

Apokalyptisches Klagelied

Der Hype um den in den USA wiederentdeckten farbigen Schriftsteller James Baldwin hat nun auch uns erreicht, die aktuelle Neuübersetzung seines autobiografischen Debütromans von 1953 «Go Tell It on the Mountain» wird vom Feuilleton allenthalben gefeiert. Wobei der Titel der neuen deutschen Ausgabe «Von dieser Welt» ein wenig ablenkt von dem, was den Leser wirklich erwartet, bezieht sich doch der Originaltitel auf ein allseits bekanntes, oft gehörtes Spiritual. Womit das beherrschende Thema des Romans weitaus treffender verdeutlicht wird, es geht nämlich um religiöse Inbrunst, ausgelöst hier durch das schreiende Unrecht der Rassendiskriminierung. Die aber ist auch heute noch weitgehend unveränderte Wirklichkeit im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», entsprechende Nachrichten von dort, untermauert durch die einschlägigen Polizeistatistiken, erinnern uns regelmäßig wieder daran. Und der offen rassistische Präsident ist als Nachfolger des ersten Farbigen in diesem Amt ein überdeutliches Indiz für diese reaktionäre Entwicklung, eine Rolle rückwärts also in der Rassenfrage. «Sein Werk altert nicht» heißt es über Baldwin im Vorwort, dabei wünscht man sich, dieser Roman wäre weniger aktuell.

Anders als die meisten seiner Zunft entwickelt Baldwin seine Thematik fast ausschließlich aus dem Innenleben seiner Figuren heraus, berichtet von den seelischen Verheerungen, die das schreiende Unrecht bei der unterdrückten farbigen Bevölkerung anrichtet. In der Rahmenhandlung der im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts angesiedelten Geschichte fungiert John als äußere Klammer, er droht auf der Suche nach sich selbst zu scheitern. «Alle hatten immer gesagt, John werde später mal Prediger» lautet der erste Satz. Als ihm 1935, am Morgen seines 14ten Geburtstages, seine nächtliche Masturbation bewusst wird, als in seiner Fantasie ein Fleck an der Zimmerdecke sich in eine nackte Frau verwandelt, ist sein Schrecken grenzenlos, er fühlt sich auf ewig verdammt. Der Tag endet in der Kirche, wo er in einer rauschhaften Erweckungsszene, im rasenden Kampf wütend mit sich selbst ringend, vor dem Altar liegt und endlich zu Gott findet.

In drei Teilen behandelt der Roman in Rückblicken die Biografie von Johns Stiefvater, unerbittlicher Laienprediger und böser Heuchler zugleich, von seiner Mutter und der Schwester des Vaters. Alle drei waren Kinder von Sklaven, die der Gewalt des Südens zu entkommen suchten, um dann in New York das Elend zu finden. Baldwin thematisiert den Hass der Farbigen, wobei der sich erstaunlicher Weise gegen sie selbst richtet, sie fühlen sich schuldig und sind Opfer ihrer Selbstverachtung. Ihr Leben wird bestimmt von Armut, Angst, Hass, Gewalt, – und von der Hölle, die ihnen ein rigider Pietismus unermüdlich einredet, indem er selbst alltägliche Ereignisse permanent als Menetekel an die Wand malt, immer nach dem Motto: Es gibt keine Unschuldigen! Als Sohn eines Baptistenpredigers ist dem Autor dieser religiöse Fanatismus quasi schon mit der Muttermilch eingegeben, die fatale Lebensfeindlichkeit seiner Geschichte ist also vorbestimmt, verschärft noch durch seine, auch im Roman anklingende, Homosexualität. Die naive Gläubigkeit seiner Figuren dient als Ausweg aus ihrem Dilemma, kompensiert den Unbill ihres prekären Lebens.

Streckenweise liest sich dieser Roman, seiner unverblümten Indoktrination wegen, wie naivste Erbauungsliteratur, deren Sprache in Diktion, Melodie und Rhythmus, in ihren häufigen Wiederholungen zudem, stark an das Alte Testament erinnert. Vergleicht man Baldwin mit Jerome David Salinger, Harper Lee, William Faulkner, E. L. Doctorow, so fällt die einseitige Perspektive von Baldwin auf, er stimmt ein apokalyptisches Klagelied an, das alle anderen Aspekte ausblendet und die Welt einseitig als Jammertal darstellt. Spätestens bei der Religion aber endet jede rationale Diskussion, über die Lesefrüchte, die dieser Roman uns beschert, hüllen wir also besser den Mantel des Schweigens.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Der Stechlin

Ein literarisches Labsal

Nur wenige Wochen vor seinem Tode hat Theodor Fontane die Arbeit an dem Roman «Der Stechlin» beendet, ein Zeitroman nach eigenem Bekunden. Als typischer Vertreter des bürgerlichen Realismus hat er mit diesem 1898 erschienenen Buch ein literarisches Meisterwerk geschaffen, es wird als sein bedeutendster Roman angesehen. Und das, obwohl fast nichts geschieht darin! In einem Brief an seinen Verleger hatte er dazu geschrieben: «Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, mit und in ihnen die Geschichte». Diese Art eines Plots in Form der Causerie ist hier auf die Spitze getrieben, Konversation vom Feinsten also, geistreich, wortgewaltig, amüsant, ein literarisches Labsal.

Protagonist des Romans ist der 66jährige Dubslav von Stechlin, Schlossherr in der Grafschaft Ruppin, ein Major a. D. und märkischer Junker, dessen Besitzung den gleichnamigen, von Legenden umwobenen See mit einschließt. Fontane charakterisiert seine Figur im Roman als «eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln». Dessen Lebensumstände beschreibt nun Fontane, indem er uns einen Besuch des Sohnes Woldemar, Rittmeister in Berlin, auf Schloss Stechlin schildert. Dabei wird auch das nahe gelegene Kloster Wutz besucht, dessen Domina des alten Stechlins ältere Schwester ist, eine sauertöpfische Pietistin. Über sie heißt es: «Wickelkinder, wenn sie sie sehen, werden unruhig, und wenn sie zärtlich wird, fangen sie an zu schreien». In Berlin schließlich wirbt Woldemar um die Tochter eines reichen Adeligen, in Stechlin scheitert derweil der Alte – ziemlich erleichtert übrigens – bei der Reichstagswahl als Kandidat der Konservativen. Woldemar wird als Repräsentant seines Regiments auf eine Mission nach England geschickt, verlobt sich nach der Rückkehr und reist schließlich mit seiner Verlobten zu Weihnachten nach Stechlin. Im Frühjahr dann findet die Hochzeit statt, und ausgerechnet während der mehrwöchigen Hochzeitsreise nach Italien erkrankt zuhause der Alte und stirbt wenig später.

Die Geschichte wird von einem auktorialen Erzähler – aus kritischer Distanz – chronologisch erzählt, sie umfasst einen Zeitraum von etwa einem Jahr, über die Jahre 1896/97 hinweg. Die Figuren sind wunderbar treffend, geradezu brillant charakterisiert, was sich in weiten Teilen insbesondere in herrlichen, vor Geist und Witz geradezu funkelnden Dialogen artikuliert, in einer fiktionalen, natürlich ironisch überhöhten Konversation. Und dabei ist speziell die Figur des alten Stechlin von einer tiefen Menschlichkeit geprägt, die Standesunterschiede zwar nicht negiert, im Umgang mit den einfachen Leuten aber von wohltuender Konzilianz ist. Was insbesondere auch für seinen treuen Diener Engelke gilt, der immerhin fünfzig Jahre mit ihm durchlebt hat. Gerade die altväterliche Sprache, in der diese Geschichte erzählt ist, macht den Reiz dieses vor mehr als 120 Jahren geschriebenen, großen Romans aus. Sie lässt die vielen markanten, oft skurrilen, aber fast immer auch sehr sympathischen Figuren vor des Lesers Augen lebendig werden, wobei das weibliche Gegenstück zu Dubslav die ältere Schwester der Braut ist, die ebenso geistreiche wie schöne Melusine, – was für ein Name!

Ich habe diesen Roman vor Jahren als Hörbuch kennen gelernt, unübertrefflich gelesen von Gert Westphal, und schon damals ging es mir so wie jetzt wieder bei der Lektüre: Ich fühlte mich so wohl wie die Katze auf der warmen Ofenbank, ich hätte schnurren können vor Behagen! Außer dem unterhaltsamen Wohlbehagen, das kaum ein anderer Roman derart verschwenderisch erzeugen kann, ist der Leser auch tief hineingezogen in die politischen Verhältnisse der damaligen Epoche, die Fontane bei all seiner offensichtlichen Sympathie für das ostelbische Junkertum hier auch gesellschaftskritisch beleuchtet. Ein Jahrhundertroman!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Die Aspern-Schriften

Vom steinernen Zölibatär

Der im angelsächsischen Sprachraum als Kultautor verehrte Schriftsteller Henry James hat auch in dem Roman «Die Aspern-Schriften» von 1888 ein grandioses Beispiel geliefert für seine Kunst, psychologisch ausgefeilte Frauenfiguren zu erschaffen, das andere Geschlecht also vielschichtig und tiefgründig darzustellen. Dabei bleibt allerdings eine – nicht ganz unwichtige – Komponente des Weiblichseins völlig ausgeschlossen. Der Autor hat sich selbst mal als einen «sexuellen Selbstversorger» bezeichnet, seine Geschichte – wen wundert’s – ist ein geradezu puritanisch anmutender Text ohne jeden erotischen Esprit. Aber auch Wittgenstein hat ja in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus gefordert: «Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen». Es bleibt aber, das sei vorweg gesagt, genügend übrig aus dem fragwürdigen Innenleben seiner Figuren, was diesen subtilen Roman trotzdem zu einem Lesevergnügen werden lässt.

In einem kammerspielartigen Plot mit nur drei Hauptfiguren und einem verfallenen Palazzo in Venedig als Bühne wird die Geschichte einer literarischen Obsession erzählt. Ein amerikanischer Ich-Erzähler, der namenlos bleibt und auch altersmäßig unbestimmt, ist als Herausgeber von Werken des – etwa um 1820 herum – jung verstorbenen, romantischen Dichters Jeffrey Aspern auf der Suche nach hinterlassenen Schriften von ihm. Dabei ist er auf Juliana Bordereau gestoßen, die einst zu seinen Musen gehörte und in seinem Werk etliche Spuren hinterlassen hat. Sie lebt hochbetagt mit Tina, ihrer Nichte ebenfalls unbestimmten Alters, die genau so gut auch ihre Großnichte sein könnte, völlig zurückgezogen in Venedig. Auf schriftliche Anfrage wird der Romanheld denn auch brüsk abgewiesen, also versucht er mit einer List, in die Nähe der uralten Dame, – eine Hundertjährige mutmaßlich -, und damit auch an die bei ihr vermuteten, begehrten Papiere zu kommen, Liebesbriefe höchstwahrscheinlich. Und tatsächlich zieht er unter falschem Namen und unter einem trickreichen Vorwand für eine horrende Summe als Untermieter in den Palazzo ein und kann auch tatsächlich, nach anfänglich eiskalter Abweisung seitens der Damen, allmählich einen Kontakt zu ihnen aufbauen. Seine wahnhafte Gier nach schriftlichen Zeugnissen seines Dichter-Idols, den er auf einer Stufe sieht mit Shakespeare, lässt ihn alle Demütigungen ertragen und bringt ihn finanziell an den Rand des Ruins. Moralische Skrupel kennt er nicht, «es gibt keine Niederträchtigkeit, die ich nicht um Jeffrey Asperns willen begehen würde» sagt er im Roman. Der Nichte verrät er schließlich den wahren Grund seines Aufenthalts im Palazzo, und nach dem ersten Schrecken deutet sie vage an, ihm vielleicht ja helfen zu können.

Die in neun Kapiteln konventionell erzählte, spannende Geschichte, die zeitlich nur einige wenige Monate umfasst, steigert sich in einer geschickten Dramaturgie auf ein so nicht unbedingt vorhersehbares Ende zu. Mit ihrem kenntnisreichen Nachwort gibt die Übersetzerin dem Leser eine hochwillkommene Ergänzung des Textes zur Hand, die auf dessen viele Bezüge zum Ambiente Venedigs eingeht, auf die im Roman beschriebenen Kunstwerke zudem, vor allem aber auf das verwirrend komplexe psychische Geflecht der drei Protagonisten. An dieser Stelle erfahren wir auch, dass all dem eine Anekdote zugrunde liegt von einem Geschehen, das sich im Jahre 1879 in Florenz zugetragen habe, – mit identischem Ausgang der Geschichte übrigens.

Der sprachlich recht altbackene Roman mit seiner enigmatischen Erzählweise lässt den Lesern reichlich Raum für eigene Interpretationen. Mit kriminalistischen Anklängen wird da von beiden Seiten ein ebenso schlitzohriger wie erbitterter, skrupelloser Kampf zwischen den Damen und dem im Nachwort als «steinerner Zölibatär» bezeichneten Ich-Erzähler geführt. Keiner von ihnen kann wirklich gewinnen, was einen nicht unwesentlichen Teil des – zugegeben – schadenfrohen Lesevergnügens ausmacht, bei mir war es jedenfalls so!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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