Paare, Passanten

strauss-1Kunst plus Haltung

Als Schriftsteller ist Botho Strauß hauptsächlich durch seine erfolgreichen Bühnenstücke bekannt, sein episches Werk besteht neben einigen wenigen Romanen aus schwer einzuordnender Prosa, zu der auch «Paare, Passanten» gehört. Wir haben es hier nicht mit einem Roman im klassischen Sinne zu tun, auch wenn dieses 1981 erstmals erschienene Prosawerk später in die Bibliothek «Große Romane des 20. Jahrhunderts» der Süddeutschen Zeitung aufgenommen wurde. Vielmehr handelt es sich um eine fragmentarische Textsammlung zu verschiedenen Themen, die dem 37jährigen Autor auf der Seele brannten, man merkt sein Engagement, aber auch seine Ungeduld angesichts ihm gegen den Strich gehender Erscheinungen, Befindlichkeiten, Fehlentwicklungen, und zwar solche des Menschen im Allgemeinen und der bundesrepublikanischen Gesellschaft jener Jahre im Besonderen. Insoweit verspricht dieser Prosaband aus der Feder eines Dramatikers, der hier wie dort gerne Tacheles redet, reichlich Material zur geistigen Auseinandersetzung zu liefern, und in der Tat, der Leser bekommt Impulse für das Training seiner grauen Zellen in überwältigender Fülle.

In sechs Abschnitte gegliedert und aus der Ich-Perspektive erzählt breitet der Autor seine Beobachtungen und Reflexionen in unterschiedlich umfangreichen, skizzenhaften Textfragmenten vor dem Leser aus. Es beginnt wie im Buchtitel mit «Paare», dem längsten Abschnitt, in welchem Beobachtungen aus dem unerschöpflichen Fundus der Beziehungen zwischen den Geschlechtern analysiert werden, allerdings aus einer unverkennbar männlichen Sicht, was denn auch prompt scharf kritisiert wurde. Verblüffend ist, wie genau Botho Strauß hinschaut, selbst aus den kleinsten Regungen seiner Probanden, – denn so kommen sie einem wirklich vor, seine Figuren aus der Gegenwart Anfang der Achtzigerjahre -, zieht er messerscharf seine Schlüsse, entlarvt er unterschwellig Vorhandenes als Ursache auffälliger menschlicher Verhaltensweisen. Nach, wie ich meine, weniger interessanten Betrachtungen im Abschnitt «Verkehrsfluss», die im Wesentlichen die Verhaltensphysiologie betreffen, wendet sich der Autor im dritten Abschnitt unter dem Titel «Schrieb» dem zu, was literarisch interessierte Leser nun sehr direkt berührt, der Schriftsteller als solcher nämlich, einerseits als Kunstschaffender, wenn er denn gut ist, und andererseits als Denker und Mahner. Seine Haltung erscheint dabei nicht weniger wichtig als seine Schreibkunst, Erstere setzt vielmehr, was seine Reputation anbelangt, langfristig die Maßstäbe. Dabei plädiert der Autor vehement für ein von jedweder Dialektik befreites Denken, auch wenn wir so «auf Anhieb dümmer» denken würden.

Nach zwei weiteren Abschnitten unter den Titeln «Dämmer» und «Einzelne» folgt im letzten, zweitlängsten Abschnitt «Der Gegenwartsnarr» eine Analyse des Autors zu Themen wie Angst, Atomkrieg, Nazi-Erbschaft, Identität, Glaube, Kunst, Ökologie, aber auch zu verschiedenen Aspekten der Tagespolitik jener Zeit, zum technischen Fortschritt und natürlich zu den Medien. All diese mehr oder weniger kurzen Skizzen fügen sich zu einem Gesamtbild, das uns eine überaus pessimistische Weltsicht eines deutschen Autors präsentiert, der sich fast schon wie ein Misanthrop gebärdet in seiner grenzenlos scheinenden Skepsis. Denn all die Übel dieser Welt sind selbstgemacht, von «Gegenwartsnarren», so sein Tenor.

Nun haben wir es leicht, mehr als dreißig Jahre später schlauer zu sein, die düsteren Vorhersagen sind mal wieder nicht eingetroffen, warum sollte es Botho da besser ergehen als Kassandra? Gleichwohl ist es lohnend, den von Neologismen (Saisonliteraten, Grauzonengeschlecht) nur so wimmelnden Reflexionen, Aphorismen und Kurzgeschichten dieses sprachlich hochklassigen Autors zu folgen. Den Leser erwartet eine nicht gerade leichte, völlig humorfreie, aber sehr bereichernde Lektüre eines kunstsinnigen Mahners, den außer seiner literarischen Kunst auch eine unduldsame Haltung kennzeichnet.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der dritte Mann

green-graham-1Roman vs. Spielfilm

Der britische Schriftsteller Graham Greene gilt als der Autor mit den meisten Nominierungen für den Nobelpreis, erhalten hat er ihn nie. Manchen galt er als nicht idealistisch genug oder als nicht hinreichend moralisch, Anderen als kommunismusverdächtig oder zu wenig liberal, nach seiner Konversion den Katholiken als zu ketzerisch, den Atheisten als zu katholisch, ein Individualist also, der schwer einzuordnen war. Literarisch thematisiert er, häufig in Form von Abenteuer-, Spionage- oder Kriminalgeschichten, die Problematik von Schuld, Treue und Verrat, kein Wunder, gab es in seiner bewegten Vita immerhin auch eine kurze Phase geheimdienstlicher Tätigkeit. Fast alle seine Werke sind verfilmt worden, so auch der Roman «Der dritte Mann», mit Orson Welles in der Hauptrolle einer der unsterblichen Klassiker des Spielfilms. Wobei der Zitherspieler Anton Karas mit seinem Harry-Lime-Theme eine kongeniale Filmmusik geschaffen hat, die ihrerseits lange Zeit ein Gassenhauer war, Synonym geradezu für diesen berühmten Thriller.

Im Vorwort seines Romans schreibt Greene: «Der dritte Mann wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern um gesehen zu werden». Für das geplante Filmprojekt mit Carol Reed als Regisseur sollte er das Drehbuch schreiben, mehr als ein paar Zeilen, eine Idee, lagen aber noch nicht vor. «Es ist für mich nahezu unmöglich, ein Drehbuch zu schreiben, ohne den Stoff zunächst als Erzählung zu behandeln», lässt er uns wissen. Diesem Unvermögen also verdanken wir einen spannenden Roman, die zeitlich im Wien der Nachkriegszeit angesiedelt ist, als die Stadt sich unter dem Vier-Mächte-Status in einer politisch seltsam anmutenden Konstellation befand. Die dafür symptomatischen Polizeistreifen mit ihren vier aus den jeweiligen Siegernationen stammenden Militärpolizisten, immer zusammen in einem Jeep, jeder in der Uniform seines Landes, dürften für jüngere Leser, vermute ich mal, kaum noch vorstellbar sein. Der Schwarzmarkt blühte damals, es gab viele Schieberbanden, die illegal mit allem Möglichen handelten und die Polizei in Atem hielten. In diesem Milieu ist die ziemlich mysteriöse Geschichte von Harry Lime angesiedelt, die von einem englischen Polizisten, Oberst Calloway erzählt wird.

Rollo Martins, unter dem Pseudonym Buck Dexter wenig erfolgreicher Autor billiger Wildwestromane, bekommt durch Vermittlung seines Freundes Harry den lukrativen Auftrag, in Wien einen bestimmten Zeitungsartikel zu schreiben. Als er dort eintrifft, erfährt er, dass Harry bei einem Verkehrsunfall getötet wurde. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Ich-Erzählers Calloway, abwechselnd wird immer wieder protokollartig das Geschehen neutral geschildert, die Polizeiakten zitierend, die über Lime angelegt sind. Denn der war, zum Entsetzen seines gutgläubigen Freundes, in kriminelle Schwarzmarktgeschäfte verwickelt. Nach und nach gelingt es Martins zusammen mit dem Oberst, die Hintergründe des rätselhaften Todes vom Lime aufzuklären, hier mehr zu erzählen verbietet sich aber. Einerseits, um die Spannung nicht zu verderben, andererseits ist der Fortgang der Geschichte vielen Kinobesuchern längst hinreichend bekannt.

«Tatsächlich ist der Film besser als die Erzählung», schreibt Greene im Vorwort. Dem kann ich nicht zustimmen, denn der Film, der in meinem Kopf entstand, als ich das Buch jetzt gelesen habe, war ebenso spannend, ebenso unterhaltend, er war darüber hinaus aber auch amüsant. Der schwarze englische Humor schimmert häufiger durch, und besonders köstlich ist für Buchleser der literarische Abend im British Council, den Martins alias Dexter zu bestreiten hat, unter diesem Synonym wurde er nämlich mit einem namensgleichen berühmten Autor verwechselt. Als er dort gefragt wird, wie er denn James Joyce literarisch einordnen würde, antwortet er zum Erstaunen des Auditoriums: «Ich habe noch nie von ihm gehört». Es lohnt also doch, zu lesen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Rebellion + Die Legende vom heiligen Trinker

roth joseph-1Wahrheit und Gerechtigkeit

In diesem Band sind zwei Werke des in relativ wenigen Schaffensjahren entstandenen, umfangreichen Œuvres von Josef Roth zusammengefasst, «Die Rebellion», sein erstes größeres Prosawerk, und die Novelle «Die Legende vom heiligen Trinker», 1939 in seinem Todesjahr erschienen. Sie umschließen, wie der Klappentext erläutert, «Lebenswerk und geistige Haltung des österreichischen Erzählers … auf exemplarische Weise». Seinen Zeitgenossen war er hauptsächlich als Journalist bekannt, der überwiegende Teil seiner veröffentlichten Werke stammt aus dieser Tätigkeit. Der wechselvolle Lebensweg des jüdischen Schriftstellers ist geradezu ein Abbild der politischen Verhältnisse zwischen den beiden Weltkriegen, ein unstetes Leben auf der Flucht, das in Brody in Galizien begann und im Exil in Paris endete.

Der Roman «Die Rebellion» ist eine bitterböse Satire auf den Obrigkeitsstaat, erzählt wird die Geschichte des Kriegskrüppels Andreas Pum. Sie beginnt im Kriegsspital, sarkastisch heißt es da gleich eingangs: «Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr als nur ein Bein verloren hatten». In einer raffiniert naiven Sprache erlebt man den Wandel des einfältig erscheinenden, unbeirrt und optimistisch an den wohltätigen Staat glaubenden Invaliden zum Rebellen. In einer kafkaesk anmutenden Szenerie wird er immer tiefer in ein unheilvolles Geschehen hineingezogen, bei dem sich sein Glaube an die Obrigkeit zusehends verliert, er schließlich sogar für fünf Wochen unschuldig im Gefängnis landet. Sein äußerst bescheidenes Lebensglück wird dadurch völlig zerstört, seine Frau wendet sich von ihm ab, nach der Entlassung muss er als Toilettenwärter arbeiten. Eine durch den ihm wohl gesonnenen Gefängnisdirektor erwirkte Revision erlebt er nicht mehr, und schon im Delirium versunken, erscheint er vor dem himmlischen Richter. In einer rebellischen Schmährede befreit er sich von den Lasten seiner gequälten Existenz und zürnt gegen die schreienden Ungerechtigkeiten in dieser Welt. «Ich will deine Gnade nicht! Schick mich in die Hölle!» schleudert er Gott entgegen. Man findet ihn tot in der Herrentoilette, seine Leiche aber kam, «weil gerade Leichenmangel war und obwohl sie nur ein Bein hatte, ins Anatomische Institut».

In der Novelle «Die Legende vom heiligen Trinker» erlebt der unter den Brücken von Paris lebende, alkoholsüchtige Clochard Andreas Kartak eine wundersame Reihung glücklicher Zufälle. Er trifft auf wohlmeinende Menschen, die ihm unverhofft immer wieder aufs Neue Geld zukommen lassen, ihn aus seinen prekären Verhältnissen befreien. Dem ersten dieser Gönner kündigt er, der sich als Ehrenmann fühlt, die Rückzahlung der erhaltenen zweihundert Francs an, um schließlich aber doch jedes Mal damit zu scheitern, dieses Geld wie vereinbart einem Priester in der Kapelle mit der Statue der heiligen Therese von Lisieux zu übergeben. Denn er vertrinkt und verprasst immer wieder den unverhofften Geldsegen. Bei seinem letzten Versuch, sein Versprechen zu erfüllen, wartet er in einem Bistro gegenüber der Kapelle auf das Ende der Messe, als plötzlich ein junges Fräulein eintritt, das er für die heilige Therese hält, die sein Geld jedoch nicht annehmen will, ihm vielmehr selbst hundert Franc schenkt. Vom Schlag getroffen «fällt er um wie ein Sack» und stirbt schließlich in der Sakristei, wohin man ihn gebracht hat. Josef Roth, selbst dem Alkohol verfallen, beendet seine Novelle mit dem hoffnungsvollen Satz: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod»!

Beide Geschichten sind in einer wunderbar klaren, ruhigen Sprache verfasst, die in wohlgesetzten Worten mit einem eher einfältig anmutenden Duktus den Hauptanliegen des Autors, Wahrheit und Gerechtigkeit, eine mahnende Stimme verleiht, deren Sog man sich als Leser wohl kaum entziehen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der englische Patient

ondaatje-1Mit Herodot in der Wüste

Aus dem breit angelegten Œuvre des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje ragt der im Erscheinungsjahr 1992 mit dem Booker Price prämierte Roman «Der englische Patient» besonders hervor. Nicht zuletzt wegen der mit 9 Oscars prämierten Verfilmung wurde er später weltberühmt und damit auch einem größeren Lesepublikum bekannt. Vor allem die Kinobesucher werden sich fragen, ob die Lektüre des Romans lohnend sei, was ich hier schon mal bejahen kann, mit Einschränkungen allerdings.

Zu dem titelgebenden Patienten und seiner jungen Krankenschwester Hana, die in der zerbombten und von den zurückweichenden deutschen Truppen verminten toskanischen Villa San Girolamo hausen, gesellt sich außer dem Dieb und britischen Geheimdienstler Caravaggio, ein Freund von Hanas verstorbenem Vater, auch Kip, ein junger Sikh im britischen Militärdienst, der dort als Minenräumer arbeitet. Caravaggio interessiert sich für den mysteriösen Patienten, den Hana für einen Engländer hält, Kip wiederum hat eine kurze Affäre mit Hana. Die vier Protagonisten sind Strandgut des Zweiten Weltkrieges, sie sind allesamt desillusioniert einer paralysierenden, noch sehr nahen Vergangenheit entronnen. Die Handlung ist zweisträngig aufgebaut, sie wechselt zwischen Kriegsende 1945 und der Zeit vor und während des deutschen Afrikafeldzuges in Libyen und Ägypten. In Rückblenden erzählt der Patient von seiner Arbeit als Forscher in der libyschen Wüste und von der heftigen Liebesbeziehung zu der frisch angetrauten Frau eines Kollegen, die tragisch endet, – Filmbesucher kennen die spektakuläre Szene. Caravaggio gelingt es in seinen Gesprächen mit dem Patienten, dessen Identität zu enthüllen, es handelt sich um den Ungarn Graf Ladislaus de Almásy, der für die Deutschen spioniert hat, für Rommel.

Als Schriftsteller der Postmoderne benutzt Ondaatje hier wie auch in vielen seiner anderen Werke eine fragmentarische Erzählweise, die fotografischen Schnappschüssen ähnelnd einen Teil des Plots behandelt, um sich dann unvermittelt wieder einem anderen zuzuwenden. Zwischen Krankenbett und Saharaforschung oszillierend werden auf diese Art in den zehn Kapiteln des Romans beide Strängen der Handlung parallel vorangetrieben. Ergänzt wird dies durch Rückblenden in Caravaggios Spionagezeiten sowie den minutiös geschilderten Arbeiten von Kip bei der hochriskanten und immer komplizierter werdenden Entschärfung von Bomben und der Räumung von Minenfeldern. Diese Abschnitte werden jeweils aus der Perspektive der einzelnen Figuren erzählt, wobei diese selbst merkwürdig seelenlos bleiben, keine Empathie erzeugen. Abweichend von der ansonsten durchgängig auktorialen Erzählsituation tritt Ondaatje im letzten, «August» überschriebenen Kapitel als personaler Erzähler auf, wenn er über Hana schreibt: «Sie ist eine Frau, die ich nicht gut genug kenne, um sie unter meine Fittiche zu nehmen, sollten denn Schriftsteller Flügel haben, und ihr für den Rest meines Lebens Schutz zu gewähren.» Er führt das Schicksal der anderen Figuren nicht näher aus, nur Kip erscheint am Ende als in seine Heimat zurückgekehrter, verheirateter Arzt, der im August 1945 entsetzt den Abwurf der ersten Atombomben zum Anlass genommen hatte, seinen Dienst zu quittieren.

In einer zweiseitigen Danksagung nennt der Autor am Schluss des Buches die Quellen für seine detaillierten Beschreibungen, akribisch recherchierend hat er es meines Erachtens mit dieser Detailfülle allerdings übertrieben, weniger wäre hier mehr gewesen. Zweifel habe ich nach der Lektüre auch gehabt, ob und wie das alles zusammengeht, was ich da so gelesen habe über Liebe, Wüste, Krieg, Bomben, Minen, Italien. Die Passagen, in denen es um Herodot geht, dessen Buch der Patient, mit eigenen Notizen angereichert, ständig bei sich trug und aus dem Hana ihm vorliest, waren für mich die erfreulichsten in diesem vielschichtigen Roman, der von den Verheerungen berichtet, die der Krieg anrichtet, – und manchmal auch die Liebe.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Sudelbücher

lichtenberg-1Gar nicht hohl

Er selbst nannte sie «Sudelbücher», jene uns überlieferten acht Wachstuchhefte, zwischen 1764 und 1799 entstanden und ein Jahrhundert später, 1901 erstmals vollständig herausgegeben, die von Georg Christoph Lichtenberg als «vermischte Einfälle, verdaute und unverdaute» charakterisiert wurden. Es waren Arbeitsmaterialien für ihn, Notizen, Anmerkungen, Entwürfe auch, die meist Fragment blieben, dem Zufall zu verdankende, spontan niedergeschriebene Einfälle philosophischer, politischer, historischer und psychologischer Art, deren innere Ordnung einzig in der Chronologie liegt. All dies war niemals zur Veröffentlichung bestimmt, worin ein besonderer Reiz liegt, denn unredigiert verraten sie natürlich weit mehr vom Wesen ihres Verfassers, sind wahrhaft authentisch, nicht auf ihre Anfechtbarkeit hin bereinigt oder entschärft. Nicht selten allerdings sind diese ziemlich unverblümt formulierten Einfälle entlarvend, zeigen gnadenlos die Widersprüche und Irrtümer auf, die selbst einem großen Denker wie Lichtenberg unterlaufen können, womit er sich de facto einer rigorosen Selbstkritik unterworfen hat.

Die Großen jener Zeit suchten den Kontakt mit dem berühmten Göttinger Physikprofessor, dessen universale Bildung neben vielen der Fachkollegen auch so unterschiedliche Geister wie Kant oder Goethe zum regen Gedankenaustausch reizte, den Weimarer allerdings mit seiner Farbenlehre, nicht der Literatur wegen. Beidem übrigens, Farblehre und Dichtkunst, wie auch der Philosophie Kants, stand Lichtenberg ablehnend gegenüber. So wie er sich überhaupt recht streitlustig zeigte, unbeirrt seinem Prinzip treu bleibend, alles immer wieder kritisch zu hinterfragen, Dogmen nicht zu akzeptieren.

Die Sudelbücher sind keine Sammlung von Aphorismen, auch wenn sie viele enthalten, und so wird auch ihr Verfasser im deutschsprachigen Raum meist an vorderster Stelle genannt in dieser literarischen Disziplin, zusammen mit Novalis und Nietzsche. Sie enthalten zudem Denksprüche, wie sie auch Goethe in seinen «Maximen und Reflexionen» gesammelt hat. Ihren Verfasser weisen die Sudelbücher damit als scharfen Beobachter, als Menschenkenner und witzigen Kommentator aus, der originelle Ideen und Erkenntnisse zu Papier bringt und dabei den berühmten französischen Kollegen La Rochefoucauld oder Montaigne in nichts nachsteht, – letzteren übrigens hält er für einen Schwätzer. Auch die Kirche bekommt ihr Fett ab, «Die Religion, eine Sonntagsaffäre», schreibt er, oder: «Manche Leute beten nicht eher, als bis es donnert». Seine Skepsis kommt auch in der listigen Frage zum Ausdruck, ob denn Gott katholisch sei. Oder, noch krasser: «Da sie sahen, dass sie ihm keinen katholischen Kopf aufsetzen konnten, schlugen sie ihm wenigstens seinen protestantischen ab». Und der Physiker ist erkennbar, wenn er anmerkt: «Dass in Kirchen gepredigt wird, macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig».

Auf den Leser wartet eine kurzweilige Lektüre, bestens portionierbar in kleinen Texthäppchen, ein Buch also, dass man immer wieder mal zur Hand nimmt, auch wenn man es schon komplett gelesen hat. Lichtenbergs Verhältnis zu Büchern scheint distanziert zu sein, wie einem Brief zu entnehmen ist: «Da ich schlechterdings kein Holz mehr kaufen mag, so habe ich mir vorgenommen, Bücher zu brennen … und da hoffe ich doch einmal einen warmen Fuß zu kriegen». Vom Buch als idealem Brennmaterial ist auch in den Sudelbüchern mehrfach zu lesen. «Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen». Und nicht nur für Buch-Rezensenten, auch für geplagte Deutschlehrer mag die berühmte Frage tröstend sein, mit der die wahre Ursache von Meinungsverschiedenheit bei literarischen Werken ultimativ geklärt ist: «Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?» In diesem Buch bestimmt nicht!

Fazit: erfreulich

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Christus kam nur bis Eboli

levi-c-1Sehr eigenständiger Duktus

Der Ruhm des italienischen Schriftstellers Carlo Levi gründet sich heute ausschließlich auf seinen 1945 erschienenen, stark autobiografisch geprägten Roman «Christus kam nur bis Eboli», der in 37 Sprachen übersetzt und später dann auch verfilmt wurde. Der in Turin geborene Autor und Maler stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen und studierte Medizin, wandte sich aber schon bald der Malerei zu und engagierte sich politisch. Als Antifaschist wurde er 1934 verhaftet und in die Verbannung nach Lukanien geschickt, in die Provinz Matera der heutigen Region Basilicata, wo er sich als Konfinierter zunächst in dem Städtchen Grassano und vom September 1935 bis Mai 1936 in dem Dorf Aliano aufhalten musste. Seine Beobachtungen und Erlebnisse dort hat er fast zehn Jahre später dann im Palazzo Pitti in Florenz niedergeschrieben, wobei das Romandorf den leicht verfremdeten Namen Galiano erhielt.

Allein prägend für diesen Roman, das habe ich beim zweiten Lesen nach vielen Jahren erneut festgestellt, sind die darin geschilderte Zustände einer archaische Gesellschaft im Mezzogiorno vor mehr als acht Jahrzehnten. Armut und Elend damals übersteigen das Vorstellungsvermögen heutiger Leser bei Weitem, und so wundert man sich denn auch nicht, dass die Einwohnerzahl von Aliano sich von 1951 bis 2001 auf 1284 Einwohner fast halbiert hat, eine hoffnungslose Entwicklung, die tief blicken lässt. Die Ursachen dafür reichen weit zurück, Levi ist als zeitgenössischer Berichterstatter damals jedenfalls entsetzt über eine süditalienische Gesellschaft, die seiner norditalienischen so gar nicht ähnlich ist. Mit scharfem Blick für kleinste Details und einer beeindruckenden Menschenkenntnis beschreibt er seine neue ländliche Umwelt sehr liebevoll, aber aus kritischer Distanz. Besonders gelungen sind seine Figuren, die er uns in großer Zahl, geradezu medizinisch sezierend, physisch vor Augen führt, deren Wesen er aber nicht minder genau auch psychisch durchleuchtet, ihre Fehler, Schwächen und Macken wie auch ihre liebenswerten Seiten.

Die praktisch nicht vorhandene medizinische Betreuung der in unsäglichem Elend lebenden Bauern, die ihrem kargen Boden in einer malariaverseuchten schroffen Landschaft nur armseligste Erträge abringen können, zwingt Levi trotz Verbot, als Arzt tätig zu werden, obwohl ihm jede praktische Erfahrung fehlt. So lernt er unfreiwillig nicht nur die erschreckenden hygienischen Zustände hautnah kennen, unter denen die Landbevölkerung leben muss, er hört auch von seltsamen Bräuchen und wird mit dem weit verbreiteten Aberglauben konfrontiert, für dessen märchenartige Mystik mit Hexen und Gespenstern das Christentum nur eine unter vielen Spielarten ist. Die titelgebende Redensart der lukanischen Bauern «Cristo si è fermato a Eboli» verdeutlicht somit die völlige Abgeschiedenheit im Mezzogiorno, Rom ist weit und ihnen feindlich gesinnt, man fühlt sich benachteiligt, abgehängt, vergessen, ohne etwas daran ändern zu können. Die Briganten des 18ten Jahrhunderts als Vorbild, bricht bei diesem verschlossenen Menschenschlag gelegentlich schon mal der Volkszorn durch, wird ein Carabiniere ermordet oder ein anderer Quälgeist der feindlichen Obrigkeit, – ohne dass sich allerdings etwas ändert dadurch, wie man resignierend erkennen muss.

Der handlungsarme Roman dient seinem Autor zu Reflexionen über die Zustände im Mezzogiorno, für die er einzig die Politik verantwortlich macht. Die Welt der Bauern dort sei seit ewigen Zeiten unveränderlich, nur weitgehende Autonomie könne dort etwas bessern. In Skizzen und Anekdoten wird hier essayartig eine knapp einjährige Verbannung beschrieben, die durch eine Generalamnestie vorzeitig endet. Der Thematik nach ist die Lektüre zwar bereichernd, ruhig erzählt zudem, aber nicht gerade erfreulich zu lesen, humorfrei außerdem, zuweilen sogar verstörend in ihrer distanzierten Erzählweise. Ohne Zweifel ein ganz besonderes Stück Literatur mit einem sehr eigenständigen Duktus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Das Sandkorn

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Hält das Böse drin, oder draußen

In seinem dritten Roman «Das Sandkorn» verblüfft Christoph Poschenrieder seine Leser mit einem jungen Mann, der auf den Straßen von Berlin Sand ausstreut, misstrauisch beäugt von den Passanten, und so dauert es auch nicht lange, bis die Polizei einschreitet und den seltsamen Mann zur Vernehmung mitnimmt. Es ist Krieg, später wird man ihn den Ersten Weltkrieg nennen, und da muss man auf der Hut sein, alles ist verdächtig. Mit seinem famosen Anfang erzeugt der Autor einen erzählerischen Sog, der bis zum überraschenden Schluss seiner Geschichte anhält, ja sogar bis zum Nachwort, der Notiz zur Geschichte der Geschichte, in der erst man schließlich die letzte Aufklärung findet.

Der mysteriöse Sandstreuer entpuppt sich auf der Polizeiwache als der Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn, der im Auftrag des Königlich Preußischen Historischen Instituts in Rom die steinernen Zeugen der Herrschaft des Stauferkaisers Friedrich II in Süditalien untersucht hat. Mit dem Kriegseintritt Italiens endete seine Mission, er musste nach Berlin zurückkehren. Poschenrieder erzählt seine Geschichte zweisträngig, einerseits wird chronologisch über die Erlebnisse seines Protagonisten berichtet, andererseits wird das Geschehen aus der Perspektive des verhörenden Kommissars Treptow dargestellt, dessen Manuskript mit Lebenserinnerungen in Einschüben zitiert wird. Beides ist interessant zu lesen und obendrein recht aufschlussreich, der kunstgeschichtliche Teil ebenso wie der kriminalistische.

Tolmeyn ist homosexuell, eine Neigung, die auszuleben vor hundert Jahren mit dem Strafgesetzbuch, dem berühmt-berüchtigten §175, kollidierte und entsprechend geahndet wurde. Als er deswegen erpresst wird, flüchtet er aus Berlin in eine Anstellung in Rom, von wo aus er schon bald als Forschungsleiter, immer auf den Spuren des zu seiner Zeit als Stupor mundi bewunderten Kaisers Friedrich II, verschiedene süditalienische Regionen bereist. Bei den Vermessungen, Ausgrabungen und fotografischen Dokumentationen der Bauwerke hilft ihm sein Kollege Beat, ein junger Wissenschaftler aus der Schweiz. Die Beiden verstehen sich nach anfänglicher Skepsis allmählich immer besser, entwickeln schließlich sogar große Sympathie füreinander, ohne dass über das rein Freundschaftliche hinaus eine weitergehende Beziehung entsteht. Der Autor schildert all dies extrem distanziert, die gleichgeschlechtliche Neigung wird von ihm kaum angedeutet, geschweige denn thematisiert. Tolmeyn entdeckt bei der mikroskopischen Untersuchung von Sandproben deren für jeden Fundort unterschiedliche, charakteristische Struktur, er sammelt daraufhin fleißig Proben aller besuchten Orte zur späteren Auswertung. Bei einer weiteren Reise in gleicher Mission werden die beiden Forscher dann von Letizia begleitet, die als Aufpasserin für den italienischen Staat fungiert. Auf ihren Wunsch hin unternimmt man gemeinsam einen privaten Ausflug zur Hexe von Barile, einer Seherin, die einem von ihnen großes Unglück prophezeit. Als die alte Frau am Ende murmelnd und Sand streuend ihr Haus umkreist, lautet ihre Antwort auf die erstaunte Frage nach dem Warum: «Hat immer geholfen. Hält das Böse drin, oder draußen».

Mit dem gut durchdachten Aufbau des Plots, von dem der Spannung wegen hier nicht mehr verraten werden soll, in einer leicht lesbaren Sprache unpretiös erzählt, ruft Poschenrieder nicht nur bei Italienliebhabern glänzende Augen hervor mit seiner netten Geschichte. Man lässt sich gern einfangen vom Zauber der besuchten Stätten, deren wichtigste, den Höhepunkt bildend, das Castell del Monte ist, von dem uns schon im Vorspann des Buches ein Foto aus dem Jahre 1908 empfängt, die «Kaiserkrone aus Stein» jenes Federico Secondo, des heimlichen Helden dieses Romans.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der Name der Rose

eco-1Viel Mönchslatein

Der emeritierte Professor Umberto Eco, der unter den Intellektuellen der Welt laut einer Umfrage einen der Spitzenplätze einnimmt, genießt als Semiotiker hohes Ansehen, der Italiener ist aber auch politisch stark engagiert und wurde 1980 mit seinem ersten und natürlich auch verfilmten Roman «Der Name der Rose» schlagartig einem breiten Publikum bekannt. Seine wissenschaftliche Laufbahn hatte er mit einer Dissertation über die Ästhetik bei Thomas von Aquin begonnen, eine Thematik, auf die er in dem berühmten Roman zurückgreift mit seiner spannenden Geschichte. Als Krimi im mittelalterlichen Kloster könnte man das dicke Buch plakativ bezeichnen, wären da nicht Hunderte von Seiten gefüllt mit theologischen Streitgesprächen und philosophischen Betrachtungen, mit religiösen Zeremonien und Exerzitien sowie politischen Ränkespielen in einer finsteren Zeit. Ohne den Aspekt des Krimis würde das Buch also sicherlich deutlich weniger Leser finden, es wäre mehr ein populäres Sachbuch über das Klosterleben jener Epoche, zur Blütezeit der Bettelmönche, – für wissbegierige Leute mit Latinum.

In einem Prolog erzählt Umberto Eco, wie er durch Zufall zu dem Stoff für seinen Roman kam, und schon dieses Vorwort ist ähnlich rätselhaft wie die Geschichte, auf die es hinweist. Die Ereignisse, über die aus der Perspektive des Adson von Melk berichtet wird, einem jugendlichen Novizen des Benediktinerordens, ereignen sich während sieben Tagen Ende November 1327, entsprechend sind auch die Kapitel benannt, die wiederum in acht Abschnitte gegliedert sind – Mette, Laudes, Prima, Tertia, Sexta, Nona, Vesper, Komplet – die den liturgischen Stunden entsprechen. William von Baskerville erhält den Auftrag, ein Treffen seines Ordens mit dem Papst in Avignon vorzubereiten, dem die Position der Franziskaner zur Armut Christi ein Dorn im Auge ist. Man trifft sich in einem italienischen Kloster, das für seine einzigartige Bibliothek weltberühmt ist. Gleich nach der Ankunft Williams mit seinem Adlatus Adson ereignet sich ein mysteriöser Todesfall. Besorgt bittet der Abt den ehemaligen Inquisitor, der für seinen scharfen Verstand bekannt ist, um rasche Aufklärung, bevor die päpstliche Delegation eintrifft. Gleichwohl geschehen noch mehrere Morde, die scheinbar alle einen Bezug zu der geheimnisvollen Bibliothek haben, die nur der Bibliothekar persönlich betreten darf und niemand sonst, nicht mal der Abt.

Sherlock Holmes und Dr. Watson standen Pate für Ecos Protagonisten, die im Stile des berühmten Detektivs durch deduktive Methoden den immer komplizierter werdenden Fall zu lösen versuchen. Es versteht sich, dass der Spannung wegen mehr hier nicht gesagt werden darf, die Auflösung findet sich genretypisch in einem ebenso überraschenden wie grandiosen Showdown. Umrahmt sind die beiden Helden von einer Fülle von Figuren des Klosters, von denen dreiundzwanzig vorab unter Dramatis Personae aufgelistet werden, was die Orientierung sehr erleichtert. Darüber hinaus aber werden in den Gesprächen und Disputen unzählige Namen genannt, die den Normalleser ohne Theologie- und Geschichtsstudium weit überfordern dürften. Gleiches gilt für ebenfalls unzählige lateinische Begriffe, Redewendungen und Zitate, von denen leider nur einige wichtige Passagen im Anhang übersetzt werden, was natürlich dem Lesefluss nicht gerade zuträglich ist.

Die ungeheure gedankliche Fülle ist zweifellos sehr bereichernd, und auch wenn Vieles davon nur Fachleuten immer und vollinhaltlich verständlich sein dürfte, kann und muss man nicht jeden Begriff nachschlagen. Denn der Lesespaß stellt sich gerade auch durch ironische Übertreibungen ein, die immer wieder zum Schmunzeln Anlass geben, Gleiches gilt für die lachhaft naive Frömmigkeit jener Zeit. Und über das Thema Buch vor Gutenbergs Erfindung wird man hier sehr anschaulich informiert, man ist ehrfürchtiger Gast im Skriptorium der Abtei. Es gibt also einige gute Gründe, diesen Roman zu lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Leseverführer

greiner-1Club der toten Dichter

«Nackenbeißer» nennt Ulrich Greiner in seinem Ratgeber «Leseverführer» reißerische Buchumschläge und beklagt: «Immer wieder garnieren seriöse Verlage ihre Bücher mit unseriösen Lockungen. Da sieht man die sehr erotische Rückenlinie einer nackten Frau – und findet drinnen eine ziemlich banale Selbstverwirklichungsepisode». Gar nicht banal verbirgt sich hinter dem hier vorliegenden Nackenbeißer «Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur», wie der Untertitel verheißt. Die dtv-Buchgestalter haben das Buch natürlich nicht gelesen, ihr Sex-sells-Cover stößt ernsthaft literarisch interessierte Leser nämlich eher ab. Der solcherart vom Verlag düpierte Autor wendet sich mit seinem Ratgeber natürlich an Laien und erklärt im Vorwort: «Damit sie keine falschen Erwartungen hegen: Dieses Buch enthält keinen Kanon der verbindlichen Texte».

Der renommierte Fachmann mit langjähriger Erfahrung im Literatur-Feuilleton gliedert sein Buch in zehn Kapitel mit jeweils einer resümierenden Pause. Dabei benutzt er deskriptive Titel, die sehr gut einstimmen auf das jeweilige Thema. Zunächst wendet er sich der Leselust als Phänomen zu, klärt dann über die dichterische Wahrheit auf und das Fortwirken literarischer Helden, von denen er Frodo ebenso benennt wie Winnetou, Tom Sawyer, Miss Marple und Sherlock Holmes, aber auch die antiken Helden, deren Namen unvergänglich sind. Sehr ausführlich widmet er sich Parzival und Michael Kohlhaas, um dann nach Werther, Emma Bovary, Don Quijote und Oblomow bei Kapitän Ahab zu enden. «Müssen gute Bücher schlecht ausgehen» ist das Thema im nächsten Kapitel, in dem eine Lanze für komische Romane gebrochen wird, abschließend mit dem Gedicht «Wo bleibt das Positive, Herr Kästner». Die Bedeutung der Anfänge wird an Beispielen von Fontane, Thomas Mann, Kafka, Musil, Thomas Bernhard, Hemingway, Melville und Tolstoi erläutert, wobei Greiner «Nennt mich Ismael» als kürzesten und prägnantesten Romananfang rühmt, den er kenne. «Ilsebill salzte nach» kennt er demnach nicht, Romananfang von Günter Grass in «Der Butt», der ja immerhin den Wettbewerb «Der schönste erste Satz» gewonnen hat und wahrlich nicht minder prägnant ist. Aber, um den wichtigsten Kritikpunkt an diesem Buch hier schon anzusprechen, des Autors Beispiele stammen leider aus ziemlich angestaubten Klassikern, man erkennt den rückwärtsgewandten Germanisten und fragt sich verblüfft nach der Zielgruppe für seinen Ratgeber.

Der lobenswerte Versuch, im sechsten Kapitel Aufschluss über die unterschiedlichen Erzählhaltungen und -perspektiven zu geben, ist leider misslungen, die genannten Beispiele sind eher verwirrend, das Wesentliche daran wird nicht verdeutlicht. Informativer ist da schon das nächste Kapitel, in dem an relativ aktuellen Beispielen von André Gide, Italo Calvino, Paul Auster und Georges Perec eher «artistische» Formen des Romans behandelt werden, was bei Letzterem zu einer wahren Eloge Greiners ausartet. Im folgenden Kapitel mit der Überschrift «Über Romane, die mit dem Leser spielen» setzt sich diese Thematik fort, zitiert werden dabei wieder Auster und Calvino. Den sprachlichen Aspekt gut geschriebener Roman behandelt das neunte Kapitel an Beispielen von Stifter und Konrad Weiß sowie – man staune! – von Juli Zeh.

Selbstkritisch erwähnt Greiner unter dem Zwischentitel «Was fehlt» seine Versäumnisse und nennt dann als nicht besprochen: Dostojewski, Balzac, Powys, Doderer, Henry James, Proust, Eichendorff und Joseph Conrad. Die wahren Versäumnisse aber zeigt gnadenlos das Register auf, für Greiner ist gute Literatur nur im «Club der toten Dichter» zu finden. Die Lektüre kann sich trotzdem lohnen, denn was er ausführt gilt natürlich auch für weniger vergilbte Bücher. Aber wenn er Arno Schmidt überhaupt nicht und Böll dezidiert im Kapitel «Über Romane, die nicht gut geschrieben sind» erwähnt, bezeugt er damit überdeutlich, dass «Fachleute» in der Literatur auch nur Menschen sind, die sich gewaltig irren können.

Fazit: mäßig

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Genre: Sachbuch
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Die Brücke über die Drina

andric-1Im Kanon der Weltliteratur

Im Jahre 1945 erschienen die drei Romane der «Bosnischen Trilogie» von Ivo Andrić, von denen «Die Brücke über die Drina» der mit Abstand bekannteste wurde. Sechzehn Jahre später erhielt Andrić den Nobelpreis «für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet». Sein weltberühmter Roman ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Okzident und Orient, symbolisiert durch jene Brücke in seiner bosnischen Heimatstadt Višegrad, die beispielhaft das multiethnische Zusammenleben auf dem Balkan thematisiert. Eine kunstvoll angelegte Geschichtsbeschreibung des auch als Politiker und Diplomat tätigen Autors, der sich entschieden für den Vielvölkerstaat Jugoslawien eingesetzt hat, welcher später so kläglich gescheitert ist. Warum, das erfahren wir Leser aus diesem historischen Roman, der insoweit auch eine Lehrstunde darstellt über politische und soziologische Hintergründe, äußere und innere Ursachen der unsäglichen, bis heute andauernden Querelen in diesem Unruheherd Europas.

Auf dem Weg zwischen Istanbul und Sarajevo gelegen, gewinnt Višegrad mit seiner steinernen Brücke wirtschaftlich, aber auch militärisch an Bedeutung. Ein weitsichtiger osmanischer Wesir hatte die Brücke nahe der Grenze zwischen Serbien und Bosnien in den Jahren 1571 bis 1578 erbaut, sie bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost und West. In diesem Epos, das von der Gemeinschaft verschiedener Ethnien in dieser kleinen Stadt erzählt, ergänzen sich historische Geschehnisse und menschliche Schicksale zu einem homogenen, den Leser mitreißenden Erzählstrom. Der zeitliche Horizont dieser «Višegrader Chronik» reicht über einige Jahrhunderte hinweg, er umfasst die türkische Herrschaft vom Bau der Brücke an bis hin zur Annexionskrise und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

In vielen Episoden und Szenen, garniert mit allerlei Anekdoten, wird aus wechselnder Perspektive chronologisch von all jenen Menschen erzählt, die im Umkreis der Brücke leben. Die drei monotheistischen Religionen sind dort gleichberechtigt nebeneinander vertreten, der Hodscha betreut seine Gemeinde ebenso wie der Pope und der Rabbiner. Man fristet ein äußerst karges Leben im ständigen Kampf mit den Naturgewalten, erträgt stoisch alles Ungemach, verharrt in einer latenten Lethargie über die Generationen hinweg, ist anfällig für dumpfen Aberglauben und skurrile Mythen. Inwieweit all dies deterministisch bedingt ist, gehört zu den großen Fragen, die der Roman aufgreift und aus der Innenperspektive zu beantworten sucht, wobei die Brücke mit ihrer Symbolkraft ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv bildet. Der Leser begegnet einer Hundertschaft archaischer Typen, physisch und psychisch ebenso liebevoll wie treffend beschriebene, herrlich lebensechte Figuren allesamt, die ein dichtes Geflecht von Beziehungen unterhalten, welche letztendlich das Miteinander über die Jahrhunderte hinweg bestimmen.

Besonders erhellend fand ich die Episode nach der Annexion, als die neuen österreichisch-ungarischen Machthaber eifrig Vieles zu erneuern und zu reparieren begannen, was nach Meinung der lethargischen Einheimischen durchaus noch lange hätte bleiben können wie es war. Kritisch befasst sich Ivo Andrić am Ende auch mit den sozialen Veränderungen beim Übergang in die Moderne, hinterfragt ungehemmten Kapitalismus, ausufernden Konsum und eine die Menschen manipulierende Medienflut. Dieser in Deutschland lange vergessene Roman eines in seiner Heimat wenig geachteten Schriftstellers ist in einer wunderbar klaren, angenehm lesbaren Sprache geschrieben, inhaltlich unglaublich dicht zudem, völlig ohne Arabesken. Jede einzelne Seite der bildstark erzählten Geschichte eröffnet weitere Aspekte und ergänzt die Handlung durch immer neue Facetten. Den Leser erwartet ein ruhig erzählter, überaus bereichernder Roman von einem zu Recht mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller, der damit ein kanonisches Werk der Weltliteratur geschaffen hat.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Die Liebe in groben Zügen

kirchhoff-1Nichts für faule Leser

Ein schwieriges Unterfangen, auf das sich Bodo Kirchhoff mit seinem gewichtigen Roman eingelassen hat, der Titel schon eine Untertreibung. Denn nicht in groben Zügen wird hier über die Liebe erzählt, das ewige Thema wird vielmehr in vielen Facetten sehr detailliert beschrieben, in unserer Zeit spielend, alles hochaktuell. Aber nicht nur die Liebe ist ein Thema, auch unsere Nöte mit dem Altwerden sind scharfsichtig geschildert, und das Sterben einer noch jungen, krebskranken Frau schließlich ist hier so eindringlich dargestellt, wie ich es noch nie erlebt habe in einem Buch. Der Autor ist ein sprachgewaltiger Erzähler, der manch Autobiografisches verarbeitet hat und dem man gerne folgt durch seine lange, ausführlich geschilderte Geschichte, denn der Weg ist das Ziel, und dieser Weg ist einfach immer wieder schön.

Protagonisten sind ein Ehepaar mittleren Alters mit erwachsener Tochter, beide beim Fernsehen tätig, durchaus wohl situiert mit großer Altbauwohnung in Frankfurt am Main, Haus am Gardasee, mit eigenem Boot natürlich, und auch der Jaguar V8 darf nicht fehlen. Man lebt also gut, immer nach dem Motto: Was lacostet die Welt, Geld spielt keine Rolex. Renz, einige Jahre älter als seine Frau, hat öfter Affären, und Vila ist auch kein Kind von Traurigkeit. Aber man findet sich immer wieder, hat sich fugenlos angepasst an den Partner, lebt fast schon symbiotisch miteinander. Bis beide einen Jüngeren kennenlernen, er eine agile Kollegin vom Fernsehen, sie einen vergeistigten ehemaligen Lehrer, der ein Buch über Franz von Assisi schreibt.

Der historische Stoff über Franz, ganz aktuell durch den neugewählten Papst, der bekanntlich dessen Namen angenommen hat, und die heilige Klara, 1958 von Papst Pius XII zur Schutzpatronin des Fernsehens (sic!) erklärt, dieser Stoff also bildet einen zweiten Handlungsstrang, der einen unüberbietbaren Gegensatz darstellt zu den Helden unseres Alltags. Köstlich zu lesen ist dazu Kirchhoffs beißende Gesellschaftskritik, Talkshow-Politiker, die gegen ihr fieses Gesicht anreden, ein Ministerpräsident und späterer Bundespräsident mit Schulsprecherhabitus, das absurde Völkchen der Fitnessstudios mit Porsche und Pulsmesser, und vieles andere mehr.

Das alles aber nur am Rande. Dieser Roman beleuchtet nüchtern, sachlich, klug und detailreich, aber auch feinfühlig und unterhaltsam die Liebe von den frühen Stadien der prickelnden Verliebtheit bis zur abgeklärten, wohligen Gemeinsamkeit zweier Partner, deren verborgene Bindungskräfte immer wieder obsiegen, allen Versuchungen zum Trotz. Die ewige Jagd nach dem berauschenden Liebesglück mit dem dazugehörigen tollen Sex, in unserer nimmersatten Gesellschaft kräftig angeheizt von den Medien, wird behutsam zwar, aber unerbittlich und zwingend als letztendlich unhaltbare Illusion vorgeführt. Jüngere werden das womöglich nicht akzeptieren wollen, Ältere werden eher verständnisvoll nicken, sich tatsächlich wiederfinden in dieser Beschreibung. Allen aber sei gesagt, dieser ausschweifende Gegenwartsroman ist nichts für faule Leser, eher für geschichtensüchtige Genießer.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Das Treffen in Telgte

grass-2Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.

Mit diesem Satz beginnt die Erzählung, ein vergnüglicher Beitrag zur Schlüsselliteratur, obwohl der Klappentext das strikt verneint. Auch wenn «Das Treffen in Telgte» nicht gerade zu den erfolgreichen Büchern von Günter Grass gehört, sagt das ja bekanntlich nichts über literarische Qualitäten aus. Schon das von ihm selbst gezeichnete Titelbild einer Hand, die eine Schreibfeder hält, weist treffend auf die Thematik hin, es geht um die Dichtkunst in Zeiten, als man dazu noch Federkiel und Tinte brauchte. Ein Jahr vor den sehnlich herbei gewünschten Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück, die den Dreißigjährigen Krieg beenden werden, im Jahre 1647 also, lädt Simon Dach, ein Königsberger Dichter, eine Reihe von Kollegen zu einem Treffen ein, an dem auch einiger ihrer Verleger teilnehmen. Das Buch ist erklärtermaßen eine Hommage an Hans Werner Richter, Grass hat es dem Gründer und Spiritus Rector der Gruppe 47 gewidmet. Er selbst war ja ein prominentes Mitglied und hat mit einer Lesung aus «Die Blechtrommel» in diesem Kreis seinen künstlerischen Durchbruch erlebt, ihm wurde der «Preis der Gruppe 47» verliehen, ein literarischer Ritterschlag zu jener Zeit.

Kurzerhand lässt Grass in seiner humorigen Erzählung eine ähnliche Zusammenkunft einfach dreihundert Jahre früher stattfinden, als Vorläufer quasi, bei der sich eine erlauchte Schar von barocken Wortsetzern in Telgte trifft, ganz in der Nähe vom Ort der Friedensverhandlungen im westfälischen Münster. Ein Ausweichquartier, nachdem der ursprünglich geplante Tagungsort von den Schweden in Beschlag genommen ist. Christoffel Gelnhausen, rotbärtiger und blattergesichtiger Führer eines Kommandos kaiserlicher Reiter und Musketiere, bietet uneigennützig seine Dienste an und vertreibt mit einer frechen Lüge in einer Nacht- und Nebelaktion sämtliche im Gasthaus einquartierten Gäste.

Die folgenden Tage sind nun ausgefüllt mit Lesungen der mehr als zwanzig anwesenden Poeten, die ganz im Stil der Gruppe 47 in anschließenden Diskussionen die Texte bewerten. Erzählt wird all das von einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, der selbst nicht in das Geschehen eingreift, sich lediglich als Chronist eines wichtigen Ereignisses sieht. Ausgiebig wird von den besorgten Dichtern auch das politische Chaos jener Zeit diskutiert und die Verwüstungen ganzer Landstriche als Folge der jahrzehntelangen Kampfhandlungen beklagt. Trotzig sieht man Sprache und Literatur als über den weltlichen Niederungen stehende, autonome Instanz von bleibendem Wert, erhaben in ihrer geistigen Fülle, dem Zeitlauf im besten Fall auf ewig entrückt. Von dieser Warte aus will man einen gemeinsamen Friedensaufruf formulieren, was erst nach langwierigen redaktionellen Überarbeitungen gelingt.

Günter Grass hat seine herrliche Geschichte in einer geradezu barocken Sprache verfasst, die einerseits seine fundierten Kenntnisse der Literatur aus jener Zeit belegt, andererseits aber auch unübersehbar ironisch wirkt durch einen ausgeprägt rhetorischen Stil, der ohne direkte Rede auskommt. Insoweit ist diese Erzählung keine leichte Lektüre, vor allem dann, wenn zitiert wird in einem damals noch keinen Duden-Regeln unterworfenem «Teutsch». Im umfangreichen Anhang sind weitere Texte der versammelten Poeten abgedruckt, die ihrerseits Zeugnis davon abgeben, in welchen mundartlichen Färbungen die gedruckte deutsche Sprache zu jener Zeit verbreitet wurde. Wer auch nur ein bisschen Geduld aufbringt, sich da einzulesen, wird zusätzlich belohnt, kommt vielleicht sogar auf den Geschmack und liest der «Simplicissimus» von Grimmelshausen, den Grass als Christoffel Gelnhausen listenreich ebenfalls in seine sehr wohl verschlüsselte Geschichte eingebaut hat, in der man auch so manchen seiner Weggenossen wiedererkennen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Edmond

leupold-2Eine Nabelschau

Ihrem 1992 erschienenen Debütroman «Edmond» hat die damals 37jährige Dagmar Leupold den Titelzusatz «Geschichte einer Sehnsucht» beigefügt, womit sie das Genre ihres Erstlings von vornherein definiert hat: es handelt sich um einen Liebesroman. Und wer die Vita der Autorin anschaut, dem drängen sich so manche Übereinstimmungen auf zwischen ihr und ihrer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin. Ob ihre Geschichte also autobiografisch ist oder doch fiktional, bleibt somit fraglich, – es ist aber auch ziemlich egal, wenn’s nur gut ist. Ist es das?

Wie eine äußere Klammer umgibt eine bevorstehende Geburt die viele Jahre zurückliegende innere Erzählung, ein Stilmittel der Autorin, das sie später in ihrem Roman «Unter der Hand» ganz ähnlich benutzt hat. «Mit jeder Stunde, die vergeht, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind in die Schlagzeilen gerät» lautet der erste Satz. Denn es ist der letzte Dezembertag des Jahres 1999, das Ungeborene könnte also medienwirksam als das erste Baby des Jahrtausends auf die Welt kommen. Ob es so war, bleibt ungewiss. Denn der Roman endet mit den Sätzen «Einundzwanzig Stunden nach der ersten Wehe kommt mein Sohn auf die Welt. Er gleicht niemandem». Die Frage nach dem Vater bleibt offen. «Viele Jahre nach unserer Liebesgeschichte (sie liegt jetzt neun Jahre zurück, und eigentlich hat er die Frau schon während unserer Geschichte kennengelernt) hat Edmond eine Frau geheiratet, deren Gefühlskompass intakt war».

Nun zur inneren Geschichte: Im Zug nach Paris lernt eine junge Schriftstellerin Edmond aus der Dominikanischen Republik kennen, einen muskulösen Sportlehrer, der in den USA studiert hat. Es ist Liebe auf den ersten Blick, schon am Gare de l’Est geben sie sich den ersten Kuss. Die fast ohne Dialoge erzählte Geschichte ist an sich belanglos, man liest sie nicht der Handlung wegen und begeht also auch keinen die Spannung zerstörenden Verrat, wenn man sie hier kurz skizziert. Die Beiden verbringen einige Wochen in Paris, gehen dann gemeinsam nach New York. Auf einer Party bei Edmonds Kollegin merkt sie, dass ihre Romanze dem Ende zugeht. Edmond überrascht sie zwar noch mit einer gemeinsamen Reise nach Jamaika, danach aber trennen sich ihre Wege endgültig.

«Jeder hat so seine Epiphanie; meine war der Buddha im Wald bei Worpswede». Leupold bindet diese Statue wie einen Schutzengel in ihre Geschichte ein, sie dient der Heldin, einer inneren Stimme gleich, als Kommentator und Souffleur. «Ohne Götzen keine Bücher und ohne Gespenster auch nicht» heißt es im Text, und genau hier liegt der Reiz dieser leichtfüßigen, wie schwebend erscheinenden Prosa. Weite Passagen der Geschichte nämlich sind dem Thema Schreiben im Allgemeinen gewidmet und der Entstehung dieses Romans im Besonderen. «Statt Bücher über Edmond zu schreiben könnte man selbstverständlich die deutsche Einheit oder Zwietracht zum Gegenstand wählen …» erklärt sie dem staunenden Leser, die ihr beim Schreiben quasi über die Schulter schauen darf. Wobei ihr Buch im Krankenhaus entsteht, wo sie wegen einer Komplikation die letzten Monate der Schwangerschaft verbringen muss, sie nutzt dort die Zeit zum Schreiben. Dass sie dabei über eine vergangene Liebschaft berichtet, muss nichts bedeuten, kann es aber. «Man schreibt aus denselben Gründen, aus denen man liest: aus Wissensdurst und Liebeshunger» heißt es einmal, und weiter: «Unordnung stiften, verlorenes Territorium zurückgewinnen: Blühender Sinn und ausschweifender Verstand – für all das gewährt das Papier Raum». Und was die Leser anbelangt, so stellt sie klar, «dass man jemand die Bücher ansieht, die er gelesen hat». Die Schriftstellerin hält also eine vergnügliche Nabelschau in diesem Roman, nicht mehr und nicht weniger. Liebe, Erleben, Erzählen, Lesen bilden hier eine literarische Funktionskette, formen «eine Liebesgeschichte, die im Sande verläuft», die aber auf eine intelligente und nachdenkliche Art erzählt wird, in der die Genese des Plots das eigentliche Ereignis ist.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Schule der Frauen

gide-1Ein hintergründiges Triptychon

Es geht um mehr als um die Geschichte einer Ehe in diesem dreiteiligen Prosawerk, als dessen «Herausgeber» André Gide in persona fungiert, eine Fiktion in der Fiktion also, von ihm kunstvoll und raffiniert zu einem Roman zusammengefügt, der es in sich hat. Wie ein dreiteiliges Altarbild aufgebaut, ergänzen und bedingen sich die Texte diese Trilogie gegenseitig und führen den Leser zum mit Spannung erwarteten, überraschenden Schluss, der mit einer versteckten, nur angedeuteten Pointe endet, die mancher vielleicht sogar übersieht.

Aber der Reihe nach! Eine Ehe bildet den äußeren Rahmen dieses genial konstruierten Plots, in dem erzählt wird, wie sich Mutter und Tochter des autoritären «Oberhauptes» einer gutbürgerlichen Familie emanzipieren und damit zunehmend von ihm entfernen. Robert pocht in der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts spielenden Geschichte unbeirrt auf seine Rechte, den damals gültigen Konventionen gemäß. Er wird unerbittlich demaskiert als egoistischer, seelenloser Opportunist, der nur seinen Vorteil sucht, er ist ganz einfach unehrlich in privaten wie auch in seinen- ziemlich undurchsichtigen – geschäftlichen Belangen.

Eveline, Gattin dieses archetypisch bourgeoisen Mannes des Fin de Siècle, erzählt in ihrem Tagebuch, wie im Verlauf ihrer Ehe ihre anfänglich euphorische Liebe langsam erlosch und allmählich sogar in Hass umschlug. Je älter sie wurde, desto klarer durchschaute sie seine verlogene, selbstgerechte Natur. Sie lehnte sich auf, wehrte sich immer heftiger gegen die unhaltbaren Konventionen der Gesellschaft und entfremdete sich sogar von der katholischen Religion, die ja deren, wie sie erkennt, geradezu einfältiges moralisches Rückgrat bildet.

«Der Geist des Widerspruchs ist immer tadelnswert, aber insbesondere halte ich ihn für tadelnswert bei einer Frau», schreibt Robert in seiner Erwiderung auf das veröffentlichte Tagebuch von Eveline. Alice Schwarzer, Urgestein der feministischen Bewegung, hätte ihre helle Freude an solch einem Macho! Eine kleine Episode, die dessen naiv-religiöse, gleichwohl scheinheilige Gesinnung erhellt: Als der Arzt seiner nach einer Fehlgeburt mit dem Tod ringenden Frau dem für die «Letzte Ölung» herbeigerufenen Abbé den Zutritt zum Krankenzimmer verwehrt, um die sich abzeichnende Besserung durch dessen bedrohliches Erscheinen nicht zu gefährden, die Hoffnung auf Genesung also nicht im Keime zu ersticken, da ist für Robert die «Rettung der Seele» durch die Sterbesakramente wichtiger als die Gefährdung des Lebens von Eveline, – der Kirchenmann darf eintreten.

Die gemeinsame Tochter Genoveva erzählt im dritten Teil des Romans ihre Entwicklung zu einer jungen Frau, die deutlich radikaler als ihre Mutter sich gegen die offensichtlichen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft, gegen deren allenthalben spürbare Doppelmoral wehrt. Ihre Ablehnung alles Konventionellen geht so weit, dass sie sich ein Kind wünscht, ohne jedoch heiraten zu wollen, ein Sakrileg in jenen Zeiten, und dementsprechend sind denn auch die Reaktionen derer, zu denen sie davon spricht. André Gide, der 1947 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, schreibt all das in einer kristallklaren, wunderbar schnörkellosen Sprache, wobei er vieles nur andeutet, durchscheinen lässt, dem mitdenkenden Leser dadurch also reichlich Freiraum gibt für eigene Deutungen der psychologisch komplexen Geschichte. Wie gut, dass wir in einer anderen Zeit leben, wird sich so mancher Leser da wohl denken!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die kleine Stechardin

hofmann-1Es darf gesudelt werden

Eine Arbeit liederlich und nachlässig, also schludrig auszuführen kann man auch als sudeln bezeichnen. Wer seine Tagebücher selbst als «Sudelbücher» bezeichnet, beweist damit Sinn für Humor und nimmt sich wohl auch selbst nicht so ernst. Georg Christoph Lichtenberg, der Mathematik, Astronomie und Naturgeschichte studierte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Professor für Mathematik in Göttingen war, ist der Protagonist dieses Romans. Er wird uns als ein quirliger Typ von universaler Bildung geschildert, der an Vielem interessiert war und ständig wissenschaftliche Forschungen betrieb. Seinen Nachruhm jedoch begründeten jene erst posthum veröffentlichten «Sudelbücher» mit zahllosen Notizen und den literarisch bedeutsamen Aphorismen, denen man noch heute immer wieder begegnet. «Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?» wäre ein markantes Beispiel dafür, welches auch gut hierher passt. Lichtenberg war als unabhängiger Vertreter der Aufklärung ein scharfsinniger Beobachter, ein Freigeist mit feinem psychologischem Gespür, wie wir aus seinen satirischen Aufsätzen wissen.

Vieles ist «erstunken und erlogen» in diesem Buch, lässt uns Gert Hofmann im Vorwort wissen, und so ist denn auch der Plot seiner Geschichte frei erfunden, allerdings mit dem Anspruch, dass es durchaus so hätte sein können. Hofmanns Schreibstil, naiv und skurril gleichermaßen, an Märchen erinnernd, ja sogar pennälerhaft einfältig erscheinend, wirkt auf den Leser merkwürdig holzschnittartig, unelegant und uninspiriert. Ein Stilmittel, das wohl auf ein anderes Jahrhundert hinweisen soll oder auf die urkomische Figur, als die Lichtenberg in dem Roman unablässig geschildert wird, der als bunter Vogel durch Göttingen spaziert und fatal an die Märchenfigur des Rumpelstilzchens erinnert. Ein ewigkranker Hypochonder, durch Rachitis von Kindheit an buckelig und kleinwüchsig, ausgesprochen hässlich noch obendrein. So findet der professorale Protagonist denn auch lange nicht sein privates Glück, Frauen sind für ihn unerreichbar. Bis er als 35-Jähriger plötzlich auf das wunderschöne, 13-jährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard trifft, im Roman die Stechardin genannt, die als Schülerin und Hausmamsell bei ihm einzieht und nicht lange darauf dann auch die Geliebte des Buckligen wird.

Eine ungewöhnliche Liebe, die sich da allmählich entwickelt zwischen den beiden so ungleichen Partnern, die schon bald nicht mehr nur sexuell miteinander verbunden sind, sondern die beide aufblühen vor Glück und als Mensch von einander profitieren. Das wissbegierige Mädchen von der Gelehrsamkeit des Professors, der lebensfremde Wissenschaftler von der Natürlichkeit des unverdorbenen Menschenkindes an seiner Seite, die ihn zu neuen Sinnfragen inspiriert und seine bisher den Mittelpunkt seines Lebens bildende Wissenschaft in den Hintergrund drängt. Dieses Glück, sogar von Heirat ist die Rede, währt nur ganze vier Jahre, bis zum frühen Tod der Stechardin, die einer Epidemie zum Opfer fällt.

Mit sprödem Charme und durchaus auch humorvoll erzählt, hinterlässt der Roman einen zwiespältigen Eindruck. Er ist kaum bereichernd, der als Protagonist missbrauchte Lichtenberg wird zwar häufig mit seinen Aphorismen zitiert, er wird aber eher als Hampelmann denn als scharfsinniger Satiriker vorgeführt, man erfährt nichts Erhebendes von ihm. Und der zweifellos vorhandene Unterhaltungswert der ungewöhnlichen Liebesgeschichte leidet doch sehr an der merkwürdigen Erzählweise, die passt weder auf  Lichtenberg noch auf die Liebe. Schade eigentlich, dass da so gesudelt wurde!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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