Hurdy Gurdy Girl

Femininer Western

Schon der Titel des Romans «Hurdy Gurdy Girl» von Irene Stratenwerth macht neugierig, der Untertitel ‹Eine weite Reise durch die Nacht› verheißt nichts Gutes, das Coverfoto einer jungen Frau schließlich deutet auf das Neunzehnte Jahrhundert hin. Hurdy Gurdy bedeutet Drehleier, ein Saiteninstrument also, mit dem hier im Roman ein Musiker mit einem Trupp von Tanzmädchen für Stimmung sorgt in Saloons und zweifelhaften Kaschemmen im amerikanischen Westen. Die Mädchen im Roman stammen aus der Wetterau, wo Mitte des Jahrhunderts, wie überall im Großherzogtum Hessen, bitterste Armut herrschte. Viele erhofften sich damals eine bessere Zukunft in Amerika und machten sich auf den weiten Weg, um dort ihr Glück zu suchen, – der Großvater von US-Präsident Trump gehörte übrigens auch dazu.

Die bettelarmen Eltern der siebzehnjährigen Luise schließen vor dem Bürgermeister ihres Dorfes einen Kontrakt mit einem Landgänger, mit dem sie ihm ihre Tochter für drei Jahre als Tanzmädchen in Dienst geben, also langfristig verdingen, mit Kost und Logis als Gegenleistung. Er wird sie in den Goldgräber-Siedlungen von Britisch Kolumbien als Hurdy Gurdy Girl für sich arbeiten lassen. Dort im Lager, wo es wegen den unwirtlichen Bedingungen fast keine Frauen gibt, kann er den Goldsuchern viel Geld abknöpfen für ein bisschen Abwechslung von ihrer harten Arbeit. Bei den Eltern andererseits gibt es dann nicht nur einen Esser weniger am Tisch, sie bekommen auch vorab die für ihre Verhältnisse riesige Summe von 500 Gulden, und das Gleiche noch einmal am Ende der Vertragszeit, wenn Luise zurückkommt. Zusammen mit zwei andern Mädchen landet sie, nach einer langen, äußerst beschwerlichen Reise unter erbärmlichsten Umständen, als Zwischendeck-Passagier zunächst in San Francisco.

Die in der Fremde weitgehend hilflosen Mädchen, die kein Wort Englisch sprechen, werden in der aufstrebenden kalifornischen Stadt brutal ausgebeutet und sehen sich schließlich zur Prostitution genötigt, um wenigstens ein bisschen Geld für sich selbst zu haben. Auf dem Postamt lernt Luise schließlich Benjamin kennen, der junge Mann bietet ihr spontan seine Hilfe an. Seinen Heiratsantrag lehnt sie zwar ab, ist dann aber doch froh, dass er sie trotzdem im Frühjahr begleitet auf dem beschwerlichen Weg zu den Goldgräbern in Kanada. In einem zweiten Handlungsstrang werden kurze Szenen aus der Heimat eingestreut, wo unter preußischer Führung der Deutsche Bund entstanden war und auf Betreiben Bismarcks streng gegen das Tanzmädchen-Unwesen vorgegangen wurde. Ein zur Untersuchung eigens angereister, höherer Beamter stellt in Luises Dorf dem Bürgermeister und dem Schullehrer ziemlich peinliche Fragen dazu. Der Roman schließt mit einem Epilog, der berichtet, wie es mit Luise, dem ‹gefallenen› Mädchen, weiterging nach der Rückkehr in der Heimat.

Irene Stratenwerth hat in einem Interview erklärt, Anlass für ihren Roman sei ihr Interesse an noch nicht erzählten Geschichten. Über die Geschichte Amerikas werde ja fast immer nur aus der Perspektive weißer Männer erzählt, Frauen spielten dabei allenfalls eine dekorative Nebenrolle. Sie verfolge aber keinerlei moralische Absicht mit ihrem historischen Roman. Die Quellenlage sei leider äußerst dürftig und stütze sich vor allem auf Passagierlisten und einige wenige Dokumente, das meiste sei frei erfunden. Ihre interessante Geschichte wird in einer klaren, einfachen Sprache erzählt, die zwar zum Milieu passt, die aber journalistisch distanziert kaum emotionale Nähe zu den Charakteren aufkommen lässt. Die Protagonistin Luise ist stimmig dargestellt in ihrer naiven Gläubigkeit, eher zwiespältig dagegen erscheint die Figur des Benjamin, dessen Motive wenig plausibel sind. In Anbetracht des unsäglichen Elends erscheint es zudem fast als Wunder, das die einfältige Luise der geschilderten Hölle aus permanenter Unterernährung, allerlei Krankheiten und ständigen Gefahren heil entkommen ist in diesem unromantischen, femininen Western.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Roman
Illustrated by PalmArtPress Berlin

Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten

Ein literarisches Requiem

Die rumänische Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Berlin übersiedelte, hat mit dem Roman «Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten» und dem Untertitel «Tod eines Patrioten» den letzten Band einer Trilogie vorgelegt, in der sie mit dem Kommunismus in ihrem Heimatland abrechnet. Er ist auf Deutsch geschrieben, die Autorin gehört mithin wie viele andere zur Generation der «Chamisso-Enkel», Schriftsteller also, die aus ihrer Muttersprache ins Deutsche wechselten. Sie nimmt darin das Thema der beiden Vorgänger-Romane wieder auf, die Nöte eines «Kaderkindes» im Kommunismus, eines Kindes von hochrangigen Apparatschicks also, dessen Verhalten für die Eltern verheerende Folgen haben konnte, sollte es sich offen systemkritisch äußern. Der vorliegende autobiografische Roman ist eine Art literarisches Requiem, geschrieben in der heutzutage nicht gerade häufig anzutreffenden Form eines Poems.

Vortragende dieser Totenklage ist die Tochter eines hochverdienten Funktionärs der kommunistischen Partei, deren verwitweter 87jähriger Vater einen Unfall erleidet und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Die in Berlin lebende Tochter wird benachrichtigt, hat aber selbst gerade nach einem Unfall ein Bein in Gips, sie kann nicht sofort nach Rumänien reisen. Dort kümmern sich zwei Geliebte des Vaters um ihn, seine ehemalige, ihm treu ergebene Sekretärin und die wesentlich jüngere Krankenschwester, die vor dreißig Jahren seine Frau liebevoll gepflegt hat, bevor sie sehr früh verstarb. Der Vater ist auch nach der Revolution unbeirrt ein glühender Kommunist geblieben, gleich mit den ersten Worten dieses reimlosen Langgedichts wird seine unbedingte Kadertreue verdeutlicht: «Für Vater waren drei Dinge wichtig/In der festgefügten Reihenfolge/Das Vaterland/Die Partei/Die Ehre der Familie». Das Private hatte sich also der Ideologie völlig unterzuordnen, worunter die heranwachsende Tochter sehr gelitten hat. Ihre aufmüpfige, systemkritische Einstellung hatte denn auch verheerende Folgen, der Vater verlor seine privilegierte Stellung, sie ging ins Ausland, die beiden haben viele Jahre lang kein Wort mehr miteinander gesprochen. Aber auch der Bruder und der Onkel hatten jeden Kontakt zu dem unbeirrbaren kommunistischen Betonkopf und Despoten abgebrochen.

Aus dieser konfliktreichen familiären Konstellation, verursacht durch den tyrannischen Vater mit seinem blinden ideologischen Kadavergehorsam, ergibt sich ein kompliziertes psychologisches Geflecht von gegenseitigen Schuldzuweisungen, erlittenen Verletzungen, Demütigungen und unbewältigten Konflikten. Dabei spielt natürlich auch die Eifersucht zwischen der Ehefrau, den beiden aktuellen Geliebten und all den verflossenen eine wichtige Rolle. Aber auch mit der Tochter gibt es aufgestaute Wut und offenen Neid der anderen Frauen, also reichlich Stoff für psychologische Tiefenbohrungen.

Im Nachwort wird das Buch als «ein auf einen inneren Monolog entblößter Roman» bezeichnet. Sprachlich umgesetzt wird der hier kurz skizzierte Erzählstoff als Prosagedicht, in dem die Ich-Erzählerin geradezu obsessiv ihre ureigensten Gefühle ausdrückt, und zwar mit einer verblüffend suggestiven Wirkung. Durch nicht über die Zeile hinaus reichende, extrem kurze Sätze ohne Interpunktion, durch Wiederholungen und Reihungen wird variantenreich ein ureigener, stakkatoartiger Sprachrhythmus erzeugt, eine sprachliche Verdichtung also, die sich, wie die Autorin im Interview erklärt hat, zur Dichtung hin orientiert. Die vielen Wiederholungen einzelner Wörter und Phrasen in diesem episch sehr breit ausgewalzten Vater/Tochter-Konflikt setzen allerdings einige Geduld beim Leser voraus. Gleichwohl wird ihm das federleicht schwebend Erzählte sehr eindringlich nahe gebracht, er wird tief mit hinein gezogen in das seelische Befinden der Tochter, die ihre Totenklage zu einer verzweifelten Anklage gegen den herzlosen, egozentrischen Vater macht.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by PalmArtPress Berlin