Vom Ende einer Geschichte

»Es herrscht große Unruhe«, setzt Julian Barnes als Schlusssatz unter seinen bewegenden zweiteiligen Roman um das Thema des geschönten Erinnerns und der damit verbundenen Selbsttäuschung. Er schließt damit den Kreis zu seinem Einstieg, einem Bericht über Freundschaften aus der Schulzeit: Ein notorisch nichtwissender Mitschüler antwortet auf die Frage des Geschichtslehrers zur Herrschaft Heinrichs des Achten genau mit dieser ebenso wahren wie relativierenden Floskel: »Es herrschte große Unruhe, Sir«.

Colin, Alex und Tony, der Erzähler, sind Schulfreunde, zu denen Adrian als vierter Kumpel stößt. Er unterscheidet sich von dem Trio durch Ernsthaftigkeit. Sie alle sind bücherhungrig, sexhungrig, leistungsorientiert und anarchistisch. Politische und gesellschaftliche Systeme erscheinen ihnen korrupt. Die Clique fiebert dem Schulabschluss entgegen. Zuvor werden die Freunde aber mit dem Tod eines Mitschülers konfrontiert, der sich das Leben nimmt, weil er seiner Freundin ein Kind gemacht hat und nicht mehr weiterwusste.

Mit dem Beginn des Studiums ziehen die Jungen in verschiedene Städte. Tony studiert in Bristol und lernt dort endlich ein Mädchen, Veronica, kennen, mit dem er geht. Sie hält ihn sexuell auf Distanz und führt ihn schließlich ihren Eltern vor, was einem Spießrutenlauf gleichkommt. Lediglich Veronicas Mutter scheint den jungen Mann zu mögen, sie warnt ihn sogar, sich nicht alles von ihrer Tochter gefallen zu lassen.

Schließlich trennen sich die Beiden, und erst dann kommt er zum ersten und einmaligen schnellen Sex.  Zum Ende der Studienzeit erfährt Tony, dass Veronica in Adrians Armen gelandet ist. Nach einiger Zeit schreibt er die beiden an, spricht über den Schaden, der jedem von ihnen durch Elternhaus und Freunde zugefügt worden sei und beschimpft sie. Eine Antwort erhält er nicht.

Wenig später erfährt er, dass sein Jugendfreund Adrian tot ist. Der 22-jährige hat sich die Pulsadern geöffnet und einen Abschiedsbrief hinterlassen. Am Jahrestag von Adrians Tod treffen sich die drei Freunde wieder und schwören, jedes Jahr diese Gedenkfeier zu wiederholen. Doch ihre Lebenswege trennen sich, und die Erinnerung an Adrian reicht nicht aus, um zusammenzuhalten.

Tony geht für eine Weile nach Übersee und lernt dort eine Amerikanerin kennen. Die beiden werden schnell und mühelos ein Liebespaar, heiraten und bekommen eine gemeinsame Tochter. Nach drei Jahren lassen sie sich scheiden. Er behält aber den Kontakt zur Tochter und begleitet ihren Lebensweg, wird Großvater, geht in den Ruhestand, bekleidet ein paar Ehrenämter, um soziale Kontakte zu behalten und wartet darauf, die Erde zu verlassen.

Tony reflektiert sein Leben als Summe von ein paar Erfolgen und ein paar Enttäuschungen. Geschichte ist, so resümiert er, nicht die Summe der Lügen der Sieger, wie er in jungen Jahren dachte. Geschichte ist eher die Summe der Erinnerungen derer, die viel erlebt und viel überstanden haben und meistens weder Sieger noch Besiegte sind.

Im zweiten Teil des Romans holt die Vergangenheit den pensionierten Tony Webster ein. Ein Anwalt eröffnet ihm, dass Veronicas Mutter ihm 500 Pfund und Adrians Tagebuch vererbt habe. Er versucht nun, von seiner ehemaligen Flamme das Tagebuch zu bekommen. Dazu versucht er immer wieder, Kontakt aufzunehmen. Nach langem Hin und Her bekommt er die Kopie des Briefes, den er den beiden seinerzeit geschrieben hatte.

Tony erkennt, wie gemein und bösartig sein Brief war. Dabei erinnert er ihn und auch die Vorgänge gänzlich anders. Er versucht, immer mehr Details aus der Vergangenheit hervorzuziehen und muss schließlich erkennen, dass er herzlich wenig von seinem verstorbenen Freund wusste. Reuevoll versucht er, Vergebung für sein Handeln zu finden, scheitert aber daran.

Barnes kurzer Roman, der gelegentlich auch als Novelle bezeichnet wird, zählt zu den 100 wichtigsten Büchern der englischsprachigen Literatur und wurde 2011 mit dem renommierten britischen Man Brooker Prize for Fiction ausgezeichnet.

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Genre: Novelle, Roman
Illustrated by btb Verlag

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